von Aram Ockert

Diejenigen die Diskursräume kleiner machen, sehen das selbst als Weg in eine leuchtende Zukunft. Darin soll kritisches Denken keinen großen Platz mehr haben. Das finden nicht alle gut. Andrea Geier, Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Genderforschung an der Universität Trier, hält die Rede von Cancel Culture in Deutschlandfunk Kultur (24.09.) für übertrieben. »Um die angebliche Gefährdung der Meinungs- und Kunstfreiheit durch Political Correctness zu begründen, werden seit Jahren dieselben wenigen Fälle genannt«. Sie denkt, dass man nicht von Zensur sprechen sollte, weil hier einfach nur durch ständiges Bereden eines nicht existierenden Problems ein solcher Eindruck herbeifabuliert werde. Sie dagegen vermutet, dass die Veränderung des Sprechens im gesellschaftlichen Raum nur die Bedingungen für Kritik verändern und macht das am Beispiel der Diskriminierung von rechter Gewalt fest:

»Noch vor Jahren war es in journalistischen Berichten üblich, dass rechtsextremistische Gewalt stets als Fremdenfeindlichkeit bezeichnet wurde. Doch Rassist*innen fragen nicht nach Pässen, sie erklären Menschen zu Fremden. Wird es Konsens, Rassismus zu sagen, fallen zunehmend diejenigen auf, die weiterhin von Fremdenfeindlichkeit sprechen. Sie müssen sich fragen lassen, wieso sie ihre Begriffe nicht verändern«.

sich fragen lassen...

Wir dürfen das also so verstehen, wenn wir Geier verallgemeinern und ihre Grundannahme teilen, dass die Genauigkeit im Diskurs, die in der Analyse Zurückgebliebenen schon durch ihre Art des Sprechens adressiert und sich diese dann befragen lassen müssen, warum sie im Ungefähren verbleiben? Schließlich sei der Standard ja zwischenzeitlich deutlich hochgesetzt worden.

Klar fühlen die sich dann ertappt. Denn die Übersetzung des Bildes heißt ja: warum bezeichnet jemand einen Mord als Todschlag, einen Todschlag als Körperverletzung mit Todesfolge usw. Was Geier uns sagen möchte ist recht simpel: Ihr Redner:innen von Cancel Culture und Kritiker:innen der politischen Korrektheit, fühlt euch in eurer Freiheit nicht kritisiert zu werden beeinträchtigt. Ihr möchtet weiterhin rechte Gefahren verharmlosen und dabei von uns nicht kritisiert werden, aber das läuft nicht.

Das Narrativ, das da keimt, läuft darauf hinaus, es werde unterstellt, dass diejenigen, die sich in ihrem Sprechen gehemmt fühlen, dies deswegen so empfinden, weil sie die Freiheit vor Kritik als Menschenrecht für sich postulieren. Geier hingegen postuliert das Recht auf Gegenrede. Bei den Rezipienten:innen soll schlicht hängenbleiben: Wenn die von Dönermorden reden, dann reicht uns es nicht aus, von Neonazimorden zu sprechen, wir kritisieren auch den Sprachgebrauch ›Dönermord‹ und verbieten uns, dass in unserem Beisein so gesprochen werden darf.

Gut, Geier macht das weniger angreifbar und abstrakter. Bei ihr ist es der Dualismus von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Meint aber, dass das eine verharmlosend sei und das andere so etwas wie ›state oft the art‹ in der korrekten Beschreibung rechter Gewalt.

Bereits diese so harmlos daherkommende Festlegung ist alles andere als harmlos. Die umstandslose Zuschreibung von Rassismus in Bezug auf rechte Gewaltverbrechen, die auch als fremdenfeindlich beschrieben werden können, ist erst einmal willkürlich. Übrigens gegebenenfalls genauso wie die Festlegung auf fremdenfeindlich. Ohne genaue Erkundung der Tatumstände ist man auf den Eindruck des ersten Augenblicks zurückgeworfen. Mal ist dieser richtig, mal falsch. Da ›Rassismus‹ ähnlich inflationär wie ›Faschist‹ oder ›Nazi‹ gebraucht wird, darf man von einer hohen Nichttrefferquote bei der richtigen Zuordnung von Gewalttaten ausgehen. Der Angriff auf Menschen, die nicht ausschauen wie Reisende auf einem ›Kraft durch Freude‹-Schiff aus der Ufa Deutsche Wochenschau der 40er, kann dann schnell zur fremdenfeindlichen und von da zur rassistischen Tat werden.

Da die Verwendung des Begriffs ›Rassismus‹ mit einer Verschärfung der Kommentierung gleichgesetzt wird, gilt ›Fremdenfeindlichkeit‹ ab diesem Moment als Trigger für Verharmloser. Diese sind die bewussten oder unbewussten Kollaborateure der Rassisten. Deswegen die Kritikschleife. Es könnte ja sein, dass der Mittäter sich seiner Tat nicht bewusst ist. Spätestens, wenn er sich aber uneinsichtig zeigt, verschärft sich die Kritik je nach Machtverhältnis. Je stärker die Hegemonie über den Sprechraum, desto stärker wird der Tabusierungsdruck ausfallen. Je geringer, desto moderater wird die Kritik sein. Mit David ließe sich noch trefflich diskutieren, mit Goliath lässt sich gar nicht mehr sprechen, wenn man die gesetzten Regeln des Diskurses nicht beachtet.

Nun lebt die Abwehrhaltung von Andrea Geier, Sascha Lobo und anderen Lobbyisten des moralsoldatischen Fußvolkes im Zentrum von der Idee der Interessensvertretung für die geschundene Kreatur. Anders als die klassische, vertritt die kulturelle Linke nicht Arbeiter, kleine Angestellte und gesellschaftlich Marginalisierte, sondern die Zukurzgekommenen im globalen Kapitalismus.

Ansprüche auf Partizipation

Deswegen interessieren sie sich auch nicht für Langzeitarbeitslose und Verlierer:innen des Hartz-IV-Systems. Klar, sie sind gegen Hartz-IV. Das muss weg. Aber zugleich muss der ganze Sozialstaat weg. Schließlich ist der Sozialstaat, wie die Nation selbst, nichts anderes als ein Bollwerk gegen die Armen dieser Welt. Der Sozialstaat verspricht seine Leistungen nur für die eigenen Bürger:innen und solche, die sich legal als arbeitswillig und Suchende in seinem Machtbereich aufhalten. Gegebenenfalls spielen solche Überlegungen aber auch keine Rolle, wenn man die Festung Europa abgelöst sehen will, durch ein Europa, das durch ›no borders‹ gekennzeichnet sein soll. Drinstecken tut es auf jeden Fall.

Bleiben wir innenpolitisch im klassischen Wortsinn – also nicht weltinnenpolitisch – und wenden uns noch einmal Andrea Geier zu, die ziemlich gut die allgemeine Sicht von Anhängern politischer Korrektheit auf den von ihnen beherrschten Sprechraum beschreibt:

»Gesellschaftliche Vielfalt ist heute sichtbarer als früher. Mehr Menschen haben und nutzen die Möglichkeiten, sich an öffentlichen Debatten zu beteiligen. Dabei werden Sprechpositionen, Verhalten, Denkmuster auf neue Weise befragbar.
Es entstehen neue kommunikative Dynamiken und Ansprüche auf Partizipation werden offensiver vorgetragen: Wessen Wahrnehmungen und Erfahrungen zählen? Worüber wird öffentlich debattiert und wer sitzt an welchem Debattentisch? Welche sprachlichen und ästhetischen Formen der Repräsentation sind angemessen? Ist es in Ordnung, die Kultur anderer Menschen als Kostüm zu tragen? Ist es ein Problem, das N-Wort zu verwenden?«

›Befragbar‹ ist das Zauberwort. Ansprüche auf Partizipation bilden den Hintergrund und die Idee der Anwaltschaft für die ehemals kolonial oder imperialistisch geschundenen Menschen, sind der Kern der Erzählung über sich selbst. Die profane Wirklichkeit ist jedoch eine, bei der amerikanische Professoren selbst dann Gefahr laufen ihre Stellung zu verlieren, wenn sie selbst der Idee anhängen, das Wort ›Neger‹ dürfe man nicht einmal denken.

Amerika

Nachfolgendes Schlaglicht auf einen amerikanischen Campus in Californien, verdanken wir »The Atlantic« (21.09.2020):

»Als die Nachricht in den sozialen Medien zu zirkulieren begann, konnten viele nicht glauben, dass es wahr sein soll, dass die Marshall School of Business an der University of Southern California einen langjährigen Professor aus einer Klasse entfernen würde, weil ein Mandarin-Wort, das er in einer Lektion korrekt verwendete, wie eine rassistische Beleidigung klang.«

Was war geschehen? Am 20. August sagte der 53jährige Professor Greg Patton der University of Southern California (UCS) den Studenten, dass sie in Geschäftssituationen bestimmte Füllwörter wie ›ähm‹, die keinen eigenen Inhalt transportieren, vermeiden sollten. Dabei benutzte er aus dem Mandarin-Chinesischen das Wort 那个 – ausgesprochen ungefähr ›nie-geh‹ –, das in den Ohren einiger Studenten zu sehr nach ›Nigger‹ klang, so dass sie einen Beschwerdebrief an die Universitätsverwaltung schrieben und beklagten, dass es schwarzen Studenten nicht weiter zugemutet werden könne in Pattons Vorlesung zu sitzen. Nach Anhörung der Student:innen wurde Patton aus Unterrichtsveranstaltung entfernt und durch Professor Marion Philadelphi ersetzt. Die Universität wurde sodann von der Uni-Leitung über eine massenhaft verschickte Mail (https://reason.com/2020/09/25/usc-marshall-business-school-dean-e-mail-on-the-greg-patton-neige-controversy/) davon in Kenntnis gesetzt:

»Professor Greg Patton wiederholte mehrmals ein chinesisches Wort, das sehr ähnlich wie eine abscheuliche rassistische Beleidigung klingt. Verständlicherweise verursachte dies großen Schmerz und Aufregung unter den Studenten, und das tut mir zutiefst leid. Es ist einfach inakzeptabel, dass Lehrkräfte im Unterricht Wörter verwenden, die die psychologische Sicherheit unserer Schülerinnen und Schüler vernachlässigen und sie verletzen und ihnen schaden können«.

Natürlich gab es hiergegen landesweite Proteste und der Dekan ist längst zurückgerudert, aber das Problem politisch korrekter Sprechweisen bleibt. Der Dekan schrieb in seiner letzten Mail (https://reason.com/2020/09/25/usc-marshall-business-school-dean-e-mail-on-the-greg-patton-neige-controversy/ – 25.09.2020) u.a.:

»Das Büro für Gleichberechtigung, Chancengleichheit und Titel IX (EEO-TIX) der Universität untersuchte diese Angelegenheit und kam zu dem Schluss, dass die von den Studenten geäußerten Bedenken aufrichtig waren, dass Professor Pattons Handlungen jedoch nicht gegen die Politik der Universität verstießen.«

Surprise, surprise und weiter heißt es:

»Damit unsere Fakultät und unsere Studenten sich im Seminar entwickeln können, ist es wichtig, dass sich jeder frei fühlt, seine Ansichten offen zu äußern und aus einer Perspektive des gegenseitigen Vertrauens und Respekts voneinander zu lernen. Das kann in der heutigen spannungsgeladenen Umgebung eine Herausforderung sein, aber wir müssen uns alle bemühen, das richtige Gleichgewicht zu finden«. Damit hat der Dekan das Mindeste getan, nämlich Greg Patton bescheinigt, nicht bewusst falsch gehandelt zu haben und angekündigt, dass er im kommenden Semester seine Lehrtätigkeit weiter betreiben darf. Aber hat ansonsten nichts aus seiner Mail vom 25. August zurückgenommen, in der unter anderem stand:

»In den kommenden Wochen und Monaten habe ich keine höhere Priorität, als mit der Vizedekanin Sharoni Little, dem Vizedekan Suh-Pyng Ku und den anderen Mitgliedern des Marshall-Führungsteams zusammenzuarbeiten, um Vorurteile, Mikroaggressionen, Ungleichheiten und alle Formen von systemischem Rassismus, die mit der Identität eines jeden an unserer Schule verbunden sind, zu identifizieren und zu beseitigen. Jeder von uns muss wachsen und immer lernen, respektvoll miteinander umzugehen und gleichzeitig das Wissen und die Fähigkeiten zu fördern und zu veranschaulichen, die zur Führung und Gestaltung unserer vielfältigen und globalen Welt erforderlich sind – wie Mut, Einfühlungsvermögen, Mitgefühl, Fürsprache, Zusammenarbeit und Integrität«.

Kritik und Selbstkritik

Lässt man die Folklore weg und betrachtet nur den eigentlichen Inhalt, so bedeutet dies nichts anderes, als die permanente Vermeidung eines Sprechens, dessen Intention sich gegebenenfalls durch eine entgegengesetzte Wahrnehmung ins Gegenteil verkehren könnte. Der Maßstab ist nicht mehr die Intention, also was gesprochen wird, sondern die individuelle Rezeption. Zwar geben die bekannten und diversen Minderheiten zugeschriebenen kollektiven Identitäten Hinweise auf Stolperfallen, aber kann man sich darauf im Zweifel verlassen? Nehmen wir das trotz des ausgeführten gegenteiligen Beispiels der Einfachheit halber an. Dann bestimmen kommunikative Dynamiken und offensiv vorgetragene Ansprüche auf Partizipation den Rahmen, in dem man sich diskursiv bewegen darf, ohne Gefahr zu laufen, dass eigene »Sprechpositionen, Verhalten, Denkmuster auf neue Weise befrag(t)« werden (Geier).

Jeder weiß, was in diesem Zusammenhang ›befragt werden‹ bedeutet: Die letzte Chance im Rahmen von ›Kritik und Selbstkritik‹ zu bekunden, dass man vom heiligen Weg der Partei abgekommen ist und zu betonen, dass man von nun an »keine höhere Priorität (hat)…, als Vorurteile, Mikroaggressionen, Ungleichheiten und alle Formen von systemischem Rassismus, die mit der Identität eines jeden an unserer Schule verbunden sind, zu identifizieren und zu beseitigen«. Das war übrigens, was nicht wenigen Studenten mit chinesischen Wurzeln (in der Causa Patton) eingefallen ist. Es erinnerte sie an die Drangsal an ihren Altvorderen in der Kulturrevolution. Auch diese war nichts anderes, als eine Fortentwicklung der stalinistischen Idee von ›Kritik und Selbstkritik‹ und diese wiederum kann sich nur in Räumen entwickeln, in denen geglaubt wird, dass man erstens das Richtige schon weiß und ferner einer heiligen Mission verpflichtet ist. Der Zweifel ist damit immer zugleich der Feind, der an gerechter Teilhabe gehinderten Kreatur, der Partei, des Volkes, oder der Nation.

Von solchen Zuständen sind wir meilenweit entfernt und sind ihnen zugleich unwahrscheinlich nahe. Die Aggressivität im Auftreten politischer Korrektheitsvorstellungen erklärt sich nicht nur aus Idealismus und Glaubensfestigkeit, sondern vor allem durch die Eroberung von relevanten gesellschaftlichen Bereichen. Dort wird die Diskurshoheit durchgesetzt. Nicht durch administrative Eingriffe – die mag es geben (s.o.) –, sondern durch Hegemonie, dem Setzen von Begrifflichkeiten und durch ›Befragung‹, wenn man sich hier nicht anpasst. Die Idee einer verbindlichen politischen Hygiene setzt sich durch und damit wird die Hoheit über richtig und falsche Feststellungen bei Moralisten monopolisiert.

Richtig ist, was moralisch akzeptabel ist. Gelegentlich vorgetragene Appelle: ›Hört auf die Wissenschaft‹, sind dabei genau so instrumentell, wie die Beleihung von Drangsal und Unterdrückung, um in vermeintlicher Anwaltschaft die eigene moralische Feuerkraft zu erhöhen. Es geht dabei immer und nur um Machtausübung. Entweder generiert man sie aus Schwäche und wenn es passt gegebenenfalls auch aus Stärke, der man aber zugleich misstraut und sie deswegen sofort absolut setzt. Ganz abgesehen davon, dass Wissenschaft nicht Politik ersetzen kann und auch immer nur Wissen auf der Höhe der Zeit liefert. Der Ausgleich von widersprechenden Bedürfnissen und Interessen kann ihre Sache nicht sein.

Voltaire!

Verloren geht dabei, dass Diskussion und Debatte vor allem ein Hauen und Stechen um richtige Positionierungen ist, das niemals endet. Wer weiß, dass er oder sie seinen/ihren nächsten Irrtum vorbereitet, ist zwar nicht in der Schärfe seiner Argumentation gehindert, wohl aber im Empörtsein über andere, auch sehr andere Meinungen. Zwar kann man ob anderer Interessenlagen schon mal sehr garstig werden und sich gegebenenfalls auch weigern, sich mit bestimmten Positionen überhaupt zu befassen, aber man würde denjenigen, mit denen man verbal die Klinge kreuzt niemals versuchen vorzuschreiben, in welchen Begrifflichkeiten und Denkfiguren sie sich auszudrücken haben.

Am 22. September gab es eine Diskussion der Friedrich Naumann Stiftung in Berlin über The Future of Political Discourse, die von Jana Werner so eingeleitet wurde:

»Vor mehr als 100 Jahren legte die englische Schriftstellerin Evelyn Beatrice Hall in ihrem Werk ›Die Freunde von Voltaire‹ dem französischen Aufklärer folgendes in den Mund: ›Ich missbillige, was Sie sagen, aber ich werde bis zum Tod Ihr Recht verteidigen, es zu sagen‹.«

Damit war eigentlich alles gesagt und man hätte sich die folgende Debatte getrost sparen können, aber so einfach ist es dann doch wieder nicht.

 

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