von Peter Brandt

Eine Bemerkung vorweg: Der Begriff der Identität suggeriert von der eigentlichen Wortbedeutung her eine Eindeutigkeit, ja Hermetik, die sich leicht ad absurdum führen lässt. Jeder Mensch, und allemal der moderne Mensch, besitzt mehr oder weniger bewusst unterschiedliche Identitäten: geschlechtliche, berufliche, weltanschaulich-religiöse, soziale, politische und eben auch ethnisch-kulturelle sowie nationale.

Um die andauernde Bedeutung der letzteren soll es im Folgenden gehen, nicht darum, andere Dimensionen des menschlichen Daseins und seiner Wahrnehmung durch die Individuen zu bestreiten. Zweite Vorbemerkung: Ich spreche nicht über irgendwelche Identitäten von Menschen bzw. Menschengruppen in Deutschland, sondern die Themenstellung zielt auf das spezifisch Deutsche und seine Bestimmungsfaktoren, auf die ›nationale Identität‹ der Deutschen einschließlich derer, die es werden wollen.

Ich ziehe es meistens vor, die Sache, die mich und uns heute hier beschäftigt, als nationales Selbstverständnis zu bezeichnen. Dabei sehe ich im Wesentlichen vier Problemfelder, von denen zwei, die Erfahrung des nationalsozialistischen Radikal-Faschismus und die Teilung und Einigung Deutschlands nach 1945, mit der Vergangenheit zu tun haben. Mit diesen beiden, auf der Hand liegenden Punkten will ich beginnen. Lassen Sie mich aber zuvor noch in aller Kürze eine mir wichtige begriffliche Unterscheidung anbringen.

Nationen sind keine anthropologischen Konstanten, nichts, was für das Zusammenleben der Menschen schon immer charakteristisch war, sondern als mentale, soziale und politische Beziehungsgeflechte Produkte des historischen Prozesses. Die üblicherweise angeführten Merkmale wie gemeinsame Abstammung, Sprache und Kultur, aber auch ein gemeinsamer Markt bilden lediglich das Rohmaterial. Nationen entstehen durch soziale Kommunikation und kollektives politisches Handeln. Ihr Aufkommen setzt den Zerfall der frühneuzeitlichen ständischen Ordnung voraus und beschleunigt diesen weiter. Am Beispiel der Niederlande und der Schweiz ist zu beobachten, wie (hier: germanisch-deutsche) Teilvölker sich durch eigenständiges geschichtliches Agieren auch national verselbständigen können.

Nationalstaaten sind somit Staaten, deren Bewohner sich ganz überwiegend als Angehörige ein und derselben Nation empfinden. Diese Definition enthält keine Selbstverständlichkeit, denn der nationale Zusammenhalt muss nicht ethnisch begründet sein. Die bekanntlich viersprachige Schweiz hat sich schon lange als Nationalstaat begriffen, ebenso, jedenfalls lange Zeit, das zwei- bzw. (seit 1919) dreisprachige Belgien. Umgekehrt wurde Polen gerade in der Periode seiner Teilung zwischen Russland, Österreich-Ungarn und Preußen-Deutschland während des 19. Jahrhunderts im modernen Sinne zur Nation, ohne dass bereits ein Nationalstaat existierte. Ähnliches gilt für andere Länder, nicht zuletzt für Deutschland.

Die besondere Schwierigkeit, heute in Deutschland über das Nationale nicht allein negativ zu sprechen, besteht natürlich in der Last der NS-Vergangenheit mit ihren völkermordenden Ereignissen, ein Erbe, das nicht abzuschütteln ist. Für die große Mehrheit der Deutschen, zumindest der politisch bewussten, hat der derzeitige Bundespräsident im israelischen Parlament festgestellt, dass die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, mit dem Judenmord als destruktivem Höhepunkt, heute einen wesentlichen Bestandteil des deutschen nationalen Selbstverständnisses darstellt. Es geht um die Verantwortung, die die Bundesrepublik damit übernimmt, es geht nicht um eine kollektive Schuld der damaligen oder gar der heutigen Deutschen. Damit ist auch nicht gesagt, dass die Deutschen ihrerseits erlittenes Unrecht nicht thematisieren dürfen. Ein zentrales Anliegen des deutschen politischen Exils und des inneren Widerstands in den Jahren 1933-1945 bestand darin, deutlich zu machen, dass Deutschland und der Nazismus nicht identisch sind, auch damals nicht identisch waren.

Weiter: Es ist offensichtlich, dass sich in den Jahrzehnten der staatlichen Teilung Mentalitätsunterschiede zwischen der Bevölkerung der Alt-Bundesrepublik und der der DDR herausgebildet haben, die über die landsmannschaftlichen Differenzen innerhalb der beiden Fragmente hinausgehen. Ebenso unbestreitbar ist die krasse Asymmetrie des deutschen Einigungsprozesses. Selbst wenn man diese für größenteils unvermeidbar hält, wirkt sie kränkend auf die Ostdeutschen, die doch durch eigene Aktion – die vielberufene friedliche, demokratische Revolution des Herbstes 1989 – die Neuvereinigung Deutschlands überhaupt möglich gemacht haben. Dass diese auf dem Weg des Beitritts gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes und nicht, wie von den Verfassungsvätern für den Fall der Fälle vorgesehen, über die Wahl einer souveränen, verfassunggebenden gesamtdeutschen Nationalversammlung nach Artikel 146 zustande kam, bleibt – wie manches andere – problematisch. So, wie die staatliche Einigung vollzogen wurde, erschien sie den meisten Westdeutschen nicht als ein gemeinsames Projekt von historischer Dimension, sondern als das freundlich zur Kenntnis genommene, auch durchaus bejahte Hinzutreten einiger neuer Bundesländer ohne nennenswerte Konsequenzen für die eigene Existenz. Die erwähnte Asymmetrie wurde auf diese Weise verlängert.

Die rapide Modernisierung und die alltagskulturelle Verwestlichung der westdeutschen Gesellschaft hatten einen seit den 60er Jahren vielfach registrierten Rückgang des gesamtdeutschen Bewusstseins bewirkt. Insofern hatten diejenigen Sozialwissenschaftler, die eine schrittweise separate Nationsbildung in der Bundesrepublik-West diagnostizierten, nicht völlig Unrecht, wenngleich sie die diesbezüglichen Befunde zu einseitig interpretierten, Hindernisse und Gegentendenzen unterschätzten. Es ergab sich die paradoxe Situation, dass in der Bundesrepublik die Staatsführung unter allen Regierungen an der Einheit der Nation festhielt, für die Gesellschaft gesamtdeutsche Bezüge aber an Bedeutung verloren, während die DDR staatsoffiziell seit 1970 von der Existenz zweier deutscher Nationen (nicht nur zweier Staaten) ausging, was von deren Bevölkerung bis weit in die SED jedoch nicht ernst genommen wurde.
Die durch die staatliche Vereinigung von 1990 vorgegebene Ostverlagerung Deutschlands bedeutet keineswegs die Rückkehr zum Deutschen Reich, auch nicht in seiner Weimarer Variante. Zum ersten Mal in der Geschichte der deutschen Nationalstaatlichkeit werden die äußeren Grenzen staatsoffiziell und ebenso ganz überwiegend von der Bevölkerung als identisch mit den Grenzen der deutschen Nation angesehen. Weder Österreich noch die früheren preußischen Ostprovinzen jenseits von Oder und Neiße und heutigen polnischen Westgebiete gelten mehr als Irredenta, ungeachtet der Beurteilung der Vertreibung der deutschen Bevölkerung unmittelbar nach 1945. Und ebenso ist weitgehend unumstritten, dass es sich bei der heutigen gesamtdeutschen Bundesrepublik um einen europäisch integrierten und international kooperierenden Nationalstaat handelt.

Ferner: Von weit links bis ziemlich weit rechts wird die repräsentative Demokratie heute als Staatsform akzeptiert, und das hängt einerseits sicher mit dem Ende der SED-Diktatur im Osten zusammen, andererseits und vor allem aber mit einem bleibenden Ergebnis der jüngeren Geschichte: der totalen Kriegsniederlage von 1945, die überdies eine zweite Dolchstoßlegende nicht zuließ: Die Macht der alten preußischen Führungsschicht mit ihrer Basis im Agraradel, im Offiziers­korps und in der hohen Bürokratie wurde nach 1945 in allen Teilen Deutschlands zerstört oder nachhaltig geschwächt. Großbesitz ist natürlich weiter einflussreich, aber die alte antidemokratische Orien­tierung des deutschen Großbürgertums scheint durch die Erfahrungen seit 1945 überwunden. Und auch in den breiten Schichten der deutschen Bevölkerung zeigen die repräsentativen Umfragen über die vergangenen sechs Jahrzehnte eine Zivilisierung nationaler Leitbilder.
Dieser Einstellungswandel der Gesamtbevölkerung hat seine Entsprechung in der Intelligenz, die in Deutschland zwischen dem späten 19. und dem mittleren 20. Jahrhundert mehrheitlich auf eine spezifische Weise politisch rechts gestanden hatte. Bestimmend für den geistigen Wandel in Westdeutschland nach 1945 wurde der Bruch mit der Tradition des deutschen Eigenbewusstseins, das gegen westliche ›Zivilisation‹ und östliche ›Barbarei‹ deutsche ›Kultur‹ bewusst als eine prinzipiell andere, tendenziell höhere Form volklichen Daseins gesetzt hatte.

Als das – in den 50er Jahren noch deutlich erkennbare – tradierte gesamtdeutsche Nationalbewusstsein der älteren Generation, seit Mitte der 60er Jahre in sich zusammenfiel, auch in seinen dezidiert demokratischen Varianten, verursacht hauptsächlich durch die schlichte Hoffnungslosigkeit des internationalen Status quo und damit der deutschen Teilung, die mit dem Bau der Berliner Mauer im August 1961 buchstäblich zementiert worden war, war damit auch die klassische nationalstaatliche Orientierung der Bundesrepublik de facto am Ende. Stattdessen entwickelte sich mit dem Orientierungswandel der späten 60er Jahre in Teilen der jüngeren Intelligenz Westdeutschlands ein quasi ›negativer Nationalismus‹. Dieser war und ist getragen von der Überzeugung, die Deutschen hätten während des 19. und 20. Jahrhunderts eine nationalistische Sonderentwicklung durchlaufen, die im »Dritten Reich« ihren Höhepunkt gefunden habe; von daher sei das Nationale, und speziell das Projekt eines Nationalstaats, in Deutschland für immer unheilbar belastet. Die extremste Variante dieser Geisteshaltung lassen diejenigen Figuren erkennen, die am Jahrestag des verheerenden Bombenangriffs Mitte Februar 1945 Transparente durch Dresden tragen mit Aufschriften wie: »Bomber-Harris, do it again!« Hier ist das Pathologische leicht erkennbar, ebenso, wie nationaler Selbsthass (oder sollte man besser sagen: Inländerfeindlichkeit, denn ›die Deutschen‹ sind ja stets die anderen) in Menschenverachtung umschlagen kann.

Ich sprach eingangs von vier Aspekten, die ich thematisieren möchte. Zwei habe ich benannt. Mein dritter Punkt ist die unbestreitbare Relativierung des Nationalstaats durch die Prozesse der Europäisierung und Globalisierung, die in erster Linie, aber nicht allein wirtschaftlich bestimmt sind. Was die Globalisierung betrifft, so gehen, wenn ich das richtig sehe, die meisten politikwissenschaftlichen Analytiker davon aus, dass die Rolle der Staaten auch künftig keine unbedeutende sein wird, auch wenn ihre Handlungsfähigkeit in manchen Bereichen schon jetzt arg beeinträchtigt ist. Die europäische Einigung hat diesbezüglich einen ambivalenten Charakter: Einerseits fungiert sie als eine Art Sub-Prozess der Globalisierung – die Masse des wirtschaftlichen Austauschs findet ja nach wie vor innerhalb Europas statt. Andererseits wird die EU von vielen ihrer Befürworter als regionales Gegengewicht zur weltweiten Entgrenzung des Marktkapitalismus, insbesondere der Finanzmärkte, in den vergangenen 30 Jahren und als diesbezügliches Gestaltungs- und Einhegungsinstrument, als Verteidigungsraum für den Typus der koordinierten Marktwirtschaft und der sozialstaatlich geprägten Demokratie verstanden. Die EU stünde somit ordnungspolitisch vor ähnlichen Aufgaben wie ihre Mitgliedsstaaten.

Selbst wenn – wie zu hoffen – nationaler Wirtschaftsprotektionismus und nationales Prestigedenken in Europa nicht wieder die Oberhand gewinnen, wird der Kontinent für die absehbare Zeit seine Zukunft in einer historisch neuartigen Kombination bundesstaatlicher und staatenbündischer Lösungen finden, in der auch die alten Nationalstaaten (die Nationen als Bewusstseins- und Kommunikationsgemeinschaften allemal) noch einen gewichtigen Part mitzuspielen haben werden, und im Innern werden die Staaten selbst bei großzügiger Regelung des Zuwanderungs- und Einbürgerungsrechts ihr historisch gewachsenen, unverwechselbares Wesen nicht verlieren. Es ist eine vollkommen unrealistische Vorstellung anzunehmen, das Ende des klassischen Nationalstaats sei identisch mit dem Ende des Nationalstaats überhaupt.
Man darf dabei auch nicht übersehen, dass die Verfassungsstaatlichkeit, eine der großen Errungenschaften der europäischen Geschichte, meist im nationalen Rahmen und in Verbindung mit der Nationalidee ins Leben trat und von dieser Konnotation nicht ohne Weiteres zu lösen ist, sondern, unter Anknüpfung daran, wohl nur europäisch erweitert werden kann. Als politische Bauform Europas – neben anderen Formen – wird der Nationalstaat noch eine ganze Epoche weiterleben, bevor er möglicherweise in einer größeren Einheit aufgeht. Es handelt sich darum, was man mit diesem Instrument tut. Wie kann neben militärischer auch wirtschaftliche Macht auf europäischer und globaler Ebene kontrolliert werden? Wie können das Agieren der Einzelstaaten und die verschiedenen europäischen Einigungsprozesse, die atlantischen und globalen Zusammenschlüsse nicht-imperial koordiniert und harmonisiert werden, um Energien frei zu bekommen für die existenziellen Menschheitsprobleme des begonnenen Jahrhunderts?

Den vierten Punkt habe ich soeben schon beiläufig erwähnt. Was bedeutet die Massenzuwanderung der letzten Jahrzehnte, insbesondere aus anderen Kulturkreisen, für die Zukunft der tradierten europäischen Nationen, namentlich der deutschen? Grundsätzlich lässt sich zunächst unterstreichen, dass das deutsche Volk, wie mehr oder weniger alle Völker Europas und die meisten Völker der Welt, in ethnischer Hinsicht ein Mischvolk ist. Von einer germanischen Ursub

stanz auszugehen, ist bereits zweifelhaft, weil aus den sog. Stämmen der Sachsen, Franken usw. erst im Mittelalter so etwas wie ein ethnisch einheitliches deutsches Volk entstand. Die deutsche Hochsprache setzte sich gegen die dialektverhaftete plebejische und die französischsprachige Adelskultur noch deutlich später als Verkehrssprache endgültig durch, etwa um 1800, als sich gleichzeitig eine moderne kultur-nationale und politisch-nationale Bewegung abzeichnete. Im ostelbischen Deutschland springen die Nachnamen slawischen Ursprungs ins Auge, ebenso im Ruhrgebiet, wo noch im ersten Drittel des letzten Jahrhunderts eine große Zahl polnischer Migranten als nationale Minderheit (mit eigenen Vereinen, Kirchen usw.) lebte.

Zwei Unterschiede früherer Zuwanderungen gegenüber heute liegen auf der Hand: erstens vollzogen sich die Vorgänge über längere Zeiträume und in quantitativ bescheidenerem Umfang und zweitens bedeutete Integration über kurz oder lang Assimilation. Aus den im 17. und 18. Jh. nach Brandenburg-Preußen eingewanderten Hugenotten (französischen Protestanten) z.B. wurden im Lauf relativ kurzer Zeit schlichtweg Deutsche. Auch für die Juden, die in der ständischen Gesellschaft überwiegend separiert gelebt hatten, ging die Haupttendenz vor 1933 in Richtung Assimilation. Die Beiträge der jüdischen Gemeinschaft zur deutschen Wirtschaft, Kultur und auch Politik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts sind unübersehbar. Die größte jüdische Vereinigung der Weimarer Republik nannte sich »deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens«. Warum es möglich war, diesen Assimilationsprozess dann gewaltsam zu stoppen, ist eine fundamentale Frage an das deutsche Selbstverständnis, die wir hier aber nicht beantworten können. Nur so viel: Dieser Weg war keinesfalls zwangsläufig.

Heute spricht nichts dafür, dass es möglich wäre (von der Wünschbarkeit einmal abgesehen), die Zuwanderung nach Deutschland zu beenden oder gar die hier lebenden Ausländer wieder auszusiedeln, ohne die Liberalität unserer Lebensform aufzugeben und andere Schäden in Kauf zu nehmen. Das macht die Frage nicht illegitim (die ich aber nicht konkret beantworten kann), ob es Grenzen der Aufnahmefähigkeit eines gegebenen, relativ dicht besiedelten Territoriums und einer gegebenen Gesellschaft gibt. An den diesbezüglichen Äußerungen von Thilo Sarrazin vor einiger Zeit hat mich nicht gestört, dass hier der Finger in eine Wunde gelegt wurde, sondern die überhebliche und verächtliche Art, in der Sarrazin zum wiederholten Male über Angehörige der sozial unteren Schichten gesprochen hat, seien ihre Angehörigen deutscher, türkischer oder anderer Abstammung.

Um meinerseits Klartext zu reden: Die Existenz und ständige Erneuerung von nicht-deutschen, gettoisierten Parallelgesellschaften, in denen soziale Ausgrenzungs- und ethnisch-kulturelle Absonderungstendenzen sich gegenseitig verstärken, scheint mir mit dem Gedeihen eines demokratischen und sozialstaatlichen Gemeinwesens, das auf Inklusion angelegt ist, nicht vereinbar. Demokratie braucht nicht nur die Akzeptanz gewisser Grundregeln und gemeinsamer politisch-weltanschaulicher Werte (wie der Menschenrechte), sondern auch ein Mindestmaß an kultureller und sozialer Homogenität, damit das Volk im politischen Sinn des Worten, der Demos, erkennbar und handlungsfähig bleibt.
Es ist davon auszugehen, dass die Deutschen in 50 Jahren durchschnittlich einen etwas dunkleren Teint, dunklere Haare und Augen haben werden als heute. Das ändert nichts daran, dass die Mehrheitskultur, die sich nicht allein, aber in erster Linie in der Sprache ausdrückt, Vorrang und allgemeine Gültigkeit beanspruchen darf. Das setzt voraus, dass so etwas wie Kulturen und auch Nationalkulturen noch vorhanden sind und dass man sie eher als potentiell die Demokratie stabilisierend einschätzt in einer gesellschaftlichen Entwicklungsphase, da die Atomisierung der Individuen und die Flexibilitätszumutungen an sie die Bindung der Freiheit an die Gemeinschaftlichkeit mehr denn je unterminiert.

Es gibt, wie Sie wissen, auch die gegenteilige Sichtweise, die in der kulturellen und nationalen Einbettung der Menschen das eigentliche Problem zu erkennen meint und eine globale Gesellschaft frei schwebender Weltbürger anstrebt – nichts gegen weltbürgerlichen Geist und übernationales Handeln! –, die ungehindert und unmittelbar miteinander kommunizieren und kooperieren sollen. Ich kann mir eine solche Perspektive schwer vorstellen, es sei denn als Begleiterscheinung totaler weltweiter Ökonomisierung mit den bekannten fundamentalistischen (nicht nur denen des Islam) und populistischen Gegenreaktionen.
Für manche Ohren recht befremdlich mag meine Forderung klingen, dass die deutsche Geschichte auch in ihren schrecklichen Aspekten von allen denen als Erbe mit anzunehmen wäre, die hier dauerhaft leben, arbeiten und mitgestalten wollen. Persönlich sind ja die heutigen Kinder der Krauses und Schulzes, von denen schon die Großeltern nach 1945 geboren sind, nicht mehr verantwortlich für die Schrecken der NS-Vergangenheit oder gar schuldig daran als die Kinder der Özdazs und Husseins und die über die Kontinuität von Staat und Nation vermittelte kollektive Verantwortung haben die einen wie die anderen zu akzeptieren.

Dass das alles leicht gesagt, aber schwer zu bewerkstelligen ist, ist mir durchaus klar. Ich möchte immerhin die Richtung andeuten, in der m.E. kulturelle Integration und gesellschaftlicher Zusammenhalt organisiert werden müssten. Dass dabei auch im engeren Sinn soziale, sozio-ökonomische Faktoren in Rechnung zu stellen sind, sei nur beiläufig erwähnt. Das wäre ein eigenes Thema.
Der damalige Bundespräsident Gustav Heinemann hat vor über vier Jahrzehnten gemahnt, die Deutschen müssten sich mehr um ihre freiheitlichen Traditionen kümmern. Was ist daraus geworden? Gerade wenn man das Bewusstsein einer kollektiven Verantwortung für den Nationalsozialismus auch bei kommenden Generationen lebendig erhalten will, muss man positive Identifikationsmöglichkeiten bieten, die die deutsche Geschichte in hohem Maß bereitstellt wie die Geschichte anderer Völker auch. Das ist keine Aufgabe der historischen Wissenschaft, sondern der politischen Bewusstseinsbildung.

Gewiss: Die Demokratiegründung in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg war nur möglich aufgrund des Sieges der Anti-Hitler-Koalition und der Einflussnahme der Besatzungsmächte. Aber diese Bedingung war nicht hinreichend. Ohne einen Fundus an lebendiger nationaler Tradition, verkörpert von den Männern und Frauen der ersten Stunde, wäre die alte Bundesrepublik tatsächlich jenes amerikanische Protektorat geblieben, das ihre entschiedenen Gegner damals in ihr sahen. Die obrigkeitsstaatlichen Züge der neueren deutschen Geschichte sind nicht zu leugnen; aber die Vorstellung, Demokratie sei ein reiner Importartikel, etwas im Grunde ›Undeutsches‹, ist ein selbstzerstörerisches Klischee.
Der Philosoph Jürgen Habermas hat, an eine Formulierung Dolf Sternbergers anknüpfend, in den 80er Jahren mit anderen für einen ›Verfassungspatriotismus‹ anstelle eines traditionellen Nationalpatriotismus geworben. Ein solcher Verfassungs- oder, um das dynamische Element zu unterstreichen, demokratischer Patriotismus stützt sich auf universelle, sozusagen ›westliche‹ Werte. Dem ist insofern zuzustimmen, als ein Nationsbegriff, der vermeintlich ›objektive‹, nämlich ethnisch-kulturelle Kriterien einseitig in den Mittelpunkt stellt, für völkisch-nationalistische Entgleisungen stets offen ist. Andererseits wäre ein ›Verfassungspatriotismus‹ ohne Verankerung in der Kultur und Geschichte des betreffenden Landes ein wirkungsloses Kunstprodukt.

Tatsächlich setzt das demokratische Nationsverständnis auch des Westens, das um die politische Selbstbestimmung ›der Nation‹ zentriert ist, in der Regel die spezifischen nationalkulturellen und nationalgeschichtlichen Bedingungen voraus. Das gilt auch für die immer wieder zitierte, klassische Definition der Nation als einer »täglichen Volksabstimmung« durch den französischen Religionswissenschaftler Ernest Renan von 1882.
Der frühere polnische Botschafter, damals noch in Bonn, Janusz Reiter, hat vor Jahren, auch an die deutsche Adresse gerichtet, geäußert – und damit möchte ich schließen: »Nationale Selbstfindung ist, nach meiner Überzeugung, keine Alternative, sondern geradezu eine Voraussetzung für [über-nationale] Integrationsprozesse. Man muss sie erreichen, um auch ihre Grenzen zu erkennen. Und erst dann wird eine freiwillige Aufgabe von Teilen der traditionell verstandenen nationalen Souveränität möglich.«

 

Vortrag beim Forum »Kulturbrücken in Deutschland« des Institute for Cultural Diplomacy in Berlin am 1. März 2010

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