von Ulrich Schödlbauer

Ein Land beschäftigt sich anderthalb Jahre lang mit einer einzigen Sache und findet den Ausweg nicht. Was soll man daraus schließen? Am besten gar nichts. Das Land ist noch dasselbe, die Leute sind noch dieselben, selbst die Regierung ist noch im Amt. Das alles ist vordergründig richtig, aber es bedeutet nichts – es hat nichts zu sagen. Auch die verbleibenden Optionen haben momentan nichts zu sagen: dynamischer Stillstand.

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Gemessen an Zeiten, in denen man keine Margarine kaufen konnte, ohne durch den Anblick einer weiblichen Brust zu weitergehenden Hoffnungen animiert zu werden, ist die heutige Politik Margarine. Soll heißen, der Anteil des voyeuristischen Schweigens am politischen Geschehen hat kontinuierlich zugenommen, und dieses Schweigen klebt an den Hebeln der Macht.

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Eine nicht unerhebliche Facette der Cancel Culture blitzt bei Kondylis auf, wenn er schreibt: »Denn solche Rechte, z.B. die Redefreiheit, erblicken nicht erst durch die Demokratisierung das Licht der Welt; im vordemokratischen Zustand beschränkte sich bloß ihre Ausübung auf den Kreis der Herrschenden, und ihre Übertragung auf andere bedeutet konkret, dass immer mehr Menschen herrschaftsfähig werden oder Herrschaftsansprüche anmelden dürfen.« (Panajotis Kondylis, Planetarische Politik nach dem Kalten Krieg, Berlin 1992, S.15f.) Das bedeutet im Umkehrschluss: Cancel Culture ist der Versuch, den Kreis der Herrschaftsfähigen zu verkleinern beziehungsweise größere Bevölkerungskreise aus ihm hinauszudrängen. Man kann das, mit Blick auf die Besitzverhältnisse, ›Refeudalisierung‹ nennen, es ist aber, wie immer man es wendet, Cliquenherrschaft, die da angestrebt wird: eine durch den gemeinsamen Code herausgehobene Seilschaft von Gesinnungsartisten putscht gegen den durch sprachpolitische Manöver mundtot gemachten Rest der Gesellschaft.

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Der Dauer-Lockdown ist keine Sackgasse, sondern ein Sack, mit dem man Flöhe fängt: ein mühsames, aber nicht aussichtsloses Geschäft. Der Einzelne als parasitärer Floh, mit dem sich die Regierung des Landes herumschlägt, als gäbe es für sie nichts Wichtigeres zu tun – das ist, als Vision und als Tagesgeschäft, übrig geblieben von der einstigen Musterdemokratie des Westens. Wie es soweit kommen konnte: Frage nicht, forsche!

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Wenn ich zwei Betrüger zusammen auf einem Podium sehe, dann sehe ich zwei Betrüger zusammen auf einem Podium, und wenn ihre Rede Lug und Trug ist, dann höre ich Lug und Trug. Das ist analytisch richtig und dennoch verrätselt es sich den meisten Menschen bis zur Sprachlosigkeit, sobald der Faktor Macht ins Spiel kommt. Warum? Weil es nicht wahr sein darf. Wer darauf wartet, dass etwas wahr sein darf, der darf vor allem eines: lange warten. Aber vielleicht war gerade das sein Wunsch und sein Begehr.

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Auch auf dem Feld des Betrugs scheint zu gelten: Deutsch sein heißt eine Sache um ihrer selbst willen zu tun. Betrug um seiner selbst willen schließt den Selbstbetrug ein, ohne dass ein anderes Selbst als das des Betrugs dazu nötig wäre. Dieser Betrug zweiter Stufe flutet die Wirklichkeit, er verachtet die kleinen Betrügereien, die das Leben am Laufen halten, er will das Leben auf dem Planeten ganz, er will es sozusagen in seine Faust bekommen, nicht, um es zu zerquetschen, sondern um es zu bewahren. Zumindest kommt es ihm so vor; was das arme Leben davon hält, wird man sehen, falls sich noch eine Gelegenheit dazu findet.

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Wie ruhig und sicher gleitet der Blick über Schrift, die vor der sogenannten Rechtschreibreform gesetzt wurde. Er hat schon begriffen, was der Verstand zu begreifen sich weigert: Hier wurde ein höherer Stand der Sprachkultur eliminiert und die Folgen wurden peu à peu sichtbar. Wie konnte das geschehen? Noch leben die Akteure, noch könnte man sie über ihre Motive befragen.

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Auf dem Höhepunkt einer ausgeklügelten Wissenschaft, auf dem jedes Wort unabsehbare theoretische Kontexte aufruft, erscheint das factum brutum und erklärt sich zur Unschuld des Jahrhunderts. ›Fakten, nichts als Fakten‹ will eine Wissenschaft geben, die das Faktum Wissenschaft in soziologische Hände gelegt und beschlossen hat, Wachs in den Händen der Herrschenden zu sein, um auf diese Weise zu herrschen. Die sogenannten Fakten, die angeblich nicht hinterfragt werden können, sind das Herrschaftsinstrument von Steinzeitforschern, die eine Zeitreise absolviert haben und endlich in den Vorzimmern der Macht nach der Anerkennung verlangen, die ihnen die Epoche der Zivilisation immer wieder verweigerte.

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Wenn jedes Wissen ein wissendes Bewusstsein voraussetzt, dann ist jedes Wissen ›a priori‹: Es ergibt außerhalb des Bewusstseins keinerlei Sinn. Um dieses Eingeständnis haben sich Generationen von Empiriegläubigen zu drücken versucht. Aber sie haben nie das freie Gelände gewonnen, das sie sich vorgestellt hatten. Der einzig gangbare Ausweg, den sie fanden, besteht darin, das Bewusstsein als ›Illusion‹ wegzuerklären, als ›falsches Bewusstsein‹, wie das ein kruder Materialismus einst nannte. Das richtige Bewusstsein bestünde demnach darin, dem Bewusstsein, das nur ›zum Schein‹ existiert, keinen Anteil an dieser Sache einzuräumen. Schon immer hat der westliche Mensch gewusst, dass ihn die Wahrheit im Tode erwartet.

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Manche Theorien sind gleicher als andere; sie bleiben nicht länger eingebettet in den wissenschaftlichen Diskurs, sondern dienen als Brandzeichen, um die Herden aus Halb- und Dreiviertel-Gebildeten voneinander zu trennen. Wehe dem, der zeigt, dass sie sich leicht vereinbaren lassen: Er gilt als Viehdieb und muss in jedem Fall hängen. Der Zweck der Herdensortierung ist immer derselbe, es gilt, die Macht im Staat zu erobern und mit allen Mitteln der Massensuggestion Weltveränderungsphantasien in Gang zu setzen, die bei kühlem Entscheidungsverstand keine Chance bekämen. Die erste Veränderung ist immer die Ausweitung der eigenen Einflusssphäre samt zugehörigem Mittelfluss. Eine Theorie siegt, wenn ihre Anhänger ein üppiges Auskommen finden, während die Gegner aus dem Spiel gedrängt werden – theoriegeschichtlich und überhaupt. Am Ende gelten sie als Teufel in Menschengestalt und haben zu büßen.

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Betrug: ein Herrschaftsmittel wie andere auch. Wenn Herrschaft anfängt, dem Betrug hinterherzulaufen und ihm ihre Dienste anzubieten, dann gerät sie in Gefahr, durchschaut zu werden. Sie muss also betrügen, um dem Betrug zu willen zu sein. Das große Publikum kennt nur die Frage ›Betrug oder Redlichkeit‹, sein Blick flackert und verirrt sich im Geflecht der verschiedenen Betrugslinien, so dass der Betrug offen zutage liegen kann, ohne Gefahr zu laufen, den Unwillen zu erregen, den er erregen müsste, lägen die Dinge so einfach, wie der Betrüger sie gesehen haben möchte. Wer will, darf das Dialektik nennen.

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Man wirft eine Umverteilungsmaschine an und nennt sie Wiederaufbauprogramm. Da nichts zerstört wurde, bekundet man damit, dass ein Zerstörungsprogramm abläuft, das man selbst in Gang gesetzt hat. Das Publikum kennt die Profiteure oder ahnt, um wen es sich handelt. Es fürchtet sich vor der Zerstörung und verhält sich so, dass es selbst sie heraufbeschwört oder zumindest vorantreibt. Es betreibt seine ökonomische Zerstörung aus Angst vor der Zerstörung der Ökonomie. In Wirklichkeit betreibt es gar nichts: Man hat es in ein Hamsterrad gesetzt und es läuft geradeaus, weil ihm keine Alternative geboten wird. Solche bitteren Wahrheiten besitzen ihre eigene Literatur. Fraglich bleibt nur, wer sie zur Kenntnis nimmt. Man muss sich mit der Wirklichkeit entzweien, will man erreichen, dass die eigenen Gedanken irgendwann in ihre Gestaltung einfließen. Irgendwann wird jede Information kämpferisch. (Jüngstes Beispiel: Markus C. Kerber, Der deutsche Selbstmord, München 2021)

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Für Deutschland kommt das, was nach Großbritanniens Ausscheiden in der EU geschieht, einem zweiten Versailles verdächtig nahe, diesmal als Farce, wenn man so will, weil die Deutschen selbst gegenwärtig kein wichtigeres Ziel zu kennen scheinen, als ihren Staat zur Disposition zu stellen, gleichgültig, ob es sich dabei um finanz-, energie-, klima- oder migrationspolitische Ziele handelt. Zieht man die Geldverteilungsmaschine ab, wird man feststellen, dass die Partnerstaaten herzlich unbeeindruckt von all diesen Zielen agieren. Das erinnert an das Märchen vom Hasen und Igel: Der deutsche Hase rennt vor sich selbst davon und jedes Mal, wenn er glaubt gewonnen zu haben, schallt es ihm höhnisch vom Absatz entgegen: »Wir kennen dich, du bist es.« Und das ist sogar wahr.

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Die Frage, in welchem Kreis der Hölle die sogenannte Generation Z geschmiedet wurde, ist nicht abschließend zu beantworten. Das liegt an den schicken Design-Firmen, welche ungern Informationen darüber preisgeben, wo sie arbeiten lassen, und die Herkunft der Ware nach Kräften verschleiern. Wie dem auch sei, die Generation ist da und mit ihr die neue Botschaft, die nichts anderes verlangt als durchgesetzt zu werden: Auf die anderen mit Gebrüll! Gerade noch war die Gestalt des Anderen ein sakrales Etwas, dem man sich nur auf Knien nähern durfte, um den Opferdiskurs nicht zu gefährden, jetzt werden Opfer am Fließband produziert, dass es nur so knackt. In den Redaktionen stapeln sich die Opfer der Opfer der Opfer, so dass die Schreiberlinge mit dem Abarbeiten kaum nachkommen und in Schnellkursen eingewiesene Zensoren einspringen müssen, die alles nur verschlimmern, weil ein ohnehin überlastetes Gerichtswesen in vielen Fällen Nacharbeit leisten muss. Die Generation ist dicht – das habe ich einmal geschrieben und jeder, der die dazugehörigen Zeiten erlebte, wusste, was damit gemeint war. Heute bedarf die Sentenz der Ergänzung: diese nicht ganz.

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