von Lutz Götze

Der Wirbel um die, im Nachhinein, wieder zurückgenommene Bestellung des sächsischen Dichters Jörg Bernig zum Kulturamtsleiter der Stadt Radebeul hält an. Eine zweite Wahl soll Klärung schaffen. Bernig war ursprünglich bereit, erneut zu kandidieren.

Im Protestschreiben des Radebeuler Kulturvereins hieß es:

»Die Wahl Dr. Jörg Bernigs ist ein folgenschweres Zeichen für den Stellenwert der Kultur in unserer heutigen Zeit. Wir befürchten, dass dieser Kulturamtsleiter die freiheitliche Ausübung von Kunst und Kultur behindern oder einengen könnte.« Ähnlich äußerte sich der Präsident der Sächsischen Akademie der Künste, Holk Freytag: »Ich bringe die von Herrn Bernig vertretenen Positionen, etwa zur Migrationspolitik der Bundesregierung, nicht mit den Anforderungen an einen Kulturamtsleiter in Deckung«.

Die (un-)geistigen Hintergründe

Hunderte haben inzwischen gegen die Bestellung Bernigs protestiert und dabei vor allem auf seine engen Verbindungen zur rechten und rechtsradikalen Szene verwiesen. So publizierte er Artikel im neoreaktionären Magazin Tumult und äußerte sich in der vom Rechtsverleger Götz Kubitschek verantworteten Zeitschrift Sezession im Juni 2019 zur Lage in Sachsen, dessen Bürger er als ›Revoltierende Resteverwerter verfallner Imperien‹ versteht:

»Eigentlich fühlen sie sich dem Süden zugehörig, den Österreichern, den Bayern, und mit den Angehörigen beider Stämme … kommen sie wesentlich rascher auf eine Kommunikationsebene als mit, sagen wir, Niedersachsen oder Holsteinern«.

Sein Credo ist mithin die ethnische Reinheit vermeintlicher Stämme. Mit der historischen und geographischen Kenntnis freilich steht er auf Kriegsfuß. Natürlich gibt es weder ›die Österreicher‹ noch ›die Bayern‹, sondern – im Alpenland – Tiroler, Steiermärker, Kärntner und weitere ›Stämme‹ mit nicht nur sprachlichen Besonderheiten: genauer zu studieren bei Karl Kraus und Helmut Qualtinger. Und über die sieben bayrischen Stämme kann man bei Lion Feuchtwanger Interessantes nachlesen.

Bernig betont also das je Eigene und Trennende, nicht das Verbindende der Menschen. Dafür muss er, immer erneut, die Historie verbiegen, damit sie in sein Konzept passt. Entsprechend heißt es später im Text:

»Sie (die Sachsen – L.G.) sind keine Binnendeutschen, sie sind keine Nord- oder Westdeutschen… Und daß der Westen immer alles richtig und der Osten immer alles falsch gemacht, ist einer der ersten Artikel des Grundgesetzes des ›Westens‹«.

Hier wird aus der stammespolitischen Schwafelei plötzlich Politik: Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland von 1949, das er ja wohl meint, steht davon keine Zeile, vielmehr eine Fülle demokratischer Grundsätze: die beste Verfassung, die Deutschland je hatte und die wir vor allem geistigen Größen wie Carlo Schmid und Elisabeth Selbert verdanken, die die richtigen Lehren aus der faschistischen Diktatur gezogen hatten!

Es lohnt sich, noch zwei Texte hinzuzuziehen, um Bernigs gedankliches Streben zu verstehen. Im Dezember 2015 erschien im Feuilleton der Sächsischen Zeitung ein Aufsatz »Zorn allenthalben«, in dem der Denker von der Elbe bereits im Untertitel seine tiefschürfende Sorge ausdrückt: »Der Staat hat längst seine Souveränität aufgegeben. Jetzt holt er mit anderen Kulturen auch deren Konflikte ins Land«.

Es geht natürlich um Bernigs Säulenheiligen Samuel P. Huntington und sein Werk »Kampf der Kulturen«, in dem der Amerikaner, ähnlich wie Frankreichs Bestsellerautor Michel Houellebecq, die Islamisierung Europas vorhersieht. Huntingtons grobe religionsphilosophische und methodische Schnitzer, längst dokumentiert, kennt Bernig anscheinend nicht oder verschweigt sie, wie üblich. Er sieht stattdessen Horden junger Moslems auf deutschen Straßen, die Jagd auf deutsche Frauen machen und sie vergewaltigen: vermutlich vor allem in Sachsen, wo der Ausländeranteil bekanntlich am niedrigsten ist.

Um nicht missverstanden zu werden: Solche Fälle gab und gibt es, und häufig, wie auf dem Kölner Domplatz oder bei Diskriminierungen deutscher Lehrerinnen durch muslimische Schüler, hätte entschiedener durchgegriffen werden müssen. Doch es sind Einzelfälle, denn die überwältigende Mehrheit gerade der türkischen Bürger, aber auch anderer Muslime, ist gegen Gewalt, gegen Rassismus und steht für die Werte des Grundgesetzes und der Demokratie. Genau sie aber kommen bei Bernig nicht vor; vielmehr artikuliert er sein tiefes Verständnis für den Zorn, der viele Bürger im Osten erfasst habe:

»Und welch großer Zorn, dass wir uns wieder in einer Lage befinden, in der Regierung und auch weite Teile der Medienwelt gegen das Volk regieren, über das Volk hinweg regieren und von oben herab zu ihm sprechen. 1989 war es auch jahrelang angestauter Zorn, der zur Beseitigung des Vormundschaftsstaates DDR führte. Viele derjenigen, die heute ein Unbehagen gegenüber dem politischen Kurs empfinden, sind, um es verkürzt auszudrücken, 89er.«

Der Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland also vergleichbar dem Unrechtsstaat DDR? Man fasst sich an den Kopf und viele der Bürgerrechtler von 1989, die die Mauer einstürzten, werden es ebenso tun!

Als sei das noch nicht genug der historischen Unwahrheit, schlägt Bernig gleich noch eine Bresche für die Pegida-Demonstrationen: »Ich weiß von gebildeten Menschen, dass sie – trotz mancher von ihnen abgelehnter Redner – zu den Dresdner Pegida-Rundgängen erscheinen. Fremdenfeinde allesamt? Hm, zugleich helfen sie auf unterschiedliche Weise Menschen, die nach Deutschland geflohen sind.«

Von welchem ›Volk‹ redet Bernig? Von den Chaoten der Pegida, den Hasstiraden der ›Flügel‹-Leute um Björn Höcke und den Morddrohungen der extrem Rechten im Internet? Von denen, die die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke klammheimlich oder offen bewundern, mit Angabe ihrer Adresse? Von denen, die eine ›Umvolkung‹ – man lese im Wörterbuch Lingua tertii imperii nach, um den nazistischen Ursprung des Unwortes zu begreifen – Deutschlands prognostizieren?

Bernig ist sich dafür zu fein. Die Sprache des Pöbels, der auf der Straße randaliert, vermeidet unser Denker des Salons. Bei ihm heißt es gepflegter in der »Kamenzer Rede« von 2016:

»Dazu scheint der Kanzlerin das Volk, wie es ist, nicht zu genügen. Also wählt sie sich ein neues. Das freilich ist eine ›Bundesrepublikanisierung‹, die noch über das reale alte Westdeutschland hinausgeht, es ist ein Umbau des Volkes, das gemäß dem Grundgesetz eigentlich der Souverän Deutschlands und seiner Demokratie ist. Politisches Denken und Agieren werden hier auf voraufklärerische Verhältnisse zurückgeführt, und das Toleranzgebot der Aufklärung gilt hier nicht gegenüber abweichenden Meinungen … Es geht um totalen Umbau, um eine im obrigkeitsstaatlichen Duktus verfügte Umgestaltung unseres Gemeinwesens. Womit ließe sich das wirkungsvoller erreichen als in der Umgestaltung dessen, was sich in einem historischen Überlieferungsfeld und Sinnzusammenhang als Volk bezeichnet?«

Damit hat Bernig sein eigentliches Thema gefunden: die Zurücknahme der Aufklärung durch Bundesregierung und ›Mainstream-Medien‹, genannt ›Lügenpresse‹, mithin der Aufklärung mit ihrem Toleranzgebot und der Forderung Immanuel Kants nach Mündigwerdung des Menschen. Denn die Lage, nach Bernig, ist düster: »In Deutschland ist ein Ringen im Gang. Auf der einen Seite stehen die Ingenieure des Gesellschaftsumbaus, die Verdunkler und Verdeuter, die Sprach-und Denkkontrolleure, die Unterminierer von Aufklärung und offener Gesellschaft. Auf der anderen Seite stehen die Verteidiger einer aufklärerischen Vernunft, eines eigenständigen Denkens, der Geistesfreiheit, der offenen Gesellschaft, der Gleichwertigkeit der Religionen und der Geschlechter«.

Um dieses apokalyptische Zerrbild zu untermauern, macht es Bernig nicht billig: Unter Kant und Gotthold Ephraim Lessing tut er es nicht, auch Heinrich Heine muss noch als Kronzeuge dienen, freilich eher beiläufig. Lessings Nathan der Weise, zumal die Ringparabel, ist für den streitbaren Pseudo-Philosophen nichts weniger denn ein Zusammenprall der Kulturen. Mitnichten, euer Ehren: Die Parabel erzählt von den Gegensätzen der Religionen und bietet eine Alternative an: die Versöhnung! Und das heißt: praktizierte Toleranz!

Bernigs Conclusio: »Ah, frommer Wunsch!« Lessing würde sich im Grabe herumdrehen, läse er dieses!

Ärger noch ist es beim Aufklärungsphilosophen. Immanuel Kants berühmter Text aus dem Jahre 1784 ist die wohl griffigste und knappste, zugleich aber überzeugendste, Antwort auf die Frage der Akademie Was ist Aufklärung?:

»Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes ohne Anleitung durch einen anderen zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.«

Bernig erdreistet sich nunmehr, genau diesen Kantischen Imperativ auf sich und seine Bundesgenossen der rechten Szene zu beziehen und sich als eigentlicher Fortführer des Denkens des Königsbergers zu verstehen. Nur er selbst, so Bernig, dächte frei und unabhängig, nur er lebte die Geistesfreiheit, träte für eine offene Gesellschaft und die Freiheit der Religionen und Geschlechter ein! Welche Hybris! Welche Perfidie! Welches Nichtverstehen einer offenen Gesellschaft! Welche Rechthaberei, also »Eristische Dialektik«, wie Arthur Schopenhauer dergleichen Treiben nannte! Welche Ausgrenzung der überwältigenden Mehrheit unserer Gesellschaft! Bernig praktiziert genau das, was er dieser Mehrheit vorwirft: Rassismus, Islamophobie, Gängelung, medial erzeugte Angst, Besserwisserei, Intoleranz und apokalyptische Visionen. Dazu gehört obendrein, dass er alles, was ihm nicht in seine Dystopie passt, eher en passant zu erledigen sich bemüht: ›Verfassungspatriotismus‹ ( hat er je Jürgen Habermas ordentlich studiert?), ›Interkulturelles Lernen‹ ( eine der Grundlagen des friedlichen Zusammenlebens seit Jahrzehnten), eine ›bunte, weltoffene und multikulturelle‹ Gesellschaft, die die ›alte‹ Bundesrepublik Europa und der Welt angenähert hat. Stattdessen preist er den finanziellen Egoismus der Briten, die die Europäische Union verlassen werden, lobt die polnische, tschechische und ungarische Regierung für ihre Weigerung, Flüchtlinge aufzunehmen, in Wahrheit aber nur zu gern in der Union verweilen, um auch fürderhin die immensen Zahlungen aus Brüssel abzugreifen. Im Gegenzug wirft er ›Westdeutschland‹ vor, rassistisch zu sein, weil dort »eine Gesellschaft erst dann für gut befunden wird, wenn sie das Versuchslabor einer ethnischen Modifizierung durchlaufen hat«. Wo, bitte, findet dergleichen statt? Die Flüchtlingszahlen sind seit Jahren enorm rückläufig, viele Kommunen bieten Aufnahmemöglichkeiten an, Bürger engagieren sich. Wo lebt eigentlich unser Elbe-Philosoph?

Zur rassistischen und fremdenfeindlichen Überzeugung des Herrn Bernig passt denn auch der entscheidende Passus der ›Gemeinsamen Erklärung von 2018‹, die der Radebeuler als einer der ersten unterzeichnet hat:

»Mit wachsendem Befremden beobachten wir, wie Deutschland durch die illegale Masseneinwanderung beschädigt wird. Wir solidarisieren uns mit jenen, die friedlich dafür demonstrieren, dass die rechtsstaatliche Ordnung an den Grenzen unseres Landes wiederhergestellt wird.«

Ein Text des von Bernig gern, freilich eher bruchstückhaft, erwähnten Friedrich Hölderlin möge ihn zum Nachdenken bringen. Hyperion schreibt an Bellarmin:

»So kam ich unter die Deutschen. Ich foderte nicht viel und war gefaßt, noch weniger zu finden. ... Barbaren von Alters her, durch Fleiß und Wissenschaft und selbst durch Religion barbarischer geworden, tiefunfähig jedes göttlichen Gefühls, verdorben bis ins Mark zum Glük der heiligen Grazien, in jedem Grad der Übertreibung und der Ärmlichkeit belaidigend für jede gutgeartete Seele, dumpf und harmonielos. ... Es ist ein hartes Wort und dennoch sag´ ichs, weil es Wahrheit ist: ich kann kein Volk mir denken, das zerrißner wäre, wie die Deutschen. ... Und wehe dem Fremdling, der aus Liebe wandert, und zu solchem Volke kömmt, und dreifach wehe dem, der, so wie ich, von großem Schmerz getrieben, ein Bettler meiner Art, zu solchem Volke kömmt!«

Denn es geht nicht nur um Herrn Bernig. Es geht darum, alle nationalistisch-chauvinistischen Kräfte im gesamten Deutschland in ihre Schranken zu weisen. Es geht darum, den Anfängen zu wehren und den braunen Sumpf auszutrocknen, der unser Land und Europa schon einmal in den Abgrund gestürzt hat. Deutschland ist, in siebzig Jahren, weltweit ein verlässlicher und vertrauenswürdiger Partner geworden. Das ist ein hohes Gut.

 

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