von Helmut Roewer

Inseln im Meer der Okkupation – einige Bemerkungen zu einem lesenswerten Buch

Das Buch ist der jüngste Roman von Jörg Bernig. Es spielt im Hier und Jetzt, und es ist ein Schlag ins Gesicht aller Wohlmeinenden, die Tag für Tag die Metapher Fünf-vor-Zwölf in den Mund nehmen, um ihr Unbehagen zu artikulieren und zugleich ihr Nichtstun zu bemänteln. Nein, in diesem Buch ist es fünf nach zwölf, man sieht die Ergebnisse des wohlsituierten Nichtstuns. Deutschland löst sich in Okkupationsgebiete auf, sein Name darf nicht mehr benutzt werden. Es gibt zwischendrin nur noch diese Ureinwohner-Inseln, in denen die Okkupanten nicht die Oberhand haben. Das ist der Rahmen, in dem die Handlung stattfindet, aber es wird dem Leser erst nach drei, vier Dutzend Seiten bewusst, so normal geht es alles zunächst zu.

Die Heldin des Romans befindet sich auf einer dieser nicht-okkupierten Inseln, im wahrsten Sinne des Wortes, wenn auch auf keiner deutschen, sondern den britischen: Sie hat ein Haus an der walisischen Küste geerbt, in das sie probeweise, wie sie meint, einzieht. Diesen Auftakt muss der Leser überwinden. Mir ging es so, dass ich spontan erschrocken dachte, er, der Autor, wird doch wohl nicht ins Rosamunde-Pilcher-Fach gewechselt haben. Das konnte ich mir beim besten Willen nach dem bisher Gelesenen nicht vorstellen, deswegen las ich geradezu trotzig weiter. War dann auch falsch, der erste flüchtige Eindruck, grundfalsch, gottlob.

Ich werde hier nicht in den Fehler verfallen, die Handlung des Buches auf exposéartige Kürze einzudampfen. Es scheint möglich, wäre aber eine krude Methode, um den Leser auf eine Lektüre einzustimmen. Deswegen nur ein Blick auf die Themenfelder, die der Autor mit Hilfe seiner Protagonistin abschreitet: Es geht vordergründig um Emigration, um die Suche nach einem neuen Ankerplatz, um das allmähliche Kappen der Taue, die noch mit dem Heimathafen verbinden. Und dann um so ganz banale Dinge wie Liebe, Verrat und Tod. Und nicht zu vergessen: Es geht um das Meer, diesen gewaltigen und auch gewalttätigen Nachbarn des Menschen.

Jedes Mal im Laufe des Lesens, wenn ich an dem Punkt angekommen war, an dem ich dachte, jetzt müsste eigentlich zügig der Schlusssatz kommen, öffnet der Autor ein neues Fenster. Nicht mit der Brechstange, sondern er lenkt den Blick darauf, dass die Handlung auch ganz andere Aspekte aufzuweisen hat. Beispiel: Die Reflexionen der Heldin über Leben und Ende der Eltern führt schonungslos in die DDR-Vergangenheit zurück. Auch dort das Leben in Gesinnungsinseln der vom System Enttäuschten und schließlich Degradierten, die nach der Wende die Erfahrung machen müssen, dass das neue Deutschland, das so verheißungsvoll schien, ihnen keinen Platz bietet, so als wären sie aus der Zeit gefallen. Nein, falsch geraten, dieses ist kein Jammer-Ossi-Buch. Die Gestrandeten werden registriert, die Entfernung der Tochter von den in ihrer Trauer eingesperrten Eltern wird eher verstehend mitgeteilt, denn bedauert.

Die Reflexionen kommt nicht aus dem Nichts, denn die Heldin hat allen Anlass über ihre Rolle als Außenseiterin nachzudenken. Schritt für Schritt begleitet der Leser sie zudem bei ihren Bemühungen, über den Erblasser des Hauses Erkundigungen einzuziehen, einen britischen Germanistik-Professor. Einige Funde im Haus weisen ihr den Weg zu dessen Gastdozenten-Intermezzo in Leipzig, wo er die Eltern kennenlernte. Und die Mutter lieben. Das wird fast notwendig eine schräge Sache, denn der Gast ist zutiefst von der Religion des Sozialismus durchdrungen, sein deutsches akademisches Umfeld ist dies nicht. Das wird dann, als die Staatsmacht sich an ihn wendet, schlimme Folgen haben.

Ein weiteres Fenster öffnet sich, als die Heldin sich entschließt, Kontakt zu einer verflossenen Freundin aufzunehmen, die dem verfallenden Berlin durch Flucht auf den elterlichen Bauernhof in der Lausitz entkommen ist. Die Neu-Waliserin reist im Sommer zu Besuch dorthin. Es ist eine weitere Insel. Irgendwie unberührt von den neuen Gewalten in den Okkupationsgebieten, denen dort die Macht widerspruchslos übergeben worden ist. Eingekleidet in schöne Worte, die dem Leser sehr bekannt vorkommen werden. Wie das letztlich ausgehen wird, wenn die Anspruchsteller bemerkt haben werden, dass man statt des Erreichten auch alles bekommen kann, das bleibt ungesagt.

Immerhin gestattet der Autor gegen Ende des Romans den beiden Freundinnen einen Besuch im Schlesischen, heute würde man sagen: im deutsch-tschechisch-polnischen Grenzdreieck. Dort versammelt sich ungefragt und gegen den ausdrücklichen Wunsch der in Berlin eingebunkerten Rest-Obrigkeit die Jugend Europas zu keinem anderen Zweck als dem, zum Ausdruck zu bringen, noch da zu sein. Diese fröhliche Jugend bemerkt, dass die Obrigkeit keine Mittel mehr besitzt, ihren Willen durchzusetzen. Ein schönes Abschlussbild. Gewiss.

Nachgeschmack: Während ich den Text noch einmal überdenke und korrigiere, marschieren Tausende durchs Ruhrgebiet. Sie fordern lautstark und auf mitgeführten Parolen die Errichtung des Kalifats. Die Polizei von Nordrhein-Westfalen verlautbart anschließend, sie sei überrascht worden, auch seien im Nachhinein die Aufmärsche nicht wegen eines verfassungsfeindlichen Inhalts zu beanstanden. Soso.

Die amtliche Äußerung ist falsch, denn die Forderung nach einem Kalifat in Deutschland ist mit keinem möglichen Aspekt des Grundgesetzes in Einklang zu bringen – schon gar nicht der Religionsfreiheit. Es ist, um es unmissverständlich zu sagen, in nuce der Ruf nach Beseitigung des im Grundgesetz konzipierten Staates und seiner deutschen Gesellschaft. Strafrechtlich gesehen, handelt es sich um Hochverrat. Die Konsequenz heißt: Diese Typen haben bei uns nichts verloren. Es gibt kein wie auch immer fabuliertes Menschenrecht auf Beseitigung unserer deutschen Verfassungs-Ordnung, mag sie im Moment auch noch so beschädigt sein.

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