von Johannes R. Kandel

Der Autor (Jahrgang 1971), Philosoph, Germanist und Soziologe und bereits mit einigen Veröffentlichungen in seinem Fach hervorgetreten, macht es dem geneigten Leser nicht einfach. Dieser muss sich erst, insofern nicht vom Fach, in die tiefendimensionierte philosophisch-soziologische Sprache einlesen. Gelingt dies, dann wird er größten Gewinn aus dieser ambitionierten Analyse eines erstaunlichen und verstörenden Vorgangs in unserer Gesellschaft ziehen. Es gelingt ganz offensichtlich einer »Phalanx aller gesellschaftlichen Akteure von den Parteien bis zum Bildungssystem, von den Kirchen bis zu den Gewerkschaften, von den Industrieverbänden bis zu den Nichtregierungsorganisationen« eine politische Agenda durchzusetzen, die »den Interessen der Mehrheit eklatant widerspricht« und deren »zerstörerische Folgen« offensichtlich sind (S. 7). Wie ist das möglich? Esders begründet das mit der Existenz eines umfassenden »Sprach- und Deutungsregime[s]«, das in der Lage ist »Evidenzen« zu liefern gegen die empirische Widerlegungen keine Chance haben. Ein sich immer stärker artikulierender »smarter Totalitarismus der Vielfalt und Differenz« bediene sich eines Sprachregimes, das in dreifacher Weise funktioniere: Da Macht auch immer »Definitions-und Deutungsmacht« sei, bilde es »Wahrheitssysteme« aus, entkoppelt und entortet von der empirischen Realität (I). »Narrative der Hypermoral« erzeugten einen Zwang zur Personalisierung und förderten schon »strukturell eine schrankenlose Gesinnnungsethik« (II). Und schließlich: die postmoderne Linke schaffe eine »Matrix der Differenz«, die alle Formen von Identität und »kollektivem Selbst« unter Generalverdacht stelle (III). (S.9). Einem Kritiker und Kenner der Geschichte und Entwicklung von Totalitarismustheorien wird gewiss die Formel vom ›smarten Totalitarismus‹ übel aufstoßen. Es hätte auch dieses Ausdrucks gar nicht bedurft, um deutlich zu machen, wie sich ideologisch konstruierte Wahrheitssysteme von der Realität abdichten und abkapseln (Hanna Arendt). Aber davon abgesehen, gelingt es dem Autor insgesamt mit brillianten Formulierungen, die sich bisweilen zu einem Wort- und Satzmanierismus steigern, seine grundlegende Hypothese von der Existenz eines ›Sprachregimes‹ plausibel zu belegen.

Er präsentiert zahlreiche aktuelle Beispiele, wie sprachliche Konstruktionen und Deutungen zu unbezweifelbaren ›Wahrheiten‹ verfestigt und die Kritiker derselben mit einer Fülle stigmatisierender Kategorien belegt werden, die sich bis zum ubiquitären Totschlagsattribut ›Nazi‹ steigern können. Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer sprach im Zusammenhang mit den vermeintlichen ›Hetzjagden‹ von Chemnitz im August 2018 überaus entlarvend von einem »Angriff auf unsere Wahrheitssysteme«. Kretschmer und seine politischen Freunde halten Wahrheit offensichtlich nicht nur für konstruierbar, sondern versehen ihr Konstrukt sogleich mit unbedingtem »Geltungsanspruch und Verteidigungsauftrag« (S. 10). Wer dagegen aufmuckt, dem wird von höchster politischer Warte entgegnet, er müsse eben mit Widerspruch leben (Angela Merkel) und solle sich nicht über Einschränkungen der Meinungsfreiheit beklagen. Unverhohlen forderte ein Kolumnist und Blogger in einer Talkshow, man müsse eben bestimmte politische Meinungen ›regulieren‹. Dieser ›Regulierung‹ fiel der damalig amtierende Präsident des Verfassungsschutzes Hans-Georg Maaßen zum Opfer, weil er anstatt die Macht der ›Bilder‹ zu beschwören handfeste Evidenzen für ›Hetzjagden‹ einzufordern sich erdreistet hatte. Die Protagonisten der von ihnen geschaffenen hermetischen Wahrheitssysteme nutzen eine breite Palette von Narrativen, Diskurstechniken und Mythologisierungen, die Esders ausführlich beschreibt und glänzend analysiert: z.B. das »Willkommenskultur«- und »Bereicherungsnarrativ«, das Klimanarrativ mit apokalyptischen Szenarien (»Gretas Heldenfahrten«, S. 75ff.), die Diskursverweigerung gegenüber Kritikern mit Verdikten wie »Hass ist keine Meinung« und ein grünes »Mythenmanagement«: »Das Erfolgsrezept der Grünen ist eine Mischung aus hochflexiblem Mythenmanagement, religiösem Synkretismus, einer fein austarierten Schuldökonomie und alternativem Lifestyle« (S. 74). Die Personalisierung des Bösen wird mit der Metapher vom inzwischen sprichwörtlichen »alten, weißen, westlichen Mann« konstruiert, dessen hartnäckiger Verweigerungshaltung im Blick auf Rassismus, Gender, Multikulturalismus und ›Diversität‹ entschlossen entgegengetreten werden muss. So stilisiert sich die grüne Bewegung selbst zum »Hohepriester und Heilsbringer« der Weltrettung (S.75).

Sehr aufschlussreich und treffend sind seine Ausführungen zur »Matrix der Differenz« (S.89ff.). Die »postmoderne Linke« habe das »wohl mächtigste Sprachregime der Gegenwart« etabliert: Ihr sei »es gelungen, aus Versatzstücken des Poststrukturalismus und der Dekonstruktion eine Sprach- und Diskursmaschine zu konstruieren, die ihr für Dekaden eine unangefochtene Deutungshoheit« gesichert habe (S.89). Inspiriert von französischen Denkern wie Foucault, Deleuze, Guattari und vor allem Derrida sowie von den legendären ›68ern‹ politisiert, hat sich die postmoderne Linke mit »einem unbeirrbaren Sendungsbewusstsein und einer unerschütterlichen Selbstgewissheit« ausgestattet, um nunmehr »alles zu bekämpfen, was sich nicht auf Vielfalt, Differenz und Diversität vereidigen lässt« (S. 91). Hier finden wir die Grundimpulse für die Politiken des Genderismus (›Gender Studies‹), der ›Antidiskriminierung‹, der ›Political Correctness‹, des Kulturrelativismus, des ›Antikolonialismus‹ (mit seinem Urvater Franz Fanon) und des ›Antifaschismus‹. Mit letztem amnestierte die postmoderne Linke, nachdem sie den verstörenden Zusammenbruch des Kommunismus einigermaßen überwunden hatte, auch noch den Stalinismus und andere rote Terrorregime (Pol Pot). Das Bewährte, Überkommene, Loyalität und Identität verbürgende (z.B. Familie, Volk, Nation, Kultur und Geschlechtsidentität) verfällt letztlich dem Bannfluch und muss als »gefährliches Konstrukt« nicht nur ›dekonstruiert‹, sondern mit ›emanzipatorischer‹ Emphase aufgelöst und beseitigt werden. Selbst die Habermassche kritische Kommunikations- und Gesellschaftstheorie verfällt der Kritik, denn der auf normativen Konsens zielende herrschaftsfreie Diskurs (z.B. durch Mehrheitsentscheidung und soziale Übereinkunft) wird als »Überwindung der Verschiedenheit« denunziert. Doch, so schreibt der Autor treffend, wer »von Differenz durchdrungen ist, kann sich die Diskussion auch ganz ersparen« (S.107). Dabei huldigen die engagierten linken Kritiker des »Essentialismus« identitätsphilosophischer Konzepte selbst einem »punktuellen und selektiven Essentialismus«, indem die Identitäten von Minderheiten rigoros gegen die Mehrheitsgesellschaft in Stellung gebracht werden (S. 112). Dafür gibt es viele Beispiele. Der Autor nennt hier z.B. den Islam, der zwar von den linken Positionen (Inklusion, Gendertheorie, Poststrukturalismus) nicht einmal entfernt berührt ist, gewissermaßen aber unter Artenschutz gestellt wird.

Was lässt sich nun, angesichts der Dominanz des herrschenden Sprachregimes, schlussfolgern bzw. entgegensetzen? Von einem promovierten Philosophen wird der Leser schwerlich einen Katalog gesellschaftlich-politischer Handlungsstrategien erwarten können. Zwar ist mit den sozialen Medien so etwas wie eine digitale Gegenöffentlichkeit entstanden, die immerhin die Chance bietet mit alternativen Semantiken und Diskursen wider den Stachel des Sprachregimes zu löcken, gleichwohl hat auch diese ihre Nachteile. Denn wer sich »dem Zugriff der Diskurswächter zu entwinden versucht, liefert sich den algorithmischen Wortverwertern der Digitalökonomie umso mehr aus« (S. 131). Das sieht Esders m.E. zu pessimistisch, denn zahllosen Facebook und Twitternutzern sind die Zensur- und Manipulationseingriffe der digitalen Ökonomie nicht nur wohlbekannt, sondern sie haben sie auch praktisch erfahren. Sie haben gelernt, damit umzugehen, denn so hermetisch und totalitär ist das System nicht. Es bleiben Nischen und Reste zu realitätsgerechter und kritischer Kommunikation. Es bleibt offen, ob die Hoffnung des Autors auf eine »unverfügbare Sprachschicht, die dem Zugriff des Bedeutungsregimes entzogen« sei »und sich allen Steuerungs- und Manipulationsversuchen widersetzt« (S. 130) eine Chance zur Realisierung besitzt. Letztendlich setzt Esders darauf, dass die »Realitätsresistenz der Wahrheitssysteme« nicht unbegrenzt ist und die hohen Kosten des Konstruktivismus bedacht werden müssen. Realität sei schließlich kein »qualitativ unbestimmtes Material, keine beliebig verformbare Masse« (S.133). Allein die Macht der Realität mit z.B. ökonomischen Krisen, Verteilungskämpfen, zusammenbrechenden Sozialsystemen, Vertiefung innerer Parallelgesellschaften und gewaltsamen kulturellen Konflikten könnte das Deutungssystem beschädigen oder gar erodieren lassen. Nicht gerade tröstlich ist am Schluss der Hinweis des Autors, dass die Verteidiger des Deutungssystems angesichts der zunehmenden Schwäche oder gar Zusammenbruch desselben zu offener Repression und Gewalt übergehen könnten. Aber damit sei noch nicht zu rechnen, da die Macht des Deutungssystems durch die »punktuelle Offenlegung seiner Wirkungsweise« nicht gefährdet sei (S. 135).

Trotz des elegischen Schlusses des Buches, sollten sich kritische Zeitgenossen nicht davon abhalten lassen, diese höchst anregende Studie zum philosophischen und gesellschaftlichen Hintergrund der Existenz und Wirkungsweise eines Sprach- und Deutungsregimes zu lesen.

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