von Eckhard Stratmann-Mertens

Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise, die nicht nur in Deutschland, sondern auch im Europa der EU und auf dem Balkan zu erheblichen politischen Spaltungstendenzen geführt hat und weiterhin führt, erschien (Februar 2016) eine Publikation, die die Moralbegründungen der miteinander in Konflikt liegenden Positionen gegenüberstellt und jeweils kritisch hinterfragt.

Ihr Ziel ist es, einen Beitrag zum inneren Frieden der in der Frage der Zuwanderung gespaltenen Bürgerschaft zu leisten; dazu lädt sie zu einer diskursiven, rationalen Auseinandersetzung über die konkurrierenden Moralauffassungen ein und bietet dadurch den interessierten BürgerInnen eine Orientierungshilfe für ihre politische Positionierung an.

Der Autor des Essays, Konrad Ott, ist Professor für Philosophie mit Schwerpunkt Ethik an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Er ordnet die vielfältigen Argumente in der Kontroverse um die richtige Flüchtlings- und Migrationspolitik im Anschluss an Max Weber idealtypisch den zwei Grundlinien Gesinnungsethik – eher prinzipienorientiert – versus Verantwortungsethik – eher pragmatisch-folgenorientiert – zu. Seine gut lesbare Darstellung einschließlich der Erläuterung wichtiger Begriffe beansprucht, mithilfe eines umfangreichen Anmerkungsapparates samt Literaturhinweisen zugleich einen wissenschaftlichen Grundlagenbeitrag für die Flüchtlings- und Migrationsethik zu bieten.

Grundlegend für den Essay ist die Unterscheidung zwischen Flüchtlingen, die Schutz vor unzumutbaren Lebensbedingungen in ihren Herkunftsländern suchen, und Migranten, die um besserer Lebensbedingungen willen auswandern. Das erste Hauptkapitel widmet sich der gesinnungsethischen Fundierung der weithin propagierten und praktizierten Willkommenskultur für Flüchtlinge (Refugees Welcome). In strenger Folge von formallogischen Argumentationsschritten wird nachgezeichnet, wie aus der Staatspflicht, Flüchtlingen zu helfen, eine menschenrechtliche Schutzrechtsposition der Flüchtlinge (Asylrecht, Genfer Flüchtlingskonvention) gefolgert wird. Die gesinnungsethische Position der beiden großen christlichen Kirchen mit Berufung auf die Bibel wird theologisch reflektiert. Es wird plausibel aufgezeigt, wie mit dem Schutzrecht für Flüchtlinge durch die Ausweitung der Fluchtgründe und die Sicherung von Fluchtwegen eine schiefe Ebene begangen wird, an deren Ende der Unterschied zwischen Flucht und Migration weitgehend eingeebnet ist und die Option ›offene Grenzen für alle‹ eröffnet wird. Bei jedem einzelnen Argumentationsschritt werden verantwortungsethisch die absehbaren Folgen für die Aufnahmegesellschaft dargelegt, im Falle offener Grenzen eine unbegrenzte und dadurch nicht mehr erträgliche Zuwanderung.

Konrad Ott sieht als Fundament der Gesinnungsethik einen ›normativen Individualismus‹, der einen ethischen Vorrang vor Belangen von Kollektiven (Völkern, Staaten usw.) beansprucht. Eine logische Konsequenz einer solchen Position sei schließlich die Forderung nach ›open borders‹ und einem faktischen Bleiberecht für (fast) alle Flüchtlinge, wie sie von manchen Ethikern und von Teilen der Neuen Linken vertreten wird.

Im zweiten Hauptkapitel bearbeitet der Autor zentrale Konfliktfelder der Flüchtlings- und Migrationspolitik unter verantwortungsethischen Gesichtspunkten, u.a. die sog. open-border-These, die Problematik von Ausländergesetzen, Rückführung von abgelehnten Asylbewerbern, Fremdenfeindlichkeit und die Problematik der Integration von Zuwanderern. Man spürt, dass der Autor mit etlichen Politikvorschlägen einer eher verantwortungsethischen Position zuneigt. Dabei fällt auf und ist auch dem Autor als Defizit bewusst, dass eine solche Haltung sich nicht so klar auf Prinzipien und ausformulierte Argumentationsstränge beziehen kann wie die Gesinnungsethik. Dies zeigt sich deutlich bei einer ethiktheoretischen Schlagseite in der Darstellung. Ott grenzt die Verantwortungsethik von den erstarkenden rechtspopulistischen Parteien in der EU und in Deutschland ab. Während er sich aber intensiv und kritisch mit der Politik der open borders in Teilen der Neuen Linken auseinandersetzt, unterbleibt eine entsprechende Auseinandersetzung mit den Theoremen oder Thesen der National-Konservativen und der Neuen Rechten. Dabei wäre es für eine Ethik der Flüchtlings- und Migrationspolitik grundlegend, das Spannungsfeld auszuloten zwischen einem ›normativen Individualismus‹, der die Menschenrechte ins Zentrum stellt, und einer Ethik von ›Gemeinschaftsrechten‹, die die Rechte von Völkern und Staaten betont. Dieses Defizit zeigt sich besonders im Abschnitt über ›Integration‹, deren Probleme doch recht unterkomplex abgehandelt werden.

Alles in allem ist der Essay ein ausgesprochen hilfreicher Leitfaden zur Orientierung in dem hochkomplexen und spannungsgeladenen Konfliktfeld der Flüchtlings- und Migrationspolitik. Es wäre künftigen LeserInnen zu wünschen, dass in absehbarer Zeit eine zweite Auflage erscheinen wird, die die bezeichnete Unausgewogenheit ausgleicht und zudem durch ein größeres Format ein Mehr an Lesefreundlichkeit bietet.

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