von Gerd-Rainer Horn

1989 schrieben die Weltsystemtheoretiker Giovanni Arrighi, Terence K. Hopkins und Immanuel Wallerstein die vier kurzen Sätze: »Es gab nur zwei Welt-Revolutionen. Die eine fand 1848 statt, die zweite 1968. Beides waren historische Misserfolge. Und beide veränderten die Welt.«1 Selbst wenn man die These der Singularität dieser beiden transnationalen Revolten nicht ganz teilt, und selbst wenn die ganze historische Bedeutung von 1968 nur im Nachhinein offenbar werden wird, vielleicht in fünfzig oder hundert Jahren, so ist die in dieser Passage zum Ausdruck kommende Stimmung absolut angemessen. 1968 bedeutet eine herausragende Zäsur in der Geschichte des modernen Europas – so wie die Jahre 1905, 1917, 1934, 1945 oder 1989.

Die Schwierigkeiten beginnen, wenn wir zu bestimmen versuchen, was genau sich verändert hat. Wenn überhaupt, dann haben sich nur wenige der systemtranszendierenden Ziele der Bewegungsaktivisten der transnationalen Ereignisse von 1968 in konkrete Realität umgesetzt. Weder im Osten noch im Westen der ehemaligen Kalten-Kriegs-Teilung nahmen der Sozialismus mit menschlichem Antlitz oder die partizipative Demokratie mehr als eine vorübergehende, flüchtige Gestalt an. Sicherlich beendeten die Revolutionen von 1989 mehr als zwanzig Jahre später die Ära einer durch eine beschränkte bürokratische Elite von oben nach unten organisierten hierarchischen Kontrolle der Gesellschaft. Doch nichts könnte vom Geist des Prager Frühlings weiter entfernt gewesen sein als die umfassende Einführung des freien Unternehmertums, des Marktfetischismus und anderer Maßnahmen, maßgeschneidert, um die Atomisierung der Gesellschaft in anscheinend anonyme, angeblich unkontrollierbare Mächte zu verewigen: früher die stalinistische Nomenklatura und nun die Kommandostrukturen des internationalen Finanzkapitals und ihrer lokalen politischen Handlanger.

Westeuropa hat in den vergangenen 40 Jahren sogar noch weniger greifbare Systemveränderungen aufzuweisen. Auch hier haben zwar in weniger als zehn Jahren nach 1968 mit Portugal, Spanien und Griechenland drei mediterrane Diktaturen – Hilfsstützen der vermeintlich freien Welt von 1968 – den Weg frei gemacht für liberale Freiheiten, in denen die Bürgerrechte weitgehend respektiert werden. Doch die westeuropäischen Aktivisten von 1968 hatten höhere Ziele.

Eine kleine Industrie akademischer und populärer Schriften über 1968 legt stattdessen nahe, dass die entscheidenden Errungenschaften von 1968 im kulturellen Bereich zu finden sind. Europäische Länder entwickelten sich von Gesellschaften, die in den 50ern noch immer ganz durchtränkt waren mit konservativen christlichen Werten, zu mehr kosmopolitischen Gemeinschaften. Nach und nach fielen zahlreiche, von restriktiven Gesetzen gestützte Tabus beiseite und schufen einen für die Öffentlichkeit bis dahin kaum gekannten Raum der offeneren Beschäftigung mit kontroversen Themen. Traditionelle Werte der Kindererziehung – Gehorsam, Ordnung und Sublimierung – wurden abgelöst durch Werte wie gegenseitiges Verständnis, Kooperation und Toleranz. Die noch immer beste Zusammenfassung dieser Sicht auf die Auswirkungen von 1968 findet sich im Werk des späten Arthur Marwick: The Sixties, in dem dieser ein leidenschaftliches Plädoyer für die im Zuge der langen Sechziger erfolgten Veränderungen auf den Gebieten zwischenmenschlicher Beziehungen, individueller Freiheiten und der Wahl von Lebensformen präsentiert.

Es wäre absurd, den realen Gehalt dieser zwischen den späten 50ern und Mitte der 70er stattgefundenen kulturellen Revolution zu bestreiten. Die diesbezüglichen Argumente drehen sich um die Frage, welche Faktoren für diese kulturelle Revolution verantwortlich zeichnen. Waren diese Veränderungen vielleicht nur bereits in Gang gesetzte Evolutionen, die von den Konflikten um 1968 herum lediglich beschleunigt wurden? Was war der wichtigere Einfluss auf die Revolution der sexuellen und, später, der Geschlechter-Beziehungen: die neue Frauenbewegung oder die Einführung der Pille? War nicht die steigende Autonomie der jungen Leute vor allem ein Ergebnis des gleichzeitigen Wohlstandswachstums? Hat 1968 nicht Konflikte verdichtet, die sich unter der Oberfläche bereits bemerkbar machten?

Letzen Endes tragen die Anhänger der These von der Kulturrevolution entscheidend zur Demystifizierung von 1968 bei, was einerseits nur gut tun kann. Indem sie jedoch die konkreten Beiträge der 68er Jahre zur politischen Kultur der verschiedenen europäischen Länder relativieren, minimieren andererseits die oft wohlmeinenden Vertreter dieser kulturalistischen Sicht die bedeutende politische Dimension von 1968. Weil praktisch niemand mehr übrig geblieben ist, der leugnen würde, dass die unmittelbaren politischen Herausforderungen von 1968 weitgehend gescheitert sind, wird dem lesenden Publikum suggeriert, dass 1968 vollkommen überflüssig gewesen ist: Hätte sich der Mai 1968 nicht ereignet, hätte sich die europäische Nach-68er Geschichte weitgehend entlang der Route entwickelt, die sie genommen hat.

Vor dreißig Jahren, mitten in der ersten Welle der Nach-68er-Sozialgeschichte, konnte man plötzlich eine Reihe von Stimmen vernehmen, die zu beklagen begannen, dass die Sozialgeschichte – eine Wissenschaftsdisziplin, die eng mit einer Reihe von aus der sozialen Bewegungskultur des roten Jahrzehnts von 1966-1977 kommenden Historikern verbunden ist – in der Gefahr stehe, deren politisches Projekt abzuwerfen. Sozialgeschichte zu schreiben und deren Politik außen vor zu lassen, wäre, so hieß es, den Wald vor lauten Bäumen nicht mehr zu sehen.2 Doch eine noch jüngere Generation von Historikern, jene Generation, die in den 80ern aufwuchs und oftmals von der mit dem Geist von 68 verbundenen Generation von Sozialgeschichtlern ausgebildet wurde, hat diese Warnungen nicht gerade beachtet. Reichlich unbekümmert von dem, was vor ihnen war und selbst selten Teil der damals existierenden, systemkritischen sozialen Bewegungen praktizierten diese Früchte der Sozialgeschichte die Sozialgeschichte einzig um der Sozialgeschichte willen.

Die Kulturgeschichte, ganz besonders die mit postmodernen Theoremen reichlich durchsetzte so genannte neue Kulturgeschichte, bot sich einer politikfreien Diskussion historischer Prozesse und Ereignisse noch leichter an als die neue Sozialgeschichte der 70er und 80er Jahre. Und so konnte selbst Arthur Marwick, obwohl selbst kein Freund des Postmodernismus, mit einer triumphierenden Geste im Angesicht der Politik von 68 schreiben: »Es gab keine ökonomische Revolution, keine politische Revolution, kein Aufstieg des Proletariats an die Macht, keine klassenlose Gesellschaft, keine Zerstörung der Mainstream-Kultur, keine Vernichtung der Sprache.«3 Ohne die oftmals geltend gemachte Realität einer Kulturrevolution bestreiten zu wollen, sei diese nun gezielt gewollt oder ein mehr oder weniger automatisches Nebenprodukt größerer gesellschaftlicher Veränderungen, ist es höchste Zeit, der systemtranszendierenden Dimension von 1968 neue Beachtung zu schenken.

Ohne Hegel nahe treten zu wollen, ist nicht alles vernünftig was wirklich ist. Das wirklich radikalste Potential von 1968 liegt gerade im Aufzeigen der Möglichkeiten einer anderen Organisation des gesellschaftlichen Lebens in Europa und anderswo. 1968 hat den Finger gelegt auf die historischen Alternativen zu den vorherrschenden Mustern der Politik, der Organisation von Produktion und der Gestaltung moderner Kultur. Wenige dieser anfänglichen historischen Alternativen – dass sollte man nie müde werden zu wiederholen – sind damals in konkrete Realität umgesetzt worden. Doch in einer Zeit, als zahllose Fachgelehrte nicht müde wurden, das vermeintliche Ende aller Ideologien zu verkünden, belebten die 68er Jahre den Glauben an die Möglichkeit, eine unentfremdete Gesellschaft zu errichten, frei von unnötigen Hierarchien, ungewollten Autoritäten und mehr oder weniger erblichen Eliten, die die Diskurse in den meisten Gesellschaftsschichten monopolisieren.

Hier ist nicht der Raum für eine detaillierte Beschreibung der konkreten Niederschläge des Geistes von ’68.4 Ich möchte hier nur die kreativen Energien hervorheben, die in den zahllosen Beispielen einer institutionalisierten partizipativen Demokratie in den gesellschaftlichen Kämpfen der langen Sechziger freigesetzt wurden. Die Unmenge von Generalversammlungen, Kommissionen und Subkommissionen, die auf der Höhe gesellschaftlicher Konflikte in spätindustriellen Universitäten, Betrieben und Bürokomplexen bestimmte Aufgaben ausführten – westlich wie östlich des Eisernen Vorhangs – sind legendär, aber nicht weniger real. Die Tatsache, dass in diesen zahllosen, in der Hitze des Gefechtes errichteten Gegeninstitutionen individuelle Stimmen zu vernehmen waren, die sich zuvor niemals in der Öffentlichkeit zu sprechen getraut hatten, war ein viel versprechender Erfolg für sich selbst. Studenten, die sich in Seminarräumen und Hörsälen niemals zu sprechen getraut hatten, wurden dabei gehört, wie sie komplexe Gedanken in kurzen und präzisen Sätzen formulierten. Arbeiter, die niemals ihre Meinung gesagt hatten, außer in nächtlichen Kneipensitzungen, entdeckten plötzlich die Macht der Rede. In den Worten Rino Brunettis, eines süditalienischen Arbeitsmigranten in einem Turiner Betrieb: »Unsere verkümmerten Gehirne erinnerten mich an jene Vögel, die man in Käfigen hält, und die, wenn man sie freilässt, nicht mehr wissen, wie man fliegt. Ich war von Traurigkeit überwältigt und sagte mir selbst: Um Gottes willen! Wir wissen nicht mehr, wie wir unsere Gehirne benutzen können, weil sie irgendwas blockiert. Dann, 1969, begannen sie plötzlich wieder zu funktionieren. Wir zerbrachen den Käfig und begannen wieder zu fliegen.«5 Es war ein außerordentlicher Prozess individueller und kollektiver Befreiung, die der französische Anthropologe und linke Katholik Michel de Certeau die »Rückeroberung der Sprache« nannte. »Letzten Mai«, schrieb er Ende 1968, »wurde die Sprache gestürmt wie 1789 die Bastille gestürmt wurde (…) Zur selben Zeit, als einstmals selbstbewusste Diskurse [der Eliten] verschwanden und die Autoritäten zur Ruhe verurteilt wurden, schmolzen gefrorene Existenzen und erwachten plötzlich zu produktiven Leben.«6

Frauen, gleichermaßen aktiv wie Männer in den meisten Kämpfen jener Zeit, aber selten als Sprecherinnen der emanzipativen Bewegungen, die sie Seite an Seite mit Männern bildeten, erkannten den Moment und begründeten die neuen feministischen Bewegungen – gleichermaßen Produkte der männerdominierten Sozialbewegungen jener Zeit wie Reaktionen auf sie. Die Bewegungen der Anti-Psychiatrie, in manchen Ländern von besonderer Bedeutung, waren Teil des Geistes von ’68. Bewegungen für die Rechte von Gefangenen waren nicht länger einsame Stimmen in der Wüste. Die Schwulen- und Lesbenbewegungen folgten den Anliegen der Frauen und adoptierten instinktiv, wie die Feministinnen, Namen für ihre aufkeimenden Organisationen (Befreiungsbewegungen), die zuvor, in den 50er Jahren, die exklusive Sache der Befreiungsbewegungen der Dritten Welt waren.

Diese Liste könnte fortgeführt werden. Doch klar geworden ist, dass 1968 Energien freigesetzt hat, die zuvor auf vielerlei Wegen hinterrücks unterdrückt wurden. Eine große Zahl von Individuen experimentierte mit gesellschaftlichen Organisationsformen, die in früherer Zeit die exklusive Beschäftigung einsamer Theoretiker gewesen sind. Eine weniger hierarchische, mehr kooperative, weniger autoritäre und mehr solidarische Gesellschaft erschien im Bereich des Möglichen. Dass solche Visionen Visionen blieben und schnell wieder verschwanden, als der Status Quo nach 1968 wieder hergestellt war, sollte nicht unsere analytischen Fähigkeiten benebeln, solche Antizipationen qualitativ anderer Formen gesellschaftlicher Interaktion wahrzunehmen, wo sie stattfanden.

Ja: »Es gab keine ökonomische Revolution, keine politische Revolution, kein Aufstieg des Proletariats an die Macht, keine klassenlose Gesellschaft, keine Zerstörung der Mainstream-Kultur, keine Vernichtung der Sprache.« Aber vergessen wir nicht die weniger pessimistischen Worte der drei Gelehrten, die ich zu Beginn zitiert habe: »Es gab nur zwei Welt-Revolutionen. Die eine fand 1848 statt, die zweite 1968. Beides waren historische Misserfolge. Und beide veränderten die Welt.« In einer Zeit, in der die Rede vom Ende der Ideologien dem Scherz vom Ende der Geschichte Platz gemacht hat, ist es nützlich, uns selbst an eine Zeit der jüngsten Geschichte zu erinnern, als zahllose namenlose Individuen alles wollten und als alles möglich schien.

Der Beitrag erschien zuerst in Heft 3/2008 von Contemporanea. Rivista di storia dell'800 e del'900 (Bologna). Übersetzung aus dem Englischen von Christoph Jünke.

1 Giovanni Arrighi, Terence K. Hopkins und Immanuel Wallerstein: Antisystemic Movements, London 1989, p. 97 (Hervorhebung im Original).

2 Vgl. vor allem Geoff Eley und Keith Nield: »Why Does Social History Ignore Politics?« in: Social History 5/2 (1980), pp. 249-272; sowie Tony Judt: »A Clown in Regal Purple: Social History and the Historians«, in: History Workshop Journal 7 (Spring 1979), pp. 66-94.

3 Arthur Marwick, The Sixties: Cultural Revolution in Britain, France, Italy, and the United States, c.1958-c.1974 (Oxford 1998), p. 805.

4 Vgl. dazu Gerd-Rainer Horn: The Spirit of ’68, Oxford 2007.

5 Zitiert nach Marco Revelli: Lavorare in FIAT: da Valletta ad Agnelli a Romiti. Operai Sindacati Robot, Milano 1989, p. 50.

6 Michel de Certeau: La prise de parole et autres écrits politiques, Paris 1994, pp. 40-41.

 

 

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