Wie man einen Genossen abräumt und hernach erfolgreich die Tat verschleiert – der Mord am Leningrader Parteichef Sergej Kirow am 1. Dezember 1934

Von Helmut Roewer

Am Anfang stand ein Mord. Das Opfer war der Genosse Sergej Kirow, der am 1. Dezember 1934 tot im Smolny in Leningrad lag. Wir erinnern uns, das ehemalige Mädchenpensionat war im Herbst 1917 die Versammlungsstätte der Bolschewiki gewesen. Von hier aus hatten Lenin und die seinen die Flamme der Weltrevolution in das eigene Land getragen. Im Frühjahr 1918 allerdings war man aus Furcht vor einer Besetzung Petrograds durch deutsche Truppen mit der Regierung der Volkskommissare und dem Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Russlands (Bolschewiki) nach Moskau ausgewichen.

Jetzt, 1934, residierte im Smolny der in dieser Gegend allmächtige Gebietssowjet der KPR(B). An seiner Spitze hatte der Ermordete als dessen Sekretär gestanden. Er war zudem Mitglied des Politbüros der WKP(B). Nun lag er tot auf dem Teppich des Vorzimmers. Er war mit einem Nagan-Revolver erschossen worden. Das war ein starkes Stück. Der Smolny war scharf bewacht, und ohne Erlaubnisschein konnte ihn niemand betreten, denn die seit anderthalb Jahrzehnten herrschenden Bolschewiki wussten sehr wohl, dass sie ihre Spitzenfunktionäre vor dem Volk schützen mussten.

Der Tod des leitenden Genossen Kirow war auch deswegen ein starkes Stück, weil er offenbarte, dass es überhaupt möglich war, an einem Repräsentanten der Arbeiter- und Bauerndiktatur ein solches Verbrechen zu begehen. Das war ideologisch schwierig zu begründen in einem Land, in dem es nach der Propagandaform von zufriedenen Menschen nur so wimmelte, zumal man sich anschickte, den Sozialismus auf Erden zu verwirklichen.

So war die Tat Anlass genug, dass sich der Führer der Sowjetunion, der Genosse Josef Stalin, unverzüglich auf den Weg machte, um höchst selbst die Untersuchung zu leiten. Wie nicht anders zu erwarten, wurde der Schuldige alsbald dem Volke präsentiert. Der Genosse Stalin hatte erwartungsgemäß ganze Arbeit geleistet, er selbst hatte die Vernehmung durchgeführt. Jetzt lag ein Geständnis vor, und man hätte zur Tagesordnung übergehen können. Doch ganz so einfach lagen die Dinge nicht.

Der Täter, der dem angeblich empörten Volk präsentiert wurde, hieß Leonid Nikolajew. Bis hierhin stimmen alle Schilderungen noch im Wesentlichen überein. Doch spätesten von jetzt an muss man alles andere mit mehr als einem Fragezeichen versehen. Eine Version der Geschichte ging so weiter: Nikolajew war ein kleiner Funktionär der Kommunistischen Partei in Leningrad gewesen. Er war mit einer Jüdin, Milda Draule (Драулье Милда), verheiratet. Diese verwendete sich für ihren Ehemann, als dieser wegen einer Streiterei aus der Partei flog. Ansprechpartner der attraktiven Milda war der allmächtige Parteichef Kirow, der die Petentin so ansprechend fand, dass der Mann erneut in die Partei und die Frau in sein Bett aufgenommen wurde. Nunmehr erschoss der eifersüchtige Ehemann den Liebhaber.

Eine schöne Geschichte. Doch sie stimmt nicht. Jedenfalls nicht so ganz, denn sie enthält einige Unstimmigkeiten, mit denen wir uns sogleich beschäftigen werden, wenn wir einen Ausflug in die Welt unternommen haben, aus der die Geschichte stammt – das ist die Welt der sowjetischen Geheimpolizei NKWD. Richtig ist zumindest, dass nach dem Mord ein Untersuchungsauftrag an die NKWD-Zentrale in Moskau erging, den Fall des Genossen Kirow zu untersuchen. Zuständig war eine Genossin Namens Emma Kaganowa (Каганова Эмма) in der Geheimen Politischen Abteilung – also jene Arbeitseinheit, die vor allem auch gegen die Genossen der Partei, der allmächtigen WKP(B), im Bedarfsfalle zu ermitteln hatte.

Das NKWD war erst seit Kurzem, dem 10. Juli 1934, die Staatssicherheitsbehörde der Sowjetunion.10 Vorher war das die OGPU gewesen. Der Tod von deren Leiter Wjatscheslaw Menshinskij hatte die Umgliederung ausgelöst. Im NKWD, dem Volkskommissariat des Innern, wurde nun die Staatssicherheit als Hauptverwaltung unter dem Kürzel GUGB fortgeführt. Vermutungen, die erneute Umgliederung bzw. Umbenennung der ehemaligen Tscheka, habe die Gesetzlichkeit der Behörde steigern helfen wollen, entbehren jeglicher Grundlage. Vielmehr war es umgekehrt. Stalin fühlte sich 1934 bereits so unumstritten und sicher, dass er es wagen konnte, die Staatssicherheit, sein eigentliches operatives Herrschaftsinstrument, aus der direkten Unterstellung unter die Herrschaft der Partei herauszulösen und formal dem Rat der Volkskommissare, also der Regierung der Sowjetunion, zu unterstellen. Lenin hatte sich so etwas Zeit seines Lebens niemals getraut.

Nachfolger des verstorbenen OGPU-Chef Menschinskij als Leiter der Staatssicherheit und zugleich Chef des Volkskommissar des NKWD wurde Genrich Jagoda. Der Geheimdienstmann hatte seine politische Karriere 1906 15jährig als Anarcho-Kommunist begonnen. Nach dem Militärdienst in der zaristischen Armee während des Ersten Weltkriegs trat er 1917 den Bolschewiki bei. 1920 begann er bei der Tscheka. Dort ging es mit der Karriere steil bergan; schon 1923 bekleidete er die Funktion eines Ersten stellvertretenden Leiters der Staatssicherheit. Nach dem Tod von Menshinskij war für Jagoda der Weg zur Spitze frei. Seit dem 26. November 1935 durfte er sich zudem mit dem Titel eines Generalkommissars des NKWD schmücken.

Ohne übermäßig vorgreifen zu müssen, kann hier erwähnt werden, dass die Karriere von Jagoda am 26. September 1936 einen deutlichen Dämpfer erhielt, als Stalin ihn abberufen und zum Kommissar für das Fernmeldewesen degradieren ließ. Doch die Freude über den etwas stilleren Regierungsposten dauerte nur ein halbes Jahr. Am 28. März 1937 erfolgte die endgültige Absetzung, und der 13. März 1938 ist der Todestag. Jagoda wurde nämlich nach dem Dritten Moskauer Schauprozess gegen Rykow, Bucharin und andere erschossen. Damit sind wir etwas vorausgeeilt mitten hinein in die Große Säuberung. Wir werden noch einmal darauf zu sprechen kommen müssen.

Jetzt, zu Ende des Jahres 1934 konnte noch niemand in der von Jagoda befehligten Staatssicherheitsbehörde ahnen, dass es alsbald üblich werden würde, die leitenden Funktionäre des NKWD-Apparats durch Genickschuss zu erledigen. Jetzt ging es erst Mal um die Aufklärung des Kirow-Mordes, und bei der Erforschung der Motive um die Frage, was Kirow auf dem Kerbholz haben konnte, um den Mord an ihm erklärbar zu machen.

Da erlebten die NKWD-Ermittler, gelinde gesagt, eine Überraschung. Der Genosse Kirow hatte seine Dienststellung in der einstigen Metropole des russischen Reiches gut zu nutzen verstanden. Anknüpfend an zaristische Traditionen war er ein Liebhaber des Balletts geworden. Man könnte es auch etwas schärfer formulieren: Er war ein starker Frequenteur der Balletteusen. Ein Schelm des realen Lebens hat ganz folgerichtig das Leningrader Ballett später auf den Namen des Ermordeten getauft: Kirow-Ballett.

Dazu mag man angesichts auch der insofern lang vor der russischen Revolution begründeten Tradition stehen, wie man will, den Ermittlern aus Moskau erschien dies alles wider die sozialistische Moral. Dabei hatten sie sich, kriminalistisch gesehen, durchaus richtig verhalten. Sie hatten sich die Frage gestellt: Wem nützt der Tod des Genossen Kirow. Ihr Ergebnis: Allein dem Mörder Nikolajew, der sich kleinbürgerlich am Liebeswerben des Genossen rächte. Sie hatten noch eins draufgesetzt und ermittelt, dass der aus der Partei Ausgestoßene nicht einmal mehr mit dem Objekt seiner Eifersucht zusammenlebte. Überdies hatten sie erkannt, dass es dem Genossen Kirow ohnehin nicht auf längere Bindungen ankam. Das war dann zusammengenommen doch etwas zuviel des Guten. Denn die Sache sollte ein politisches Mordmotiv erbringen, und da passte das Ermittelte nicht. Und so wurde die Sache beerdigt, die so hoffnungsvoll begonnen hatte.

Der Volksheld Kirow blieb also ein Volksheld, vorerst wenigsten, und die so sorgsam recherchierte Geschichte mit dem Mord im Beischlafmilieu verschwand in den Akten und kam erst Jahrzehnte später ans Licht. Nunmehr sollte sie als etwas fader Aufguss für einen Sachverhalt dienen, der sich durchaus etwas, um nicht zu sagen: entscheidend anders abgespielt hatte. Bemerkenswert an der Geschichte ist nur eines: die Art ihrer Überlieferung. Es ist klar, dass die ermittelnde Funktionärin wusste, wovon sie sprach, als sie sich gegenüber ihren Vertrauten im NKWD über den schnöden Ausgang ihrer Ermittlungen ausließ.

Aus dieser Quelle schöpfte KGB-Mann Pawel Sudoplatow. Der gab die Sache, praktisch als Zeuge vom Hörensagen, weiter. Und beförderte erneut ein Lüge. Denn im NKWD gab es zur Zeit der Ermittlungen zwei Wahrheiten, die in keinem Fall unter einen Hut zu bringen waren. Die eine Wahrheit war die Wahrheit der Funktionäre, die mit den Ermittlungen betraut waren und die wir soeben kennen gelernt haben. Die andere Wahrheit war die Wahrheit der Täter. Auch die saßen im NKWD. Diese Wahrheit allerdings sah ganz anders aus. (Alexander Jakowlew, in: Prawda vom 28.1.1991; offengelassen von: Manfred Hildermeier: Geschichte der Sowjetunion, S. 448; ebenso bei: Stephane Coutois: Das Schwarzbuch des Kommunismus, S. 201)

Monate vor dem Mord, im Sommer 1934 beauftragte Stalin, was bis zum heutigen Tage bestritten wird, den soeben berufenen neuen NKWD-Chef Genrich Jagoda, den lästigen Rivalen aus Leningrad zu beseitigen. (Christopher Andrew u.a.: Das Schwarzbuch des KGB, S. 103; Robert Conquest: Der große Terror, S. 53; unter Hinweis auf Chruschtschow: Pawel Sudoplatow: Der Handlanger der Macht, S. 87) Das konnte unter den damals herrschenden Umständen nur einen Mord bedeuten. Stalins Idee, zu diesem Mittel zu greifen, soll er nach der Meinung vieler aus dem Agieren Hitlers im Röhm-Putsch generiert haben.

Die Anstiftung Jagodas war für Stalin nur dann risikolos, wenn er ein probates Druckmittel gegen den Geheimdienstmann in der Hand hielt. Das war der Fall, denn vier Jahre zuvor hatte der Jagoda-Stellvertreter im Geheimapparat der OGPU, Michail Trilisser, Material zur Belastung seines Vorgesetzten gesammelt. Er fand dabei heraus, dass der tatsächliche revolutionäre Lebenslauf Jagodas durchaus nicht mit den vom ihm gemachten Angaben übereinstimmte. Seine Vita hatte einen tödlichen Fleck, die als sicher angenommene Zusammenarbeit mit der zaristischen Geheimpolizei Ochrana.

Ob Trilisser in eigenem oder fremden Auftrag seinen Vorgesetzten ausspähte, ist unklar, tut aber wegen des Ergebnisses auch nichts zur Sache, denn er informierte Stalin über seinen Fund, der ihn zur Kenntnis nahm und sich nicht weiter dazu einließ. Noch im selben Jahr wurde Trilisser abgelöst und auf den Posten eines stellvertretenden Volkskommissars der Arbeiter- und Bauerninspektion in der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik abgeschoben. 1935 tauchte er unter dem Alias-Namen Michail Moskwin noch einmal aus der Versenkung auf, als er im Präsidium der Komintern deren Nachrichtenapparat OMS reorganisieren sollte. Das tat er bis zu seiner Verhaftung am 23. November 1938; Anfang 1940 wurde er erschossen.

Jagoda bediente sich zur Umsetzung des Mordbefehls eines Mitarbeiters aus Leningrad. Das war der dortige stellvertretende NKWD-Vorsitzende Iwan Saporoschez. Der 39jährige war ein altgedienter Geheimdienstmann. 1915 zur zaristischen Armee eingezogen, war er noch im selben Jahr an der russischen Westfront zur österreichisch-ungarischen Armee desertiert. 1918 kehrte er aus der Kriegsgefangenschaft nach Russland zurück. Bis 1921 diente er als Parteiarbeiter in der Ukraine, dann wechselte er zum Militärgeheimdienst GRU, der ihn zu Agenteneinsätzen nach Polen und Österreich entsandte. Nach Rückkehr wurde er vom Auslandsdienst INO übernommen, der ihn, als Angehörigen der Botschaft getarnt, 1923/24 in Berlin und sodann bis 1927 in Wien einsetzte. Nun folgten die Karriereschritte in rascher Folge: 1930 stellvertretender Leiter der Informationsabteilung der INO, stellvertretender Chef der Geheimen Politischen Verwaltung der OGPU und, bereits 1931, stellvertretender Vorsitzender des NKWD im Bezirk Leningrad.

Saporoschez sorgte für die praktische Umsetzung des Mordauftrages, indem er den entgleisten Parteimann Nikolajew anwarb und bewaffnete und schließlich dafür sorgte, dass im entscheidenden Augenblick der Parteisekretär Kirow unbewacht blieb. Das galt sowohl für den Abzug des persönlichen Leibwächters wie auch für die vorübergehende Entfernung des Sicherheitspersonals auf dem Büroflur des Parteisekretärs.

So konnte dann die Tat geschehen. Sie blieb ungesühnt und unaufgedeckt, wenn auch in den Folgejahren die absonderlichsten Versionen von der Sowjetführung in Umlauf gebracht worden sind, wer hinter dem Verbrechen gesteckt habe. Mal war es Sinowjew, mal war es Trotzki, mal Bucharin (ZK der KPdSU: Geschichte der Kommunistischen Partei, S. 393 ff.), und schließlich auch Jagoda. Klar war nur, dass es eine Verschwörung von Abweichlern gewesen war, die sich angeblich auf diesem Wege des Stalin-Gefolgsmannes entledigen wollten.

Dabei wäre die Wahrheit um Haaresbreite in aller Öffentlichkeit erörtert worden. Anlass war der Schauprozess gegen den so genannten Block der Rechten und Trotzkisten im Jahre 1938. Einer der Mitangeklagten war der entmachtete ehemalige Geheimdienstchef Genrich Jagoda. Beim öffentlichen Verhör von Jagoda zum Thema Kirow-Mord wäre dem Chefstaatsanwalt der UdSSR, Andrej Wyschinskij, beinahe ein schwerer Schnitzer unterlaufen, vor dem ihn zu seinem Glück der Angeklagte selbst bewahrte. Und so klingt der Dialog im Protokoll der Gerichtssitzung:

Jagoda: Ich erteilte Instruktionen...

Wyschinskji: Wem?

Jagoda: Saporoschez in Leningrad. Aber ganz so war es nicht...

Wyschinskij: Darüber sprechen wir noch später. Jetzt möchte ich wissen, welche Rolle Rykow und Bucharin bei dieser abscheulichen Tat gespielt haben.

Jagoda: Ich erteilte Saporoschez Instruktionen. Als Nikolajew festgenommen wurde...

Wyschinskij: In dessen Aktentasche...

Jagoda: ...ein Revolver und ein Tagebuch waren. Und er wurde wieder von ihm freigelassen.

Wyschinskij: Und Sie haben es gebilligt?

Jagoda: Ich habe nur die Tatsache zur Kenntnis genommen.

Wyschinskij: Und dann erteilten Sie Instruktionen, dem Mörder von Sergej Mironowitsch Kirow keine Hindernisse in den Weg zu legen?

Jagoda: Ja, das habe ich gemacht... Aber so war es nicht.

Wyschinskij: Auf etwas andere Weise?

Jagoda: Es war nicht so, aber das ist ohne Bedeutung.

(Bucharin-Prozess, Protokoll, S. 376; zit. nach: Robert Conquest: Der Große Terror, S. 54)

Mit dem weiteren Ablauf der Kirow-Sache lassen sich Bände füllen. Etwa, wie noch im Dezember 1934 das Weißgardistische Zentrum erfunden wurde, dessen angebliche Mitglieder im selben Monat nach kurzen Geheimprozessen in Moskau, Leningrad und Kiew hingerichtet wurden. Völlig ohne erkennbaren Zusammenhang trat Mitte Dezember die angebliche Aufdeckung eines Leningrader und eines Moskauer Zentrums hinzu.

Beide sollten ebenfalls für den Kirow-Mord die Verantwortung tragen. Hierbei war das eigentlich Neue, dass diese angeblichen Verschwörer mitnichten antisowjetische Konterrevolutionäre waren sondern Mitglieder der Kommunistischen Partei. Sie wurde bereits im Januar 1935 abgeurteilt, auch in einem Geheimprozess, der angeblich zu Tage förderte, dass hinter diesen Zentren die Spitzenfunktionär Kamenjew und Sinowjew steckten, die daraufhin verhaftet und verhört wurden. Doch weder Kamenjew noch Sinowjew waren bereit, sich als Anstifter des Mordes öffentlich zu bekennen. Sie krochen, nach kommunistisch bewährter Methode zu Kreuze, indem sie zuzugeben bereit waren, dass ihr oppositioneller Geist andere angesteckt haben könnte, wofür sie in einem Schauprozess die Verantwortung übernahmen. Ihnen und ihren Mitangeklagten aus der Partei wurden daraufhin mehrjährige Freiheitsstrafen auferlegt.

Etwas anders sah es mit den involvierten NKWD-Funktionären aus. Sie erhielten durchweg zwei- oder dreijährige Haftstrafen, die in Sibirien abzubüßen waren – und zwar wegen mangelnder Wachsamkeit. Erstaunlicher Weise traten sie ihren Weg in die Gefangenschaft in einem Salonwagen des NKWD an. Der Mordorganisator Soporoschez wurde zuvor noch mehrfach von Jagoda empfangen. Alles verlief nach dem Motto, die Beteiligten von der Moskauer und der Leningrader Bühne zu entfernen und Gras über die Sache wachsen zu lassen.

Saporoschez und den anderen NKWD-Leuten nutzte die momentane Milde letztlich nichts. Sie wurden im Verlaufe der nächsten Jahre liquidiert. Saporoschez beispielsweise, der 1936 aus der Haft freikam, wurde am 18. August 1937 erschossen. Im Jahr darauf beim Prozess gegen seinen ehemaligen Vorgesetzten Jagoda behauptete der Staatsanwalt Wyschinskij, Saporoschez sei zur Zeit nicht vorzuführen, da gerade ein anderes unaufschiebbares Verfahren gegen ihn liefe – so kann man das auch ausdrücken.

Insgesamt gesehen waren der Kirow-Mord und die Behandlung der vermeintlichen und der wirklichen Täter erst ein Auftakt. Sie waren der Beginn dessen, was in die sowjetischen und, dem folgend, in etliche andere Beschreibungen als die Große Säuberung eingegangen ist. Der Ausdruck Große Säuberung ist ein hübsches Beispiel für die bolschewistische Umwidmung der Begriffe. Denn so wurde ein Verbrechen mit einem netten, einem positiven Terminus versehen, der noch heute in Gebrauch ist.

 

Quellen / Darstellungen

 

Maria Anders u.a.: Lexikon der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution

Christopher Andrew u.a.: Das Schwarzbuch des KGB

John Barron: KGB

Robert Conquest: Der große Terror

E.H. Cookridge: Zentrale Moskau

Stephane Coutois: Das Schwarzbuch des Kommunismus

Orlando Figes: Die Tragödie eines Volkes

Manfred Hildermeier: Geschichte der Sowjetunion

David King: Stalins Retuschen

Lubjanka: WTschk-OGPU-NKWD-NKGB-MGB-MWD-KGB 1917-1960. Sprawotschnik, Moskwa 1997

Roy Medwedew: Das Urteil der Geschichte

Reinhard Müller: Die Akte Wehner

Nikita Petrow: Die Kaderpolitik des NKWD

Helmut Roewer u.a.: Lexikon der Geheimdienste

Herbert Scheibert: Lenin an der Macht

Pawel Sudoplatow: Der Handlanger der Macht

 

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