von Boris Blaha

Im Unterschied zu einem rechtlichen Schuldvorwurf, der die Verletzung eines weltlichen Gesetzes oder Gewohnheitsrechtes angeben muss, bezieht der moralische Schuldvorwurf seine Legitimation aus einem, nur bestimmten auserwählten Medien geoffenbarten Universalgesetz. Anders als das Tatsachenereignis, das gewöhnlich von mehreren wahrgenommen, erfahren und in seinen Auswirkungen gemeinsam gedeutet werden kann, erleuchteten die das abendländische Denken prägenden Offenbarungen jeweils nur Einen, das gilt für den Mann am brennenden Dornbusch (Mose), wie für den, der die Höhle der gefesselten anderen verließ, um die Idee, nicht nur ihren Schatten mit seinem geistigen Auge zu schauen (Platons Höhlengleichnis). Was der eine gehört haben soll, soll der andere erblickt haben, aber von weiteren Beteiligten, gar unabhängigen Zeugen ist bislang nichts bekannt, ein Indiz für die merklichen gedanklichen Defizite der Metaphysik gegenüber den öffentlichen Angelegenheiten, in denen stets die gemeinsame Sache Vieler auf dem Spiel steht. Die traditionelle Philosophie hat immer nur den Menschen gedacht, zu einer politischen Leistung wie der antiken Tragödie war sie nicht in der Lage. Auch die monotheistische Gottesvorstellung kennt immer nur den Einen als Ebenbild und die anderen als bloße Wiederholung des Einen.

Wer als Vermittler einer nur ihm geoffenbarten Wahrheit spricht, sondert sich von den unterschiedlichen politischen wie rechtlichen Räumen der Gleichheit ab, die sich eine öffentliche Sache in ihre Mitte legen und etabliert, sofern die Angesprochenen ihm zuhören und folgen, eine neue räumliche Ordnung, in der die prinzipiell unendliche, mit jeder Geburt, jedem Neuanfang erweiterbare Differenz der möglichen Positionen und Standpunkte (keine Meinung ohne Standpunkt) auf ein nur noch zweiwertiges Über- und Unterordnungs-Verhältnis reduziert wird. Mit etwas Glück stößt man in alten Kirchen noch auf die Schranke, die den Raum der Kleriker von dem der Laien separierte. Hören fällt hier mit Gehorchen, Unterschied mit Abfall zusammen: Man kann sich dem Schuldvorwurf unterwerfen und geloben, alle Vorschriften des Herrn fürderhin gehorsamst zu erfüllen oder denjenigen, der den Vorwurf erhebt, von seinem Platz vertreiben, um den Platz des Herrn selbst einzunehmen und dauerhaft zu behaupten, was in aller Regel nicht ohne Gewalt zu bewerkstelligen ist. Tertium non datur. Machen sich neben dem einen Herrn und seinen Vorschriften konkurrierende Begehrlichkeiten breit, wozu auch Freiheit und Sicherheit einer privaten Sphäre vor politischen, religiösen oder moralischen Übergriffigkeiten gehören, muss das Schwert gegürtet und den Abfallenden der Garaus gemacht werden, einerlei, welche anderen Bindungen hier noch eine Rolle spielen könnten. Die Bindung an den Einen dominiert alle anderen Bindungen, die an die Familie oder das Land oder auch nur an das private Hobby. Dieses Sollen erlaubt keine andere Abwägung und gilt unbedingt. (».. und erschlage seinen Bruder, Freund und Nächsten«, Mose 2, 32, 27). Peter Sloterdijk nannte das Sinai-Schema die Urszene einer Totalen Mitgliedschaft (Gottes Eifer, 2007 und Im Schatten des Sinai. Fußnote über Ursprünge und Wandlungen totaler Mitgliedschaft, 2013). Immer radikaler werden auch heute wieder aus dem Kreis der Wohlmeinenden diejenigen Sterblichen entfernt, die sich ein selbst verantwortetes Leben nicht aus der Hand nehmen lassen wollen, was für die nahe Zukunft nichts Gutes erahnen lässt.

Die Moralisierung der Politik führt die Figur des Souveräns in eine Ordnung ein, in der aus politischer Sicht der Platz des Souveräns leer zu bleiben hat (Claude Lefort) und sie fügt die Gewalt in eine Raumordnung ein, die aus rechtlicher wie politischer Sicht eigens daraus verdrängt wurde (»Wo die Gewalt in die Politik selbst eindringt, ist es um die Politik geschehen«. Hannah Arendt, 1963). Auch der runderneuerte Herr beansprucht die vollständige Herrschaft über das Leben. Was manche Biopolitik nennen, ist bloß zum wiederholten Mal aufgewärmte Theokratie. Unter dem dünnen Firnis einer als ›Zivilgesellschaft‹ nur scheinbar befriedeten Ordnung brechen Herrschaftsphantasie und Gewaltsamkeit erneut explosiv hervor. Von Eintracht (concordia), einer der wichtigsten politischen Tugenden einer bewohnbaren Welt, spricht schon längst keiner mehr.

Mit dem Stuttgarter Schuldbekenntnis der deutschen Protestanten von 1945, ein Bekenntnis vor Gott, nicht gegenüber den anderen, blieben sowohl Raum wie Position des Herrn und seiner Verkünder intakt. Kurz darauf entstand die, was schon der Name unmissverständlich zum Ausdruck brachte, dezidiert antipolitische ›Ohne Mich-Bewegung‹, der Vorläufer der späteren Friedensbewegung, wenn nicht gar das prägende Beispiel aller deutschen Nachkriegsbewegungen inklusive der Globusretter, die jeden Boden unter den Füßen verloren haben. Die nachhaltigen Folgen bis heute hat gerade Herbert Ammon in einem Text auf globkult dargestellt (Historische Schuld und politische Gegenwart). Ammon erwähnt eine Formulierung des EKD-Ratsvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm, der eine Synode als »Avantgarde des Reiches Gottes« bezeichnete und damit schon sprachlich eine Verbindung herstellte zwischen Lenin, der führenden Rolle der Partei und der evangelischen Kirche in Deutschland. Schert einer aus und versetzt sich selbst vom moralischen zurück in den politischen Raum, wie seinerzeit Philipp Jenninger, verschwindet er so unmittelbar aus der öffentlichen Sicht- und Hörbarkeit, wie nach ihm keiner mehr. Dass nun ausgerechnet die deutschen Protestanten jene Avantgarde wieder einführen wollen, die ganz Mittel-Osteuropa 1989 endlich aus den vom sowjetischen Imperium diktierten Verfassungen gestrichen hatten, kann nur als Treppenwitz der Geschichte bezeichnet werden.

Der moralische Vorwurf enthält gegenüber dem juristischen zahlreiche unmittelbare Vorzüge: Egal wer, selbst unmündige, gar kranke Kinder können ihn überall, zu jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit, an beliebige Adressaten richten und ohne jegliche formale Hürde, Anforderung oder Vorprüfung erheben. Nicht einmal irgendein Beleg für die erhobenen Behauptungen ist erforderlich. Trifft der moralische Vorwurf auf einen zeitgeistigen Erwartungshorizont und adressiert sich an bereits massenmedial erfolgreich etablierte Feindbilder, verbreitet sich das Gerücht in Windeseile, bevor auch nur die leiseste Skepsis sich Gehör verschaffen kann (die Hetzjagden von Chemnitz). Zudem enthält der moralische Schuldvorwurf einen unmittelbaren psychologischen Identitätszuwachs, der ohne die Anerkennung der anderen quasi völlig autonom eingestrichen werden kann: Es erhebt den Ankläger und erniedrigt den Beschuldigten und das alles ohne jede Auseinandersetzung, Streit oder Wettbewerb vor Zuschauern. Der andere ist schon aus dem rechtlichen Raum der Gleichen entfernt, bevor er überhaupt widersprechen kann. Der moralische Vorwurf ist auf das Urteil der anderen nicht angewiesen. Alles das, was in einem ordentlichen Procedere zur Klärung einer juristischen Schuld selbstverständlich ist, vom audiatur et altera pars bis zum Austausch eines Richters wegen Befangenheit, ist der moralischen Schuld entbehrlich. Wo diese ihre Stimme erhebt, ist es um Freiheit und Selbstbestimmung geschehen.

Und: Die moralische Schuld vergeht nicht, da, gemessen an einem klassischen Gerichtsprozess (ein fast schon anachronistisches Überbleibsel aus der Antike), die zweite und dritte Position, die des Verteidigers und die des Richters fehlen und damit Urteil, Strafe, Verbüßung und Wiederaufnahme in die Gemeinschaft auf das Jüngste Gericht geschoben sind. Die Schuld haftet, wie das Kainsmal, auf ewig, denen sie angeheftet wurde. Das weltliche, vom Vergessen bis zum Versöhnen bleibt ihr äußerlich. Während die weltliche Schuld einzelne aus der Gemeinschaft herausgreift, um die beschädigte Rechtsordnung wieder zusammen zu fügen, organisieren die Ordnungen totaler Mitgliedschaft die gesamte Menschheit als schuldig. Das Gerede vom CO2 Fußabdruck ist nur die Neuauflage von Adams sündhaftem Samen, der jedes Neugeborene schon infiziert hat, bevor es überhaupt seinen ersten Schrei von sich geben kann.

Vor wenigen Wochen machte eine Anzeigenkampagne der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft die Runde, in der die Kanzlerkandidatin der Grünen, Annalena Baerbock als Moses mit zwei Verbotstafeln dargestellt wurde. Wie nicht anders zu erwarten, rief sie die üblichen Reflexe der Immergleichen hervor, die hier nicht weiter von Belang sind. Wahrscheinlich ohne sich dessen bewusst zu sein, traf die Kampagne jedoch einen entscheidenden Punkt. Der moralische und der politische Sinn von Gesetz unterscheiden sich fundamental und ein weit über seinen akademischen Fachhorizont hinaus denkender Ägyptologe wie Jan Assmann hat zu der Formulierung gefunden, dass die mosaische Unterscheidung eine Wende herbeigeführt habe, »die entscheidender als alle politischen Veränderungen die Welt bestimmt hat, in der wir heute leben« (Jan Assmann, 2003). Auch Hannah Arendt, Walter Benjamin und Carl Schmitt gehören zu denen, in deren Gedanken der genannte Unterschied zwischen politischem und moralischem Sinn von Gesetz eine nicht unbeträchtliche Rolle spielt.

»Wir sind so gewöhnt, Gesetz und Recht im Sinne der Zehn Gebote und Verbote zu verstehen, deren einziger Sinn darin besteht, dass sie Gehorsam fordern, dass wir den ursprünglich räumlichen Charakter des Gesetzes leicht in Vergessenheit geraten lassen.« (Hannah Arendt).

Die grüne Ideologie dagegen beruht auf der gleichsinnigen Scharnierfunktion eines mosaischen Sinnes von Gesetz, das als Naturgesetz Ereignisse mit Notwendigkeit aufeinander folgen lässt, einer Gewissheitsherstellung aufgeklärter Wissenschaft, die wie bei Kant der Natur ihr Gesetz vorschreibt und einem Moralgesetz, das den Sterblichen alternativlos das Leben vorzuschreiben sich erneut anschickt. Der Klimawandel gilt als unbestreitbares Naturgesetz, seine Gewissheit stammt aus wissenschaftlichen Modellrechnungen, woraus zwingende Verhaltensvorschriften mit Notwendigkeit abgeleitet sind, die weder Aufschub noch Abweichung dulden. Wer sich dem verweigert, wird zum Feind der Menschheit erklärt. Für Freiheit ist in diesem Gestell kein Platz. Das gleiche Scharnier diente den Bolschewisten als Herrschaftslegitimation, nur dass sie sich anstelle des Naturgesetzes auf das der Geschichte beriefen. Das ganz andere Extrem dieser einfachen zweiwertigen Herr-Knecht-Logik im Haus des Herrn markiert eine radikal-orthodoxe jüdische Gruppierung in New York, die aus den totalitären Einbrüchen des 20. Jahrhunderts die genau umgekehrte Konsequenz einer totalen Unterwerfung zog. Hitler sei, so berichtet ein Mitglied der Satmarer Gemeinde in ihrer autobiographischen Schilderung des allmählichen Ausbruchs aus dieser totalen Mitgliedschaft, von Gott als Strafe geschickt worden,

»um die Juden dafür zu bestrafen, sich selbst erleuchtet zu haben. Er kam, um uns zu reinigen, um alle assimilierten Juden zu vernichten, alle frejen Jidden, die dachten, sie könnten sich selbst vom Joch, die Auserwählten zu sein, befreien.« (Deborah Feldmann, Unorthodox, 2016).

Die massive Moralisierung der Politik begann nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, der Urkatastrophe der europäischen Moderne und entfesselte eine unheilvolle Dynamik von Schuld- und Erlösungsphantasien, die bis heute, insbesondere in Deutschland, weder dauerhaft noch wirksam unterbrochen wurde. Die Grünen und ihre intellektuellen Claqueure würden sie weder unterbrechen, noch auflockern, nur weiter radikalisieren.

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