von Eckhard Jesse

Am 3. Oktober 2020, dem 30. Jahrestag der deutschen Einheit, klang das Echo nicht nur positiv. Oft hieß es, angesichts gravierender – politischer, wirtschaftlicher, sozialer wie kultureller – Defizite und Differenzen müsse noch viel für die innere Einheit getan werden. Die beiden Verfasser sehen dies anders. Der Titel ist Programm. Sie betonen das Erreichte, ohne das Noch-Nicht-Erreichte zu verschweigen. Da sie ihr Augenmerk auch auf die Zeit vor der deutschen Einheit lenken, gewinnen sie realistische Einsichten.

Das Autorenduo ist ungewöhnlich (gut): Karl-Heinz Paqué, Jahrgang 1956, ist ein westdeutscher Volkswirtschaftler, der seit 1996 eine Professur für Internationale Wirtschaft an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg innehat. Der FDP-Politiker fungierte zwischen 2002 und 2006 als Finanzminister des Landes Sachsen-Anhalt. Seit 2018 ist er Vorsitzender der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. Richard Schröder, Jahrgang 1943, studierte in der DDR Theologie und Philosophie. Nach einer Tätigkeit als Pastor wirkte er von 1977 bis 1990 an zwei kirchlichen Ausbildungsstätten: dem Katechetischen Oberseminar Naumburg sowie dem Sprachenkonvikt Berlin. Während der friedlichen Revolution folgten die Mitgliedschaft in der SPD und der Fraktionsvorsitz in der ersten freigewählten Volkskammer. Schröder lehrte von 1991 bis 2009 Philosophie an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. Im Vergleich zu Paqué steht er, dessen öffentliche Interventionen große Aufmerksamkeit finden, seiner Partei ferner. Demnach agierten sie beide zeitweilig als politische Akteure, Schröder vor der Einheit, Paqué danach.

So unterschiedlich diese Lebenswege auch sind, so wenig unterscheiden sich ihre Positionen voneinander. Das ergibt ein Vergleich zwischen den beiden Teilen der Arbeit: »Fakten« stammt von Paqué, »Mythen« von Schröder. Der Tenor deckt sich weithin. Allerdings sind diese Überschriften etwas unglücklich ausgefallen, denn Paqué analysiert ebenso Mythen wie Schröder Fakten. Die Unterschiede betreffen zum einen eher die Themen: Während Paqué gänzlich die Wirtschaft in Augenschein nimmt, berührt Schröder politische, soziale und kulturelle Aspekte, ebenso ökonomische. Bei ihm bildet der – vermeintliche – Ost-West-Gegensatz einen Schwerpunkt. Zum andern liegen die Unterschiede in der Sprache. Präsentiert Paqué nüchtern Statistiken und Tabellen, schreibt Schröder persönlicher und anschaulicher, zum Teil stärker essayartig und mit viel Mutterwitz.

Karl-Heinz Paqué schildert eingangs das – selbst vom Westen lange nicht richtig eingeschätzte – desaströse Erbe der DDR. Von Egon Krenz beauftragt, hatte Gerhard Schürer am 30. Oktober 1989 als Leiter der Staatlichen Planungskommission seinen (erst später öffentlich bekannt gewordenen) Bericht zur DDR-Wirtschaft vorgelegt. In ihm war von einer Zahlungsunfähigkeit der DDR die Rede, von einer investitionsschwachen und ineffizienten Ökonomie. Nach dem Fall der Mauer ließ sich dies nicht mehr verbergen. Angesichts der maroden Lage wurde eine Wirtschafts- und Währungsunion unvermeidlich, zumal die Übersiedlung DDR-überdrüssiger Bürger in den Westen drastische Ausmaße annahm. Paqué bewertet die Arbeit der noch von der Modrow-Regierung am 1. März 1990 ins Leben gerufenen Treuhandanstalt insgesamt positiv. Die Bilanz:

»Ganz anders als von ihren Gründern zunächst erwartet, schloss sie mit einem Defizit von etwa 204 Milliarden D-Mark, die bei Beendigung ihrer Tätigkeit dem Erblastentilgungsfonds des Bundes zugeschrieben wurden. Einem Bruttoverkaufserlös von gerade einmal 60 Milliarden D-Mark standen Aufwendungen von etwa 264 Milliarden D-Mark gegenüber – von Schuldenerlassen bis zur Übernahme ökologischer Altlasten sowie Subventionen vielfältigster Art, um überhaupt die privaten Investitionen von 211 Milliarden Euro zu sichern und um eineinhalb Millionen Arbeitsplätze zu retten« (S. 44).

Noch immer liegt das produktivitätsschwächste Land des Westens (Saarland) knapp über dem produktivitätsstärksten Land des Ostens (Brandenburg) – ungeachtet eines gewaltigen Aufholprozesses. Hingegen hat die Wanderung von Ost nach West mittlerweile nachgelassen. Zuletzt zogen sogar mehr Westdeutsche in den Osten als Ostdeutsche in den Westen. Und im Vergleich mit Polen, Tschechien, der Slowakei, Ungarn und Slowenien steht der Osten Deutschlands deutlich besser da. Allerdings kommt dieser Hinweis – und das weiß Paqué sicherlich – in den neuen Ländern nicht sonderlich gut an, denn der Maßstab ist für sie verständlicherweise das westliche Deutschland. Die wirtschaftliche Entwicklung wird im Osten (und im Westen) deutlich besser bewertet als die Arbeit der Treuhand.

»Ob mit Bedacht oder nicht lud die Politik der Regierung unter Kohl und Genscher […] die schwersten Probleme der Transformation bei einer […] Institution ab, die mit einer gewissen Distanz zur Politik den Unwillen bis hin zum Hass der Bevölkerung auf sich zog, ohne das Bild der Einheit selbst allzu stark einzutrüben« (S. 108).

Paqué verweist zu Recht auf die jahrzehntelangen Verheerungen durch die Planwirtschaft. Für ihn gilt: «Nicht das Ergebnis ist enttäuschend, sondern die Erwartungen waren zu hoch« (S. 109).

Dies ist ebenso die Position Schröders, der seinen lebendigen Text mit Anekdoten und Witzen würzt. Er erhellt Mythen zum Alltag in der DDR (das Solidarische in der DDR war oft aus der Not geboren), zur friedlichen Revolution (dem Umschlag von der Freiheitsrevolution in die Einheitsrevolution wohnte Konsequenz inne) und zur deutschen Einheit (sie musste angesichts der labilen Situation in der Sowjetunion so schnell wie möglich erfolgen). Bei den heutigen Ost-West-Kontroversen votiert der Autor entschieden gegen den ostdeutschen Opferkult, den selbst manche Westdeutsche teilen. Ihm ist daran gelegen, den Unterschied zwischen Patriotismus und Nationalismus hervorzuheben. Er firmiert weder als unkritischer Freund einer multikulturellen Gesellschaft noch als Freund der keineswegs dämonisierten AfD, die im Osten stärker ist als im Westen, wie übrigens die Partei Die Linke. Hier sind die Ost-West-Diskrepanzen noch ausgeprägter.

Schröder wird nicht müde, anhand zahlreicher Belege gegen den stereotypen Mythos zu Felde zu ziehen, ›der‹ Westen habe ›den‹ Osten entmachtet. So stimme es nicht, dass der Westen die ›runden Tische‹ beseitigt habe. Sie spielten beim Übergang von der Diktatur eine wichtige Rolle, jedoch nicht beim Aufbau einer Demokratie. Der im Dezember 1989 ins Leben gerufene Zentrale Runde Tisch löste sich kurz vor der Volkskammerwahl am 18. März 1990 auf, wie es von vornherein vorgesehen war. Und Gleiches gilt für die vielen weiteren Runden Tische nach der ersten demokratischen Kommunalwahl am 6. Mai 1990.

»Nicht wenige Teilnehmer dieser runden Tische wurden später Abgeordnete der Kommunalvertretungen. Eigentlich eine schöne Kontinuität. Man könnte sogar sagen: Das ist genau das, was man erreichen wollte« (S. 218).

Und wie Paqué wendet er sich gegen den Treuhandmythos.

»Die Treuhandanstalt fungierte als Sündenbock, Prügelknabe, Prellbock und Blitzableiter. […] Möglicherweise war es damals angesichts der Erregung für Politiker tatsächlich aussichtslos oder zumindest wenig opportun, die Treuhandanstalt öffentlich zu verteidigen. Denn wer einer Geächteten beispringt, wird sehr schnell selbst geächtet« (S. 182).

Schröder teilt zudem nicht die Ansicht, die Lebensleistungen Ostdeutscher seien durch die deutsche Einheit zerstört worden.

»Wer im Aufbau des Sozialismus seine Lebensleistungen gesehen hatte, dem war mit dem Ende der SED-Herrschaft tatsächlich der bisherige Lebenssinn abhandengekommen. Das waren unvermeidliche biografische Brüche, sie waren aber revolutionsbedingt und nicht einigungsbedingt. Grundsätzlich waren doch ostdeutsche Facharbeiter, Ingenieure, Ärzte überall in Deutschland anerkannt und willkommen. Wenn sie in den Westen gingen, hatten sie dort in der Regel keinerlei Integrationsprobleme« (S. 189).

Was Schröder hingegen als problematisch ansieht, und zwar zu Recht: Die Umstellungsleistungen Ostdeutscher – von einer Diktatur mit einer Planwirtschaft auf eine Demokratie mit einer Marktwirtschaft – fielen gewaltig aus. Dies haben Westdeutsche, für die fast alles gleichgeblieben war, wohl nicht hinreichend gewürdigt.

Paqué und Schröder wollen bei den heutigen Problemen nicht die der Vergangenheit vergessen. Die Hinterlassenschaft der SED-Diktatur ist übel. Werden Petra Köpping (Integriert doch erst mal uns! Eine Streitschrift für den Osten, Berlin 2018) und Ilko-Sacha Kowalczuk (Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde, München 2019), deren Positionen dieser Band argumentativ deutlich kritisiert, die Herausforderung annehmen und antworten? Es dürfte nicht ganz einfach sein, die Standpunkte Paqués und Schröders zu widerlegen, etwa zur Treuhand. Dabei müssten sie sich ebenso mit der einschlägigen Studie des langjährigen »Spiegel«-Redakteurs Norbert F. Pötzl auseinandersetzen (Der Treuhand-Komplex. Legenden. Fakten. Emotionen, Hamburg 2019).

Im gemeinsam verfassten Schlusskapitel nehmen die Autoren das vereinte Deutschland als einen Glücksfall wahr – und nicht nur sie.

»So sehen es jedenfalls viele Beobachter aus anderen Nationen, die gar nicht auf den Gedanken kämen, die Deutsche Einheit als gescheiterte Geschichte von Opfern und Tätern zu deuten. Sie betrachten von außen das Ergebnis der deutschen Wiedervereinigung als höchst respektabel – vielleicht nicht optimal, aber unter den gegebenen Umständen fast schon vorbildlich« (S. 239).

Auch wer von Paqué und Schröder dieses oder jenes schon gelesen hat, ist immer wieder angetan von ihren Beschreibungen, Analysen und Bewertungen. Sie nehmen kein Blatt vor den Mund, meiden verschwurbeltes Deutsch. Diese Streitschrift im besten Sinn sollte eine Pflichtlektüre für diejenigen sein, die bei der Materie mitreden wollen. Das unaufgeregt argumentierende Buch, das nicht den Ost-West-Konflikt kultiviert, informiert gut und verweist mit der Urteilskraft der Autoren viele zählebig sich haltende Behauptungen ins Reich der Legenden.

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