Ulrich Siebgeber - ©LG
Ulrich Siebgeber
Vergessen hilft. Aber nicht wirklich.
 

 

Siebgebers Kolumne entstand in den späten Jahren der Merkel-Herrschaft, die geprägt wurden durch ein Klima des politischen Konformismus und der Zuspitzung gesellschaftlicher Differenzen nach dem Motto Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich und muss aus der öffentlichen Debatte entfernt, zumindest unsanft an den Rand gedrängt werden. Gleichzeitig wurden politische Entscheidungen getroffen, deren Brisanz für jeden Einsichtigen offenlag und deren verheerende Auswirkungen das Land gegenwärtig nach und nach zu spüren beginnt.
Siebgebers Aufzeichnungen enden am 8. Mai 2020. Zusammengefasst und nach Themen geordnet lassen sie sich nachlesen in dem Buch Macht ohne Souverän. Die Demontage des Bürgers im Gesinnungsstaat, das 2019 erschien und nebenher das Pseudonym, besser, die literarische Maske des Autors aufdeckte. Im Land der Masken wirkt dergleichen Mummenschanz ohnehin wie aus der Zeit gefallen. Was nicht gegen ihn sprechen sollte.
Ulrich Schödlbauer

Niemand bestreitet (im Prinzip), dass im syrischen Bürgerkrieg Verbrechen schrecklichen Ausmaßes begangen werden. Niemand bestreitet (im Prinzip), dass alle Seiten an diesem Verbrechensaufkommen beteiligt sind. Niemand bestreitet (im Prinzip), dass der fortgesetzte Bürgerkrieg, wie immer man seine Ursachen und Anfänge beurteilt, ein Verbrechen darstellt, begangen am syrischen Volk, also an den Bewohnern dieses unglücklichen Landes, denen das Leben (und Lebenlassen) wichtiger ist als die Durchsetzung einer abstrakten und bluttriefenden Doktrin. Niemand bestreitet (im Prinzip) die Namen der direkt und indirekt beteiligten Parteien. Niemand bestreitet (im Prinzip), dass dieser Krieg seine Terror-Ableger in die Zentren der westlichen (und östlichen) Welt trägt.

Niemand bestreitet (im Prinzip), dass die durch den Krieg ausgelösten Flüchtlingsströme, verstärkt durch Migrationen aus anderen, mittels Kataklysmen ähnlichen Ursprungs zerstörten Weltgegenden, sich zu einem desintegrierenden Faktor jener Gesellschaften der westlichen Hemisphäre entwickeln, die sich selbst die ›fortgeschrittenen‹ nennen.

Auffällig viele Niemande, die sich da drängeln, finden Sie nicht auch? Es wäre an der Zeit, sie zu sammeln, zu vergleichen und über einen Kamm zu scheren: Wer ist dieser Niemand? Was verfolgt er? Warum bleibt er, verborgen hinter der Maske des Sprechenden, hartnäckig niemand? Jemand könnte einwenden, niemand sei imstande, solche Fragen beantworten. Ist das ein Einwand? Niemand bestreitet, dass niemand Bescheid weiß, außer Wikileaks vielleicht, aber Wikileaks kommt nicht in Betracht. Wer Bescheid weiß, schweigt, oder er kommt nicht in Betracht – sexual assault! Putin-Dependance! Das Schulterzucken gehört zu diesem Krieg wie die Brandfackel zu Neros Rom oder Jürgen Todenhöfer zum deutschen Orientbild.

Das Bescheidwissen, zu dem niemand steht, ist eines der unbegreiflichen Wunder menschlicher Kommunikation, nur vergleichbar mit der Kompliziertheit des kleinen Fingers, in dem bekanntlich mehr Intelligenz steckt als in einem Leitartikel, der zu nichts weiter anleitet als zum Wegsehen und zum Drüberwegreden. Man gebe mir eine Sendung und ich gebe dem Affen Zucker. So ist allen gedient. Amerika, an Hollywood geschult und im Vollgefühl seiner welthistorischen Mission, muss keine besonderen Vorkehrungen treffen, um zu tun und zu sehen, was ihm beliebt – das ist eine Bedeutung der Formel ›too big to fail‹. In Europa, das, wie die andere Formel lautet, sich ›seiner Verletzlichkeit sehr bewusst‹ ist, ticken die Uhren anders. Das europäische Kino, darauf geeicht, in einfühlsamer Entschiedenheit nichts zu sagen (außer vielleicht: die Welt ist schlecht und ›wir‹ sind schuld), präludiert der allgemeinen Bestürzung über den durch die Untiefen der amerikanischen Politik irrlichternden Herrn Trump, als sei es zu lange mit seiner Erfindung beschäftigt gewesen, habe sich dann aber doch nicht getraut. Nun ist er da und alles, was man über ihn und sein Mundwerk zu schwätzen und zu schreiben wagt, wurde Stunden oder Minuten zuvor jenseits des Atlantik geschwätzt und geschrieben – eine Art Maulfäule und eine Steigerung, kein Zweifel, eine Steigerung im Erreichten, die für die nahe Zukunft hoffen lässt. Trump ist da heißt: die Stunde des allgemeinen Entsetzens ist gekommen und niemand darf sich ihm entziehen. Eine Lösung für Syrien? Wir sind entsetzt. Ausgleich in der Ukraine? Wir sind entsetzt. Aufhebung der Russland-Sanktionen? Wir sind entsetzt. Kritik am Nato-Gebaren? Wir sind entsetzt. Kritik an Clint- … oh! Wir sind betreten.

Der Betretensten einer hat mir jüngst geschrieben. Ich habe die Mail nicht beantwortet – nicht, weil mir nichts dazu eingefallen wäre oder ich sie aufheben wollte, um gegen den Schreiber etwas in der Hand zu behalten, sondern weil mich ein seltsamer Unwille überkam: Was ist erbärmlicher, dachte ich mir, eine durch die unsichtbare Hand des Meinungsmarktes zerbrochene Freundschaft oder die mit dem Leid Hunderttausender und der Aussicht auf kommende Katastrophen erkaufte Urteilslosigkeit einer der Aufklärung verpflichteten Klasse von Wortspekulanten, die sich vor Aufregung über ein p-word bep***, um die simple Wahrnehmung zu verdecken, dass eine Weltmacht lieber sich und ihre Gefolgschaft der Lächerlichkeit preisgibt, als von einer politisch-ökonomischen Agenda abzurücken, deren Durchsetzung illusorisch scheint, deren Erfolg hingegen durch eine endlose Serie von Misserfolgen gesichert wird, die den Trumps dieser Welt immer neue Verdienstmöglichkeiten eröffnet? Mag sein, soll er geäußert haben, ich bin der erste Präsidentschaftskandidat, für den sich der Wahlkampf rechnet. Wichtig ist nicht, ob’s stimmt, wichtig wäre, den Bauchrednern einer großen Nation, deren Geschäftsgrundlage so unverblümt aus derlei Worten spricht, die Spesen zu entziehen.

Kolumnen

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