von Christoph Jünke
Victor Serge: Die große Ernüchterung. Der Fall Tulajew, Frankfurt/M. (Edition Büchergilde) 2012, 448 Seiten.
Die US-amerikanische Schriftstellerin Susan Sontag nannte ihn »einen der faszinierendsten moralischen und literarischen Helden des 20. Jahrhunderts«, ihr Landsmann und Kollege Adam Hochschild »einen der unbesungenen Heroen eines korrupten Jahrhunderts: eine Gestalt von großer politischer Courage und Menschlichkeit«.
Für den italienischen Linksphilosophen Antonio Negri war er »einer aus dem Geschlecht der Riesen, ein Gigant im Kampf für Freiheit und kollektives Glück«, und für den US-amerikanischen Soziologen Mike Davis »der wahrscheinlich größte Arbeiter-Schriftsteller des 20. Jahrhundert«. Auch der britische Autor und Literaturkritiker Christopher Hitchens drückte mehrfach seine hohe Wertschätzung für den marxistischen Romancier aus, während Tony Benn, der große alte Mann der britischen Labour-Linken, Werbung machte für dessen historische Schriften. Der russische Dichter Yewgeni Yewtuschenko schließlich hat einmal berichtet, wie ihm bei einer Lesereise in Mexiko im Jahre 1968 die Finger erstarrten, als ihm Freunde ermöglichten, auf der Original-Schreibmaschine von Victor Serge die Geister der Vergangenheit erneut zum Leben zu erwecken.
So bemerkenswert diese Zeugnisse sind, so hoffnungslos wäre das Ansinnen, Vergleichbares auch aus deutschem Munde oder deutscher Tastatur zusammenzutragen. Hier ist Victor Serge nie wirklich angekommen. Dabei hatte es auch im alten Westdeutschland, vor allem im »roten Jahrzehnt« der 1970er Jahre, nicht an Versuchen gefehlt, Serges Arbeiten einem breiten Publikum bekannt zu machen. Seine Erinnerungen eines Revolutionärs wurden mehrfach neu aufgelegt und gleichzeitig diverse seiner historischen Schriften, Essaysammlungen und Romane erstmals ins Deutsche übertragen. Wie so vieles andere wurden jedoch auch diese Schriften im Laufe der achtziger Jahre, nach dem Zerfall dessen, was einmal die Neue Linke war, wieder vergessen und verdrängt, so dass man seinen Namen in dem zu Ende desselben Jahrzehnts veröffentlichten Lexikon linker Leitfiguren vergeblich sucht.
An fehlenden Affinitäten kann diese bemerkenswerte Mischung aus An- und Abwesenheit kaum gelegen haben. Serges große Themen – das Schicksal der sowjetrussischen Revolution und ihre realsozialistischen Folgen; die Fragen nach den Blockaden und Sackgassen sozialistischer Emanzipationsprozesse; das Verhältnis von Sozialismus und Barbarei; der scheinbar ewige Kreislauf von linkem Scheitern und Neubeginnen – sollten, möchte man meinen, auch die großen Themen der deutschen Linken und Intellektuellen sein. In Deutschland jedoch konnte zwischen bürgerlichem (und d.h. immer auch sozialdemokratischem) Antikommunismus und stalinistischem Kommunismus Drittes nur wachsen, wenn es sich gleichzeitig von der sozialistischen Idee verabschiedete. Antistalinismus wurde hier politisch und gesellschaftlich immer nur als Antikommunismus toleriert – in West wie Ost. Das jedoch war nicht die Sache von Victor Serge.
In seinen jungen Jahren Anarchist, ging der 1890 in eine russische Exilfamilie Geborene und in Westeuropa aufgewachsene 1918 ins revolutionäre Sowjetrussland und wandelte sich dort schnell zum überzeugten Bolschewisten. Unter dem Eindruck zuerst der autoritären Wende nach dem sowjetischen Bürgerkrieg und dann der zunehmenden Bürokratisierung der Revolution im Laufe der zwanziger Jahre entwickelte er sich langsam zum linken Oppositionellen und lernte deswegen am Ende dieses Jahrzehnts die sowjetrussischen Gefängnishöfe als – O-Ton – die letzten Zufluchtsorte freier sozialistischer Forschung und Diskussion kennen. Es war die Zeit, in der die Sieger ihre eigene Geschichte umzuschreiben begannen, die Zeit der beginnenden Geschichtsfälschung durch den stalinistischen Apparat, und Serge sah seine künftige Aufgabe darin, dieser Entwicklung etwas entgegenzusetzen. Der gelernte und erfahrene Journalist nutzte fortan sein Können, seine erzählerischen Fähigkeiten, seine intime Kenntnis der abgelaufenen Prozesse und seine immensen Kontakte zu den unterschiedlichsten Milieus der sowjetrussischen Gesellschaft, um sich unter dem kaum verhüllten Auge der ihn überwachenden Staatsorgane zum Chronisten, Historiker und Literaten der Linken Opposition zu mausern.
Seine Schriften der dreißiger und vierziger Jahre sind einfach und verständlich gehalten und geben der wirklichen Revolutionsgeschichte ihre ganze Menschlichkeit zurück, ihren Heroismus ebenso wie ihre Niedertracht, ihre Stärken wie ihre Schwächen. Mit scharfem, nüchternem Blick und einer praktisch erprobten politischen Psychologie berichtet er uns in zum Teil bewegenden Miniaturen von bekannten und unbekannten Menschen, von Menschen, die unschuldig zu Opfern oder kaltblütig zu Tätern wurden, von kommunistischen Karrieristen und verdienten Revolutionären, die persönlich zerbrechen oder standhaft in den Abgrund gehen. Serge richtet dabei seinen sozialistisch-humanistischen Blick nicht zuletzt auf den einzelnen Menschen, um das Typische seiner Zeit und seiner Geschichten herauszuarbeiten. Es erinnert hier viel, sehr viel an jenen Lukács, der diesen Wechsel zur politischen Ästhetik damals gerade zu theoretisieren begann. Nur gibt sich Serge wenig Mühe, und dies unterscheidet ihn von seinem politischen Freund, seine politische Ästhetik äsopisch zu tarnen.
Bedenkt man die jahrzehntelangen Streitereien über die wirklichen Motive und Verlaufsformen der stalinistischen Repression, so nötigen diese zeitgenössischen Analysen noch heute größten Respekt ab. In einer Zeit der Gerüchte und Verleumdungen, der Geheimhaltung und Unwissenheit, der Ideologien und Fälschungen, stellen sie die entscheidenden Fakten dar, verdeutlichen die hinter diesen stehenden Zusammenhänge und Motivlagen und ziehen politische Schlussfolgerungen, die noch immer dem meisten überlegen ist, was seitdem zum Thema geschrieben und diskutiert wurde.
Entsprechend richtete sich das Publikumsinteresse lange Zeit vor allem auf seine historischen und politisch-theoretischen Werke, während der Romancier Serge etwas außen vor geblieben ist. Zu Unrecht, wie jüngst ein angelsächsischer Rezensent nochmals verdeutlichte: »Als Romanschriftsteller erreicht Serge auf erfinderische Weise, was er als Aktivist nicht schaffte – er argumentiert für eine Gesellschaft der Individuen, in der jede und jeder ein Recht auf eigene Würde hat und dieses Schicksal mit der ganzen Nation teilt. Dies ist Serges großer Beitrag – er ist einzigartig in seiner Fähigkeit, die doppelte Natur der Menschen als Individuen im umfassend libertären Sinne wie als Mitglieder einer größeren Gemeinschaft heraus zu kitzeln. Aus diesem Grunde transzendiert Serges Romanliteratur die ›Politik‹ und gibt seinen politischen Anschauungen ihren vollsten Ausdruck.« (Guy Cunningham)
Man kann dies nun endlich wieder selbst studieren, denn mit seinem in den vierziger Jahren entstandenen Spätwerk Der Fall Tulajew hat die Edition Büchergilde Serges wohl besten und wichtigsten Roman neu aufgelegt. Am Beispiel eines fiktiven Falls, aber in offensichtlich enger Verwobenheit mit realen Figuren und Begebenheiten, beschreibt Serge hier die Stimmung zur Zeit der Moskauer Schauprozesse, verdeutlicht den damaligen Alltag und die ihm eigenen Frustrationen, führt in die Welt einfacher Arbeiter und Parteimitglieder wie auch hoher Parteifunktionäre ein – auch Stalin selbst, der »Chef« tritt auf – und macht die Logik des stalinistischen Terror-Regimes, seine politischen, sozialen und kulturellen Grundlagen und Ausprägungen, seine Mischung aus Rationalität und Irrationalität transparent. Und dies auf einem literarischen Niveau, das den Vergleich mit der anderen politischen Romanliteratur jener Zeit nicht zu scheuen braucht.
Viel erinnert hier an Autoren wie Arthur Koestler, André Malraux oder, mehr noch, George Orwell. Serges literarische Figuren – wie bei Orwell kaum verhüllte Spiegelbilder seiner selbst – unterscheiden sich allerdings deutlich von denen Orwells. Auch bei Serge finden wir den Blick auf das einzelne Individuum, aber nicht als isolierten Einzelnen. Auch sein großes Thema war das Scheitern, doch gefallen hat er sich in diesem nie und hielt es auch nie für zwangsläufig. Es fehlte sicherlich auch Serge nicht an persönlicher Verzweiflung – man spürt sie deutlich in seinen Romanen –, denn er war auch nur ein Mensch. Aber er machte daraus keine wohlfeile Ideologie. So sehr er sich auch von den damaligen Zeitläufen hat verunsichern lassen, er hat sich dabei seine eigene Biografie niemals verderben lassen. So offen er für Kritik an den bolschewistischen Traditionen auch gewesen ist, so wenig hat er die welthistorische und weltpolitische Bedeutung der bolschewistischen Revolution und ihren widersprüchlichen Doppelcharakter als der gleichzeitig letzten bürgerlichen wie der ersten sozialistischen Revolution verkannt. Und weil er jene kannte, die der Entartung der Revolution widerstanden haben, und wusste, dass dies nicht wenige waren, verstand er es als seine ureigenste Aufgabe, diesen Menschen über Gulag und Tod hinaus eine Stimme zu geben und die Erinnerung an sie wachzuhalten. Die wichtigste Aufgabe war ihm, wie er einmal sagte, die des Überlebens – die Aufgabe des Überlebens der alten Ideen wie des Überlebens einer inneren Solidarität der sozialistischen Linken.
Beides ist bekanntlich nur bedingt gelungen. Die internationale sozialistische Linke hat den langen Schatten des Stalinismus kaum wirklich überwunden, ist noch immer mehrfach zersplittert und desorientiert. Und Serge selbst ist bereits Ende 1947, vor nun 65 Jahren, allzu früh im mexikanischen Exil verstorben.
Man hat damals versucht, auch ihn für den konservativen Antikommunismus des aufziehenden Kalten Krieges zu vereinnahmen. Und interessanterweise war es gerade Der Fall Tulajew, der deswegen 1950 als erstes seiner Bücher in der Europäischen Verlagsanstalt auch auf Deutsch erschien. Doch ohne Erfolg: die damalige Veröffentlichung hinterließ keinerlei Spuren in der öffentlichen Diskussion und wurde auch später vollkommen ignoriert. Tatsächlich gehört Serge gerade nicht in die von vielen so gepriesene oder gemiedene (je nach politischer Couleur) Riege antikommunistischer Renegaten, seine Haltung war stattdessen die einer »solidarischen Kritik« der Bolschewiki. Das machte und macht ihn dem bürgerlichen Establishment (mit Ausnahme gewisser linker Ränder) ebenso suspekt wie den meisten linken Strömungen (mit Ausnahme gewisser linker Ränder).
Schade ist deswegen, dass die verdienstvolle Neuauflage dieses Werkes in der Edition Büchergilde zwar dazu genutzt wurde, die alte Übersetzung neu zu bearbeiten, der alte verfälschende Titel (Die große Ernüchterung) allerdings beibehalten wurde. Dabei hat dieser antikommunistische Gefühle provozierende Titel mit dem Geist des Werkes wenig, mit seinem Originaltitel (dem heutigen Untertitel) gar nichts zu tun. Auch dass als sicherlich notwendige Einleitung zur Neuausgabe auf einen tendenziösen Text Walter Laqueurs zurückgegriffen wurde, in welchem Serge fälschlicherweise zum antikommunistischen Sozialdemokraten gestempelt wird, tut weh. Der Sache des literarischen Werkes angemessener wäre es gewesen, auf jene überaus würdige und anregende Einführung von Susan Sontag zurückzugreifen, die der englischen Fassung zur Ehre gereicht und auch bereits auf Deutsch (in ihrem Sammelband Zur gleichen Zeit, Frankfurt/M. 2010) vorliegt.
Das sollte aber nicht vom Kauf und Lesen abhalten, denn Der Fall Tulajew ist nicht nur ein literarischer »Genuss« und eine herausragende zeitgenössische Auseinandersetzung mit dem stalinistischen Furor. Die Neuauflage kommt auch zur rechten Zeit – in einer Zeit nämlich, in der die Öffnung der sowjetischen Archive eine umfangreiche Neudiskussion dieser Zeit ausgelöst hat, die jedoch über neokonservative wie neostalinistische Schablonen kaum hinwegzukommen scheint. Victor Serge war da in vielem weiter, schon vor einem dreiviertel Jahrhundert.
Eine gekürzte Print-Fassung dieses Beitrags erschien in Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 11/2012.
Abb.: Victor Serge, vor 1900 (Wikimedia Commons, gemeinfrei)