von Herbert Ammon

›Wende‹ oder Revolution? Zu den Vorzügen des vorliegenden Buches gehört, dass sein Autor sich nicht der Tendenz unterwirft, die alles umstürzenden Ereignisse im Herbst 1989 im Sprachduktus der zu demokratischen Sozialisten gewendeten Kommunisten zur bloßen ›Wende‹ zu verflachen, sondern als das zu benennen, was zum Erstaunen der Welt wirklich stattfand: eine Revolution. 

Detlef Pollack: Politischer Protest. Politisch alternative Gruppen in der DDR, Opladen (Leske – Budrich) 2000, 282 S.

Wie aber kam es zu dieser friedlichen deutschen Herbstrevolution? War sie ein Werk der Bürgerrechtler und ihrer Gruppen, eine Volksrevolution, ein Geschenk Gorbatschows oder eine bloße »exit-Revolution«, ein von Claus Offe erfundener Terminus für die im September 1989 einsetzende Massenflucht der DDR-Bürger über die als gefahrlos erkannte ungarisch-österreichische Grenze? Einen theoretisch anspruchsvolleren Rahmen möchte der an der Viadrina in Frankfurt/O. lehrende Kultursoziologe Detlef Pollack angelegt wissen. In Anlehnung an ein Modell Pierre Bourdieus (Homo academicus, 1988) sieht er in Revolutionen das Zusammenfallen von bislang unvermittelten Handlungssträngen und Ereignisketten, oder anders: die Interaktion von revolutionsträchtigen Strukturen und Ereignissen, wobei auch das Moment der Zufälligkeit nicht zu vernachlässigen sei. Als Erklärungsmodell klingt das nicht so neu, zur Revolution gehört seit je deren Multikausalität.

Ähnlich wie Hubertus Knabe begreift Pollack die DDR-Opposition als »neue soziale Bewegung« (NSB), als eine Art zeitverschobene Achtundsechziger-Bewegung, den grün-alternativen NSBs der westlichen Gesellschaften zwar verwandt, aber im Kontext der DDR als einer »semimodernen Industriegesellschaft« doch wieder anders: Die Oppositionszirkel seien »als Gruppen [anzusprechen], die sich im Übergang zu einer sozialen Bewegung befanden, diesen Übergang aber noch nicht vollzogen hatten«. Weiter heißt es: »Gruppen sind nicht bloße Ballungen von sozialen Prozessen..., sie sind mehr als Interaktionsverdichtungen. Worin dieses ›Mehr‹ allerdings besteht, darüber herrscht keineswegs Klarheit.«

Ob Pollack mit Begriffen wie ›Organisationsgesellschaft‹, ›semimoderne Industriegesellschaft‹ oder ›Mischgesellschaft‹ zu mehr Klarheit hinsichtlich des DDR-Systems verhilft, sei dahingestellt. Andererseits rückt er die Dimensionen und die politische Bedeutung der Bürgerrechtsbewegung zurecht: Die dreihundert bis vierhundert Gruppen, mit jeweils etwa zehn bis fünfzehn Mitgliedern, also in toto nie mehr als vier- bis sechstausend Personen, bildeten innerhalb der DDR-Gesellschaft eine verschwindende Minderheit. Zu keiner Zeit sei ihnen angesichts ihrer Marginalität ein politischer Mobilisierungseffekt möglich gewesen, nicht zuletzt aufgrund der selbstgewählten Distanz zur als konformistisch und konsumistisch verachteten Mehrheit.

Ihr gespaltenes Verhältnis zur ›Ausreiser‹-Bewegung – ein auch im Westen lange ignoriertes Phänomen – hinderte sie, hier politische Verbündete, ja den eigentlichen Hebel zur Überwindung des Regimes zu erkennen. Als »den eigentlichen Schwachpunkt« der Opposition kritisiert Pollack die »Geringschätzung der ostdeutschen Bevölkerung«. Dass dabei die Gruppen aus spezifisch deutschen Motiven den Bezug auf die deutsche Teilung mieden, gilt jedoch nicht für den Naumburger Zirkel um Edelbert Richter.

Was heute schon oft vergessen ist: In den meisten Gruppen wurde man von der Dynamik der Herbstrevolution ebenso überrascht wie in den höchsten Etagen des Regimes. Trotz mancher Längen lohnt das Buch die Lektüre, allein dank der Darstellung der Herbstrevolution im letzten Kapitel. Hier gelingt es dem Autor, die eingangs theoretisch anvisierte Sequenz von Ereignissen und Aktionen im Revolutionsprozess zur Anschauung zu bringen. Er bereichert unser Wissen über das historische Herbstwunder, über die Kopflosigkeit des Regimes, über die Fehlkoordination in den Befehlsketten, über ›General Zufall‹ mit mancherlei Details.

Wie Schabowski und Krenz – letzterer eher halbherzig – gegen den kranken Honecker konspirierten, ist bekannt. Wie aber kam es dazu, dass bei der entscheidenden Leipziger Großdemonstration am 9. Oktober die Staatsmacht, die Staatssicherheit ausfiel? Am Abend wartete die Einsatzleitung mit dem ersten Bezirkssekretär Helmut Hackenberg an der Spitze angesichts der näherrückenden Volksmassen vergeblich auf einen Anruf von Egon Krenz. Als die fünfzigtausend Demonstranten den Hauptbahnhof, den Punkt, wo die Demonstration von den ›Sicherheitskräften‹ gestoppt werden sollte, passiert hatten, sagte Hackenberg plötzlich: »Nu brauchen se auch nicht mehr anzurufen, nu sind se ´rum.«


Auch in: zeitzeichen, 2. Jahrgang, 7/2001, Seite 66. (leicht abweichende Version)
Eine Auslassung betraf den von Detlef Pollack kritisierten fehlenden Bezug der Opposition zur DDR-Bevölkerung und zur ›nationalen Frage‹.

Notizen für den schweigenden Leser

Kultur / Geschichte

  • von Ulrich Schödlbauer

    Mein lieber ***

    auf Ihrem Weblog las ich vor wenigen Tagen die Bemerkung, es sei besser ein wenig Licht zu verbreiten als schmollend im Dunkeln zu verharren. Das ist, ohne jeden Zusatz gedacht, die Formel der Aufklärung, zuzüglich des Schmollens, auf das ich noch zu sprechen kommen werde. Man kann diese Formel heute überall finden. Sie ist der Weichmacher der Informationsgesellschaft, in der die digitalen Flutlichtanlagen jeden Winkel aufs Grellste ausleuchten (und das...

    Weiterlesen …

  • von Jobst Landgrebe

    Die politische Geschichte ist die Geschichte des Kampfes unter Gleichen, merkte der Aphoristiker Gómez Dávila einst an, wörtlich schrieb er: »Die Klassenkämpfe sind Episoden. Das Gewebe der Geschichte bildet der Konflikt zwischen Gleichen.« Norbert Elias erkannte, dass die Kulturgeschichte die Geschichte der Kultur der Eliten ist. Wer sind die Eliten? Menschen, die dauerhaft mehr Macht haben als fast alle anderen Menschen einer Gesellschaft - in der Regel ein Promille der...

    Weiterlesen …

Politik / Gesellschaft

  • von Heinz Theisen

    Selbstbehauptung durch Selbstbegrenzung in einer multipolaren Welt

    Der Westen hat kein Monopol auf Modernisierung mehr. Je weniger es nur eine Moderne, den Westen gibt und neue Formen der Modernisierung entstehen, desto mehr werden auch Indien und China politisch ihre eigenen Wege gehen.

    Mit der moralischen, den Westen in seiner Hegemoniebestrebungen legitimierenden Unterscheidung von Demokratie und Diktatur werden wir der Multipolarität der Welt nicht gerecht, zumal die meisten...

    Weiterlesen …

  • von Heinz Theisen

    Globales Denken als lokaler Ruin

    Zu den großen Paradoxien der Gegenwart gehört der Wechsel der einstmals »antiimperialistischen Linken«, die im Gefolge der USA zur Eroberung des eurasischen Raumes in die Ukraine vorgerückt sind. Heute verteidigen sie dort mittels Waffen- und Finanzhilfen den NATO-Mitgliedsanspruch der Ukraine unter Inkaufnahme schwerster eigener Verwerfungen: ihre einstige Entspannungspolitik, die infantile Parole vom »Frieden schaffen ohne Waffen«, aber auch die...

    Weiterlesen …

Souverän für Amerika

  • von Ralf Willms

    I

    im Grunde viel versprochen

    die Pyramiden, das sei nicht die 
    eigentliche Geschichte, da sei eine
    verschwiegene Geschichte
    unterhalb der Geschichte.

    Weiterlesen …

Iablis. Jahrbuch für europäische Prozesse

Besprechungen

  • von Johannes R. Kandel

    David L. Bernstein, Woke Antisemitism. How a Progressive Ideology Harms Jews. New York/Nashville, 2022 (Post Hill Press, Wicked Son Books), 213 Seiten

    David L. Bernstein hat ein bedeutsames Buch geschrieben, das einen häufig unterschätzten oder gänzlich verdrängten Aspekt woker Ideologie beleuchtet: den mehr oder weniger krassen Antisemitismus! Nicht erst seit den widerwärtigen Ausbrüchen antisemitischen Hasses an US-amerikanischen Universitäten nach dem 7. Oktober 2023, ist...

    Weiterlesen …

  • von Felicitas Söhner

    Karol Czejarek: Autobiografia. Moja droga przez zycie, Zagnansk (Swietokrzyrskie Towarzystwo Regionalne) 2024, 414 Seiten

    Autobiografien sind ein schwieriges Genre. Zu oft geraten sie zur Selbstbeweihräucherung oder versacken in endlosen Anekdoten. Karol Czejareks Mein Weg durch das Leben aber macht es anders. Das vor kurzem auf polnisch erschienene Werk ist nicht bloß eine Erinnerungsschau, sondern ein Dokument, das ein Jahrhundert europäischer Geschichte durch ein...

    Weiterlesen …

  • von Ulrich Schödlbauer

    Jobst Landgrebe / Barry Smith: Why Machines Will Never Rule the World. Artificial Intelligence without Fear, 415 Seiten, New York und London (Routledge), 2. Auflage 2025

    Einst stellte Noam Chomsky die Frage: »Who rules the world?« Bis heute gibt es darauf eine klare und eindeutige Antwort: Solange keine Weltregierung existiert, niemand. Allerdings hat sich, so weit westliche Machtprojektion reicht, eine etwas andere Auffassung festgesetzt. Sie lautet: Wer sonst als die...

    Weiterlesen …

  • von Herbert Ammon

    Jörg Baberowski: Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich, München (Verlag C.H.Beck) 2024, 1370 Seiten

    Hierzulande löst der Name Carl Schmitt – assoziiert mit der Negativfigur des ›Kronjuristen des Dritten Reiches‹ – gewöhnlich nur moralische Entrüstung aus. Grundlegend für Schmitts politische Theorie sind Begriffe aus dem Leviathan, dem Werk des Verteidigers des Stuart-Absolutismus Thomas Hobbes. Entgegen dem demokratischen Selbstbild – der im...

    Weiterlesen …

Manifesto Liberale

 

Herbert Ammons Blog: Unz(w)eitgemäße Betrachtungen

Globkult Magazin

GLOBKULT Magazin
herausgegeben von
RENATE SOLBACH und
ULRICH SCHÖDLBAUER


Sämtliche Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der Urheber. Front: ©2024 Lucius Garganelli, Serie G

 

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Sie sind essenziell für den Betrieb der Seite (keine Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.