Kulturkomparatistik und die Rätsel der Zeit

Diese Beobachtung führt uns auf eine Ebene, auf der, so scheint mir, ein intensiver Dialog – und davon handeln meine abschließenden Überlegungen – zwischen Ritual- und Erinnerungsforschung einerseits und der Kulturkomparatistik andererseits Früchte tragen kann. Das zwischen dem Department für Asienstudien an der Universität München und dem Institut für Altamerikanistik und Ethnologie an der Universität Bonn vereinbarte Forschungsprojekt »Schrift, Ritual und kulturelles Gedächtnis – das Alte China und Mesoamerika im Vergleich« hat diesen Weg eingeschlagen und versucht eine Brücke zwischen Ritual- und Gedächtnisforschung zu schlagen. Die Wahl geschichtlich weit zurückliegender Kulturphänomene berührt natürlich auch solche Fragen, wie die nach den begrifflichen und methodischen Voraussetzungen historischer Rekonstruktionen. Ohne diese hier im einzelnen diskutieren zu wollen, möchte ich daher kurz auf das mit den Erinnerungsprozessen verbundene große Problem der Zeiterfahrung zu sprechen kommen.

Betrachten wir die Begriffe Gedächtnis und Erinnerung in Verbindung mit der Erfahrung von Zeit, so zeigen sich wichtige Unterschiede, die gleichwohl (nach dem heutigen Stand des Wissens) erst aus beiden mit diesen Begriffen belegten Propositionen ein Ganzes machen. Das Erinnern gilt den partikularen Ereignissen, also dem, was in das Bewußtsein ›ein-fällt‹, ein jähes Geschehen wie es das französische Verb »souvenir« andeutet. In der wissenschaftlich fundierten historischen Erinnerung stehen daher auf der Agenda des spezifischen Vergewisserungskatalogs die Individualnamen der in die Ereignisse verstrickten Akteure (d. h. der historischen Subjekte) und die Bestimmung kalendarischer Daten (der Ereignisse). Kollektives und individuelles Erinnern sind nicht weniger ereignisbezogen, arbeiten aber im Gegensatz zum historischen Erinnern, das dem Gebot narrativer Kontrollen unterworfen ist, in der Regel frei von solchen Kontrollen und haben eine starke Affinität zur Legendenbildung. Legenden aber sind auf eine merkwürdige Art zeit-los, zumindest solange sie selbst in der Zeit nachhaltig weiter existieren. Und das tun sie vor allem dann, wenn eine Gemeinschaft sie ihren kommunitären Ritualpraktiken – z.B. anläßlich politischer oder religiöser Feste – als Traditionsnarrativ einverleibt.

Der Gedächtnisbegriff hinwiederum bezeichnet keineswegs nur den Container partikularer Ereigniserinnerungen (man darf sich hier der zahllosen räumlichen Gedächtnismetaphern erinnern), er steht vielmehr für die kognitive Organisation des Erinnerten, denn Gedächtnis und Gedanke sind ebenso Zwillinge wie Andenken und Gedenken. Insofern ist dem Gedächtnisbegriff nicht nur die Bedeutung ›Orientierung im Fluß der Zeit‹ sondern auch die Funktion des »historischen Bewußtseins« zuzuschreiben. Mit anderen Worten: Das Gedächtnis stiftet zeitliche Kontinuität. Es umfaßt somit die Fähigkeit, die Gegenwart auf dem Umweg über die Vergangenheit auf die Zukunft vorzubereiten, freilich in einem pro-visorischen Sinn. Wenn ich z. B. die Vergangenheit als einen »Friedhof gebrochener Versprechen« (Ricœur) begreife, werde ich eine andere Zukunftsvision zum Leitstern meines gegenwärtigen Handelns machen, als wenn ich mich dem Club derer anschließe, die mit der Formel »Alles ist gut!« auf den Lippen in antiquarischer Bewunderung vor dem Alten in die Knie sinken. Daher die zentrale Rolle der Kritik im Prozeß geschichtswissenschaftlicher Retrospektionen. Sie kann im Verein mit der methodologischen Skepsis verhindern, daß das kollektive Gedächtnis in bloßes Wiederkäuen und in obskurantistische Kontinuitätsfantasien verfällt.

Der Schritt von der Diskussion des Gedächtnisses als Organon zeitlicher Orientierung zur Forderung nach wissenschaftlicher Kritik als Korrektiv zwanghaften Gedächtnismachens erscheint mir notwendig, um die Funktionen des Rituellen im Rahmen der Gedächtnisdiskurse und der Konstruktion von Zeit richtig einschätzen zu können. Keine Kultur ohne Zeit-Konstruktionen, keine Zeit-Konstruktion ohne Ritualisierungen: Die religiösen Kalender sind zugleich Ritualkalender, entstanden aus Kämpfen um den Sieg über konkurrierende Lehren und die legitime Macht der jeweiligen Doktrin. Vergessen wir nicht, daß der gregorianische Kalender, der das okzidentale historische Gedächtnis beherrscht, auf ein Exekutionsritual (die Kreuzigung des Jesus von Nazaret) zurückgeht, das seinerseits auf rituelle Weise zum Beginn einer neuen Zeitrechnung geführt hat. Doch wir brauchen nicht nach Äonen zu rechnen, um den engen Konnex zwischen temporalem Gedächtnis und rituellen Zeitkonstrukten zu bemerken. Denn jeden Tag werden wir auf diesen Zusammenhang gestoßen, wenn wir die »kleinen Pietäten« (Goffman), die Mikrorituale des Grüßens und des Verabschiedens vollziehen, in deren sinnbildlicher Gestik Erinnerung und Erwartung zusammenfließen. Folgt nicht auch die wöchentliche Zeiteinteilung mit ihrer Sonntagsbesinnungspause ritualisierten Sequenzen? Und was ist mit dem Jahresablauf, ist dessen Ordnung, der den Verlauf skandierende Wechsel von Alltag und Festtag, nicht auch das Produkt einer, wenn auch weitgehend vergessenen Ritualkultur?

Der ethnologische Ritualexperte (Rappaport) macht uns darauf aufmerksam, daß die zeitkonstruierende Leistung des Rituellen nicht mit der Zeitstruktur zu verrechnen ist, die sie erzeugt. Die rituelle Konstruktion der Zeit vollzieht sich vielmehr in einer anderen als der willkürlichen Zeitrechnung (womit nicht nur die Uhrzeit, sondern jede Art der Zeitmessung gemeint ist). Sie vollzieht sich in den Intervallen, in einer »time out of time«, die nicht nur eine objektive liturgische Ordnung repräsentiert, sondern die auch die individuelle Zeiterfahrung in ungewöhnlicher Weise erweitern kann. »An den Orten des Gebets wußte ich,« schreibt ein zeitgenössischer Pilger über seine Erfahrungen in Mekka, »daß ich [der] Vergangenheit [meines eigenen Todes] entgegenging und sie mir – was auf dasselbe hinausläuft – entgegenkam. An den anderen Orten folgte sie mir und holte mich stets ein, um mich alsbald in eine Art ironische Unentschlossenheit zu entlassen, die sowohl mit dem Provisorischen als auch dem Definitiven zusammenhing. Ich entdeckte meine Existenz von neuem« (Abdellah Hammoudi). Beispiele liefern aber nicht nur die rituell induzierten religiösen Ekstasen, sondern auch jene zivilisatorisch konstruierten Natur- und Lebenszyklen, deren rhythmische Zeitmodulationen und Takteinteilungen ohne die für diesen Zweck erfundenen Riten gar nicht denkbar sind. Es ist, als würde die Zeit während des rituellen Vollzugs in einem ganz anderen Sinn als dem des auf einer Linie ins Ziel fliegenden Pfeils zum Gegenstand einer simultan mehrere Dimensionen umfassenden Betrachtung und Erfahrung.

Diese kurzen Bemerkungen wären allzu einseitig, würde das Nachdenken über die eigenartigen Verbindungen zwischen erinnerter und rituell konstruierter Zeit nicht auch die Differenzen in den Zeitanschauungen verschiedener Kulturen reflektieren. Doch mehr als ein Hinweis und eine Vermutung sind an dieser Stelle nicht möglich. Der französische Philosoph und Sinologe François Jullien hat sich in seinen vergleichenden Studien über die klassischen Denkmodelle der antiken Literaturen Europas und Chinas auch mit den Zeitbegriffen des einen wie des anderen Kulturraums auseinandergesetzt. In den klassischen konfuzianischen Schriften, vor allem im Buch der Wandlungen, glaubt er die Spuren einer Zeitauffassung zu entdecken, die sich in hohem Maß von den zeitphilosophischen Thesen europäischer Autoren unterscheidet. Dieser Unterschied liege keineswegs in einer oft behaupteten Abwesenheit abstrakter Zeitbegriffe. Die chinesische Tradition hat vielmehr, so Jullien, die Vorstellung eines – wie man auch mit G. E. Lessing sagen könnte – »fruchtbaren Augenblicks« entwickelt, der eine innere Verwandtschaft mit der rituellen Wiederkehr des Jahreszeitenwechsels besessen habe. Den ›günstigen Moment‹ abzuwarten, um an ihm das Handeln auszurichten, sei stets ein Zeichen der Weisheit gewesen. Die langfristige, in meßbaren Zeiträumen sich bewegende Planung, wie sie dem europäischen Denkmodell eigen ist, blieb nach Jullien diesem Weisheitsstreben weitgehend fremd.

Folgt man dieser These, so liegt es nahe, das chinesische Modell einer rituell konstruierten Zeit des günstigen oder fruchtbaren Handlungsaugenblicks als Hypothese dem Studium auch anderer außereuropäischer Zeitvorstellungen zugrunde zu legen. Meine Vermutung ist, daß diese Hypothese, wird sie ernst genommen, auch zu einem anderen Begriff des Erinnerns führen muß, da im okzidentalen Gedächtniskonzept die Vorstellung von einer das Vergangene verschlingenden und vernichtenden Zeit mitschwingt, der nur mit Hilfe einer Historisierung dessen, was einst gewesen ist, widerstanden werden kann.

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[Deutsche Fassung eines auf Chinesisch veröffentlichten Vortrags; erschienen in: Xiaobing Wang-Riese/Dilmurat Omar (Hrsg.): Writing, Ritual & Cultural Memory, Beijing 2007, S. 3-20.]