III.

Die Alternative

»Wir kommen damit zur entscheidenden Frage zurück: Wie und wann wirkt die Gegenöffentlichkeit? Sie leistet nicht nur sinnvolle und berechtigte Kritik am heutigen Herrschaftssystem, sondern artikuliert auch Alternativen zum Status quo bezüglich vieler gesellschaftlich-politischer Aspekte, nicht nur zu Rechts- und Ordnungsstaat, sondern beispielsweise auch zu Partizipation, Subsidiarität, Energieversorgung, Verteidigung, Marktregulierung, Währungssystem, Siedlungsstruktur, Landwirtschaft, Zwischenstaatlichkeit und vielem mehr. … Doch die unmittelbare politische Wirkung von Kritik und Gegenentwürfen ist beschränkt.«

Wer kritisiert, der will ändern. Der Status quo ist stets der der anderen. Seltsamerweise verfügt er über wenig Freunde, sobald erst einmal die Büchse der Pandora aufgeht und die Liste der wünschenswerten Änderungen obenauf liegt. Sich einbringen heißt: das Feld der Politik zu bestellen, in dem viele ackern. Anders geht es nicht, anders darf es nicht gehen.

Man kann als Intellektueller eine Partei wohlwollend kritisch begleiten – auch die AfD, ganz recht –, aber man sollte nicht alten Verschmelzungsträumen anhängen, in denen man selbst nur als ganz kleines Licht figuriert, einer aus der überwältigenden Schar schaffender Brüder und Schwestern, in deren Reihen man seinen Dienst an der Gesellschaft, am Volk oder einer präferierten Gemeinschaft verrichtet. Man sollte es ebenso wenig, wie man beleidigt sein sollte, wenn der Weltlauf sich nicht wie von selbst dem Gang der eigenen Gedanken anschmiegt, die man so behende zu äußern weiß. Warum? Weil man sonst kein Intellektueller mehr wäre.

Das Gehlen-Paradox

»Die meisten Menschen sind durch intellektuelle Analysen des Zustands unserer Gesellschaft nicht erreichbar, Gehlen sagt dazu (in ›Urmensch und Spätkultur‹, 1956):
Formal magisches Verhalten kann auch im Umkreis eines hoch rationalen Bewußtseins auftreten, es entzieht sich dann dem Bemerktwerden und hält sich, wie die archaische Magie, selbst für vernünftig und sachentsprechend. Der Glaube an die reale Fernwirkung von Meinungen gehört in diesem Sinne zu den magischen Beständen der Intellektuellenkultur, ebenso wie der, dass man vom Bewußtsein her das Verhalten der Menschen stabilisieren könne.‹«

Gehlens Akzent liegt auf dem Wort ›Fernwirkung‹. Das lässt daran denken, dass bedeutende Gelehrte, darunter der Mathematiker Leonhard Euler, Newtons Gravitationstheorie lange Zeit den Beifall versagten, weil sie darin einen unzulässigen Rekurs auf magische Fernwirkung witterten.

Nicht jede Fernwirkung ist magischer Natur, sonst könnte die Menschheit gleich das Telefonieren einstellen, von anderen hochwirksamen Tätigkeiten ganz zu schweigen. Würden Gedanken nur unmittelbar auf Herz, Hand und Fuß wirken, dann gäbe es keine. Das Wort ›Fernwirkung‹ ist ein Leercontainer, vor dem man sich lieber hüten sollte. Auf den Bereich öffentlicher Auseinandersetzung angewandt heißt das: Es ist besser, die heftigsten Kämpfe im Medium des freien Worts auszufechten, als mittels Straßenschlachten, Gefängnismauern und Schießbefehl.

Was Gehlen hier anspricht, ist einerseits die nirgends zu eliminierende Differenz zwischen Überzeugungen und Verhaltensweisen, andererseits die ebensowenig zu beseitigende Dynamik, die zwangsläufig zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen entsteht: Entscheider eignen sich aus dem Intellektuellendiskurs an, was ihnen im gruppenspezifischen Erfolgsstreben nützlich erscheint (ihnen ›einleuchtet‹, wie der entsprechende Ausdruck lautet), während Intellektuelle viel Gedankenaufwand treiben, um die Spur ihrer Gedanken (und die ihrer Konkurrenten) als treibende Kraft im Leben der Nation oder anderer Großeinheiten zu verankern, soll heißen, Ideen (im Fall der Spieltheorie oder der Bevölkerungswissenschaft wider besseres Wissen) als handlungssteuernde Instanzen ins Bild der sozialen – und selbstredend politischen – Wirklichkeit einzufügen. Gewöhnliche Leser (um sie nicht ganz aus auszulassen) versuchen zu verstehen und kompensieren damit, negativ gesprochen, Orientierungsverluste – positiv gesprochen, halten sie, unterbrochen von größeren und kleineren Katastrophen, ihr Weltbild auf dem Laufenden, um halbwegs aufrecht durchs Leben zu kommen.

Es funktioniert, weil es nicht funktioniert: so etwa ließe sich zusammenfassen, was jeder Praktiker in der Regel zu beherzigen weiß – ›der Mensch denkt und Gott (das materielle Interesse, die Umstände, die Prä- und Postponderabilien, das Geheimnis der großen Zahl, das unerklärliche Etwas) lenkt.‹

Das ist nicht normal‹

»Stattdessen reagieren die meisten Menschen eher intuitiv auf die Umstände, die sie in ihrer unmittelbaren Lebenswelt beobachten. Nehmen sie Ereignisse wahr, die ihre Hintergrunderfüllung (Gehlen) erschüttern, werden sie aus dem gewohnten Lebenszusammenhang geworfen und müssen ihr Verhalten neu justieren. Solange sie sich aber noch sicher fühlen und sich materiell versorgen können oder vom Staat versorgt werden, denken sie nicht um. Das Umdenken ist schmerzhaft und erfolgt erst, wenn sich materielle Not breit macht oder der Staat seine Bürger nicht mehr konsequent vor privater Gewalt schützt und diese nicht mehr sichtbar ahndet.«

So ist es. Im parlamentarischen System folgt daraus die Notwendigkeit, die Spannung auszuhalten, die durch die Trägheit der Mehrheitsbevölkerung entsteht, wenn der vorausblickende Verstand bereits die Notwendigkeit von Kurskorrekturen erkennt, und mit seiner Auffassung nicht hinter den Berg zu halten, selbst wenn die sozialen Folgen für den Einzelnen schmerzhaft ausfallen sollten. Eine Gegenöffentlichkeit konstituiert auch das nicht. Doch es sorgt dafür, dass Öffentlichkeit nicht zum medialen Schein verkommt. Wer in Kampfbünden denkt, weil er glaubt, seine Zeit sei gekommen, der muss auch in Kauf nehmen, wenn der Nächstbeste ihn gleich an der Haustür stoppt.

Das schließt solidarische Aktionen nicht aus.

Die ›Gegenöffentlichkeit‹ ergreift die Massen

Was geschieht, wenn die Wahrheit die ›Massen‹ ergreift? Klassische Antwort: Sie wird unwahr. Was taugt eine unwahre Wahrheit? Nichts. Das liegt nicht an den Massen, es liegt an der Wahrheit, die täglich aufs Neue erobert werden muss und zum Eigentum der Massen ebenso wenig taugt wie zu dem eines Einzelnen.

Befände das Land sich nicht längst in einer tiefen, von beflissenen Politikern und Medienleuten unentwegt fortgewedelten Legitimationskrise, könnte man über solche Sätze lächeln. Ist willige Unterwerfung wirklich das Problem des modernen Staates? Gehen seine Repressionsmittel nicht in unfassbarem Maße über jedes Bürgervermögen hinaus? Ist nicht vernünftige, immer aufs Neue auszumittelnde Partizipation das Maß der öffentlichen Dinge?

»Da wir in einer Demokratie leben, könnte der Demos unser Establishment dann einfach abwählen.«

Ganz recht – vielmehr: nicht ganz. Abwählen lässt sich das ›Establishment‹ schon deshalb nicht, weil es sich fortwährend – von unten, von der Seite, von Seiten der Nachrücker, woher auch immer – erneuert. Die klassenkämpferische Entgegensetzung von ›Demos‹ und ›Establishment‹ ignoriert die prinzipielle Offenheit des Systems. Sie setzt einen Zustand der vollendeten Oligarchie als gegeben, in dem jeder Hoffnungsträger nach gewonnener Wahl ungerührt in die Fußstapfen seiner Vorgänger tritt. So funktionierte das System der Bundesrepublik bislang nicht. Eine lange, vielleicht überlange Regierungszeit, in der bedeutende Defizite sich sammeln konnten, verlangt nach Wechsel, verlangt in vielem nach Remedur. Das jedoch ist kein Einwand gegen das System, sondern seine älteste und immer noch treffendste Rechtfertigung.

Niemand sollte sich blind machen gegen die Gefahren unkompensierter Souveränitätsverluste (Brüssel), zunehmenden Regierungsopportunismus’ und schleichender Zensur (NetzDG u.ä.), nicht zu vergessen einer fahrlässigen, dissoziativ wirkenden Einwanderungspolitik. All das muss offen und breit verhandelt werden, nicht in den Avantgarde-Kämmerchen einer sich selbst missverstehenden, phantomhaft den großen Umschwung herbeiphantasierenden Gegenöffentlichkeit. So schnell ist diese Demokratie nicht mit sich durch. Die Erzählung von der Selbstauflösung der DDR taugt nicht für dieses Land. Wäre es anders, so existierte die DDR noch immer. Warum hätte sich jemand die Mühe geben sollen, sie abzuschaffen?

*

Gegenöffentlichkeit, der Name drückt es aus, ist gegen die etablierte Öffentlichkeit gerichtet, als sei, was man mit Unbehagen oder Zorn an ihr wahrnimmt, das Ganze. Legt man den freien Marktzugang für alle zugrunde, dann widerspricht sich ein solcher Gedanke selbst, weil er die Artikulation des eigenen Standpunkts von diesem Markt ausschließt. Das mag als Marketing-Gag durchgehen, als politische Standortbeschreibung führt es in eine jener Sackgassen, an deren Ende sich die Hoffnungstrümmer verflossener Kraftmeiereien stapeln: Meine Öffentlichkeit lasse ich mir von niemandem rauben, sie gehört mir und meinesgleichen. Mit ihrer Hilfe organisiere ich meine Leute, denen die Öffentlichkeit, die falsche, öffentliche, nichts mehr sagt. Umso mehr habe ich ihnen zu sagen – wir passen zusammen und formieren eine schlagkräftige Truppe, die eines nahen Tages das System aus den Angeln heben wird.

Die Sprache, wir kennen sie wohl. Es ist, jedenfalls im Westen der Republik, die Sprache der Traktätchenschreiber von anno dunnemal, der Nationalzeitung zur Rechten, zur Linken einer im AStA-Kampf gestählten K-Gruppen-Intelligentsia, die vor lauter Engagement nicht zum Studieren kam – mit Folgen, die bis in den heutigen Bundestag reichen. Sie ist der neuen, vielgestaltigen, ideen- und wortreichen Medienlandschaft nicht würdig.

Sie braucht sie auch nicht.

 

Johannes Eisleben: Das Lesen der Anderen http://www.achgut.com/artikel/das_lesen_der_anderen

 

Abb.: Paul Mersmann, Grasteufel überqueren eine öffentliche Bühne, ohne vom Publikum wahrgenommen zu werden (2009). Aufnahme: Renate Solbach