Geschichte zwischen Fakten, ›Schwarzen Legenden‹ und Mythen

von Johannes R. Kandel

›Religion‹: ›Gerechter Krieg‹ und ›heiliger Krieg‹?

Eine allgemeine Bemerkung vorweg: Zwar lässt sich die mittelalterliche Geschichte als eine fast ununterbrochene Folge von Krieg beschreiben, aber entgegen manchen Behauptungen war im Nahen Osten zwischen 1095 und 1291 nicht immer Krieg. Der französische Historiker Jean Richard hat errechnet, dass es von 1192 bis 1291 – in der unruhigsten Phase der Lateinischen Königreiche – immerhin 80 Friedensjahre gegeben hatte. Im Vergleich dazu gab es im französischen 17. Jahrhundert nur 21 Jahre ohne wichtige Kriegshandlungen und nur 7 Jahre völligen Friedens (Die Kreuzzüge in Augenzeugenberichten, 19722, S. 18.). Es gab längere Phasen von Waffenstillständen, allerdings keine dauerhaften ›Friedensverträge‹. Ein klassischer Fall für eine friedliche Übereinkunft war der Vertrag, den Kaiser Friedrich II. von Hohenstaufen am 18. Februar 1229 in Jaffa mit dem ägyptischen Sultan Al-Malik Al-Kamil schloss. Der Vertrag sah die Rückgabe von Jerusalem und dem unmittelbaren Umland an die Kreuzfahrer und einen zehnjährigen Waffenstillstand vor. Bei den Christen stießen diese Vereinbarungen auf nur verhaltene Freude, während die Muslime trauerten: »Die ganze islamische Welt war tief getroffen und trauerte um den Verlust Jerusalems«, schrieb der Chronist Ibn Wāsil (Die Kreuzzüge aus arabischer Sicht, 1973, S. 328ff.). Die ruhigen Phasen nutzten beide Seiten für Sicherungsmaßnahmen (Festungsbau, Verstärkung von Stadtmauern, etc.) und Aufrüstung für die nächsten Kämpfe (Kriegstechnik, Rekrutierung neuer Truppen). Al-Kamil war schon vorher mehrfach zu Zugeständnissen bereit gewesen, insbesondere als der Fünfte Kreuzzug 1218-1221 Ägypten bedrängte und er zu dieser Zeit mit innerislamischen Kämpfen zu tun hatte. Es war somit keineswegs sein generöser Friedenswille, der ihn veranlasste, Friedenstauben aufsteigen zu lassen. Die Kreuzfahrer hatten alle Angebote zurückgewiesen, weil sie ihren strategischen Zielen zuwiderliefen. (Tyerman, God’s War, 2007, S. 639).

Der Kreuzzug war aus christlicher Sicht nicht nur ein ›gerechter‹ Krieg, sondern im Verständnis von Papst Urban II. und seinen Nachfolgern ein ›heiliger Krieg‹. Dieser Auffassung hatten sich nicht nur führende Theologen, sondern auch die gekrönten Häupter Europas angeschlossen. Der Papst hatte daraufhin gewirkt, die grundlegende Problematik des Verhältnisses der Christen zu Gewalt und Krieg zu bearbeiten, um eine Begründung für einen Krieg auf Anordnung Gottes zu gewinnen. Dabei half ihm der Rückgriff auf das Alte Testament (AT) und die Kirchengeschichte. Die päpstliche selektive Exegese des Alten Testaments konnte zweifellos zu dem Ergebnis führen, dass der Gott des AT ein ›kriegerischer Gott‹ gewesen sei, was seine Beteiligung und sein Eingreifen in Kriege für Israel belegten, ja geradezu die ›Heiligkeit von Kriegen‹ bestätigte (z.B. Exodus 15,3; Psalm 24,8; Jesaja 13,4; Jesaja 42,13, Jeremia 6,4; Joel 4,9; Micha 3,5;) Die Friedensverheißungen des AT hatte er wohl übersehen (Jesaja 11,6-9; Jesaja 65, 17-25; Ezechiel 39,9f.; Jesaja 2, 2-5; Micha 4, 1-5). Aus der Kirchengeschichte ließ sich schlussfolgern: Erstens hatte es in der frühen Christenheit trotz der klaren Jesusworte (Matthäus 26, 52f. und Johannes 18,36) und der Ablehnung des Waffendienstes durch die autoritativen Kirchenväter Tertullian und Origenes nie einen prinzipiellen Pazifismus gegeben (Leppin, Die frühen Christen, 20212, S. 392ff.).

Zweitens war es im christlichen Staat Kaiser Konstantins für Christen eine selbstverständliche Pflicht, Soldaten zu sein, allerdings wäre ihnen im 4. Jahrhundert die Vorstellung eines ›heiligen Krieges‹ sehr fremd erschienen. Drittens konnte der Papst auf die von Aurelius Augustinus entwickelten Kriterien einer ›Kriegsethik‹ verweisen. Augustinus hatte diese in seiner Auseinandersetzung mit den Manichäern in Contra Faustum Manichaeum (um 400 n.Chr.) erstmalig formuliert und später in De Civitate Dei (413-426) weiter ausgeführt. Er sah einen Krieg grundsätzlich als ›schweres Übel‹ an, ›dessen Inkaufnahme in der postlapsarischen, von der Macht des Bösen verunstalteten Welt gleichwohl notwendig und in diesem Sinn gerechtfertigt sein kann.‹ Um einen Krieg zu rechtfertigen, müssten drei Kriterien gegeben sein: ein gerechter Grund (Causa iusta), die Anordnung durch eine Autorität (auctoritas principis) und die innerliche gerechte Absicht (recta intentio). Es ging Augustinus, der im Jahre 410 n. Chr. die Zerstörung Roms durch Alarichs Westgoten als geradezu apokalyptisches Signal verstanden und die Belagerung seiner Heimatstadt Hippo Regius im Jahre 430 durch die Vandalen miterlebt hatte, in erster Linie um Kriegsbegrenzung und Gewalteindämmung. Primäres Ziel eines unvermeidlichen Krieges war die Verteidigung, Vergeltung, Bestrafung von Unrecht und Wiederherstellung von Gerechtigkeit und Frieden. Die Christianisierung der Germanenstämme bewirkte eine Begrenzung ihrer überbordenden Kultur des Krieges und die Entwicklung mittelalterlicher staatsähnlicher Gebilde führte zur Konzentration des Gewaltmonopols bei König und Adel. Die damit gegebene Legitimation des Kriegshandwerks begünstigte die Entwicklung des Rittertums als einer exklusiven Gruppe, die das Waffenhandwerk betrieb. Die Verbindung des fränkischen Königtums mit dem Papsttum, beginnend im karolingischen Reich, führte schließlich zur schrittweisen christlichen Legitimation des Krieges (Noth, Heiliger Krieg und Heiliger Kampf in Islam und Christentum, 1966, S. 95ff.). Die Augustinischen Kriterien des ›gerechten Krieges‹ wirkten bei der Entwicklung einer christlichen Kriegsethik weiter und wurden 1140 in die kanonische Sammlung Decretum Gratiani übernommen. Erlaubt war nach wie vor nur der Verteidigungskrieg, obwohl auch schon offensive Konzeptionen formuliert worden waren und die ›Christianisierung‹ bzw. ›Heiligung‹ des Kriegerberufs zum christlichen Ritter voranschritt. Obwohl die ›Ritterehre‹ zahlreiche demonstrative Praktiken, höfische Inszenierungen, Rituale und auch soziale Verpflichtungen umfasste, gab es zur Zeit des Mittelalters keine allgemeine, die Kombattanten verpflichtenden Kriegsregeln. Immerhin gelang es im Rahmen der sogenannten ›Gottesfriedensbewegung‹ (treuga dei) das ausufernde Fehdewesen zu begrenzen. Von dem gänzlichen Verbot im Jahre 1495 (Reichslandfrieden) und bis zu den ersten Versuchen der ›Verrechtlichung des Krieges‹ im 17. Jahrhundert (Balthasar de Ayala, Alberico Gentili, Hugo Grotius, Samuel Pufendorf) war man noch weit entfernt.

Dass Kriege auf Anordnung Gottes erfolgen könnten und somit der Kampf »nicht nur als gerechte, sondern sogar geheiligte Gewaltausübung« betrachtet werden könne, war schon von nordspanischen Chronisten im 9. Jahrhundert im Rahmen der ›Reconquista‹ postuliert worden, woran Papst Urban II. und seine Nachfolger anknüpfen konnten. Sie entwickelten den ›gerechten Krieg‹ zum ›Heiligen Krieg‹ weiter. Gott ordne diesen selbst an und der Papst, gestärkt in seiner Machtstellung, verkünde diesen kraft seiner Autorität (Erdmann, Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens, 1935, S. 1ff.) ›Gerecht‹ war der Krieg schon allein deshalb, weil – wie der Papst geltend machte – es galt ein großes Unrecht zu beheben: die Besetzung des ›Heiligen Landes‹ durch die Muslime (Sarazenen). Erstens sei das Land nach Jesu Tod von den Römern in einem ›gerechten Krieg‹ erobert worden und gehöre seitdem der römischen Kirche als Erbin des Römischen Reiches. Zweitens hätten sich die Muslime, nach Auffassung maßgeblicher Kirchenjuristen, die Gott und den Christen gehörende ›terra sancta‹ später unrechtmäßig angeeignet (Usurpation). Die Rückeroberung sei deshalb ein ›gerechter‹ und ›heiliger‹ Krieg.

Die streitbaren Ritter, die das Kreuz nahmen, konnten sich, auf diese Weise ausdrücklich ermuntert, als ›milites Christi‹ verstehen. Sie waren entschlossen, im Wege der »imitatio christi« (Matthäus 16,24) dafür zu sorgen, das »Erbgut des Herrn«, das Land »wo seine Füße standen« wiederzuerlangen (Jaspert, »Wo seine Füße standen« (Ubi steterunt pedes eius) –In: Kein Krieg ist heilig, 2004, S. 173ff.).

Von gelehrten Abhandlungen und Disputationen zum ›gerechten Krieg‹ wussten die Kreuzritter wahrscheinlich nichts und selbst gut unterrichtete Kleriker nur in Fragmenten. Die Aufforderung des obersten Hüters der Kirche, das ›Heilige Land‹ zurückzuerobern und zu schützen, reichte aus. ›Drittens‹ gelang es dem Papst, die waffenlose, friedliche Pilgerfahrt zu einer militärischen Aktion zu umzufunktionieren: »Es war nunmehr kirchenrechtlich anerkannt, daß die Pilger Waffen tragen und unterwegs Krieg führen dürften und trotzdem des geistlichen Gewinnes ihrer Pilgerfahrt nicht verlustig gingen. Zum ersten Male wurde in Clermont die Idee der bewaffneten Wallfahrt proklamiert«. (Erdmann, Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens, 1935, S. 307.). In den nächsten Jahren, bis zum Beginn des Zweiten Kreuzzugs 1147, wurde kaum noch zwischen dem ›heiligen Krieg‹ und einer Bußwallfahrt unterschieden, ja der ›Heilige Krieg‹ galt als »höchste Form der Wallfahrt (…) – weil er seinen Teilnehmern eine solch harte Buße auferlegte.« (Riley-Smith, Die Kreuzzüge, 2020, S. 54). Der ›Heilige Krieg‹ war somit zweierlei: ein individueller und kollektiver Akt der Buße, vollzogen in der Form einer bewaffneten Pilgerfahrt. Die Versprechungen des Papstes, bei Kreuznahme einen Nachlass bzw. vollständigen Erlass der Sünden in Aussicht zu stellen, war angesichts der in der mittelalterlichen Religiosität und Frömmigkeit fest verankerten heillosen Angst vor dem Teufel, dem Jüngsten Gericht, der Verdammnis und den Höllenqualen, höchst attraktiv.

Was setzte die Kreuzfahrer in Bewegung? Es lassen sich drei zentrale und typische Motivationskomplexe für die Kreuzritter benennen, wobei die Religion an die erste Stelle tritt: Erstens: Die Sache, um die es ihnen ging, war die ›causa Christi‹, das ›negotium Christi‹ und insofern war der Kreuzzug ein ›gerechter Krieg‹ (›causa iusta‹). Zweitens: Der Kreuzzug verschaffte Gewissheit der Sündenvergebung und der Erlösung. Drittens: Der ›heilige Krieg‹ wurde als von Gott gewollt und unmittelbar angeordnet verstanden. Die »fiebrige Frömmigkeit im Umfeld der Kreuzzugunternehmungen« und die daraus primär erwachsene Motivation, ja Leidenschaft, von Kreuzfahrern zur Teilnahme am Kreuzzug, ist aus den Originalquellen sehr deutlich herauszulesen. Nicht zuletzt diese verschaffte den Kreuzfahrern »ein Gemeinschaftsgefühl und eine unvergleichliche Zielstrebigkeit (…) die sie zu unglaublichen kriegerischen Leistungen befähigte«, ungeachtet aller landsmannschaftlichen, ökonomischen und sozialen Statusunterschieden (Asbridge, Die Kreuzzüge, 2021, S. 701).

Es ist dem deutschen Historiker Adolf Waas (1890-1973) zu verdanken, den Faktor ›Ritterfrömmigkeit‹ als die entscheidende treibende Kraft der Kreuzzüge herausgearbeitet zu haben. Knapp stellte er fest:

»…Nur einmal in der Geschichte Europas hat der religiöse Faktor im Handeln der Völker einen so entscheidenden Platz beansprucht wie damals, wenn auch umspielt von materiellen Faktoren verschiedenster Art«. Es seien nur wenige, einfache Gedanken gewesen, »die die Ritterschaft des Abendlandes zwei Jahrhunderte hindurch zu den gewaltigsten Opfern an Gut und Blut und zu dem ganz ungewöhnlichen Krafteinsatz getrieben haben (…) die Ehre, die Treue dem Herren Christus gegenüber und das Gerechtigkeitsgefühl oder, genauer gesagt, der Wille, Unrecht zu rächen und seinen Herren zu schützen« (Waas, Geschichte der Kreuzzüge, 1956, S. 1 und S. 6f.).

Waas Betonung des religiösen Faktors ist, bei aller Einzelkritik an seiner Quellenauswahl, in der Forschung positiv aufgenommen und bestätigt worden. Der englische Historiker Marcus Bull, der zurzeit an der University of North Carolina lehrt, hat dies mit seiner viel zitierten Regionalstudie über die französischen Regionen Limousin und Gascony eindrucksvoll belegt. Es zeigte überzeugend, dass die Ideenwelt der Kreuzfahrer in den untersuchten Regionen vornehmlich von religiösen Ideen gespeist wurde. Sie waren die inspirierenden Kräfte, welche Kreuzfahrer zur Teilnahme am Kreuzzug bewegten: »This crusade ideology was predominantly religious in its inspiration« (Bull, Knightly Piety and the Lay Response to the First Crusade, 1993, S. 6).

Das drückte sich in den zeitgenössischen Quellen klar aus. Der Seneschall der Champagne, Jean de Joinville (1224-1317), hat die Frömmigkeit von Kreuzfahrern am Beispiel des heiliggesprochenen französischen König Ludwig IX. (1214-1270) klassisch beschrieben. Er zeichnete in seiner zwischen 1305 und 1309 geschriebenen Biographie »ein überzeugendes Bild der Frömmigkeit, Mildtätigkeit und Bescheidenheit des Königs, seines angeborenen Gespürs für bestimmte Spielregeln, der Geduld, mit der er Unglück ertrug und seines absoluten Vertrauens in Gott und die Heiligen« (Housley, Die Kreuzritter, S. 109; Jean de Joinville, La Vie de Saint Louis. Auf deutsch erschienen: Das Leben des heiligen Ludwig. Die Vita des Joinville, hrsg. und eingeleitet von Erich Kock, 1969). Der französische Benediktinermönch, Odo von Deuil, Chronist des Zweiten Kreuzzuges, beschrieb und pries ausführlich die Frömmigkeit seines Helden, des französischen Königs Ludwig VII. (»De Profectione Ludovici VII in orientem«, 1147). Beide Werke weisen deutliche hagiographische Züge auf, was aufgrund der persönlichen Nähe beider zu ihrem König kaum anders zu erwarten war, aber sie geben tiefe Einblicke in die religiöse Welt der Kreuzritter. Die religiöse Leidenschaft, glühende Überzeugung und fanatisch-fromme Entschlossenheit, das Heilige Land für die Christenheit wiederzugewinnen, drückte sich schließlich auch in den großen Laienbewegungen für die Kreuzzüge aus, wofür der ›Volkskreuzzug‹ von 1096, der sogenannte ›Kinderkreuzzug‹ 1212 und die Bewegung der ›Pastorellen‹ 1250ff. hinreichende Belege sind.

Grausamkeiten und Kriegsverbrechen?

In populären Darstellungen, vor allem im Film und in TV-Serien wurde – schon aus dramaturgischen Gründen – stets die Grausamkeit der Kriegführung der fränkischen Ritter betont. Auch in seriösen historischen Darstellungen wurde der Vorwurf erhoben, die Kreuzfahrer hätten ›Kriegsverbrechen‹ begangen. Hinzu kam der Verweis auf die schrecklichen Judenpogrome im Vorfeld während des Ersten Kreuzzugs in Speyer, Worms, Mainz, Köln, Trier, Regensburg und anderen Orten zwischen dem 3. Mai und Ende Juni 1096. Hier und da wurden sie gar als Vorläufer des nationalsozialistischen Holocaust bezeichnet – ein offensichtlich absurder Versuch der Herstellung einer Kontinuität von Massenmorden an Juden. Es gibt hier nichts zu beschönigen oder gar zu entschuldigen, dennoch sollte erwähnt werden, dass sich kein Fürst des Hochadels daran beteiligte, sondern die Übergriffe das Werk von aufgehetzten Unterschichten waren, angeführt von wenigen Personen des französischen und deutschen niederen Adels (z.B. Graf Emicho von Flonheim), aufgestachelt von Hetzpredigern wie Folkmar und Gottschalk. Kaiser Heinrich IV., der zum Zeitpunkt der Pogrome in Norditalien weilte, hatte ausdrücklich jede Belästigung der Juden verboten, was jedoch nicht beachtet wurde. Die Bischöfe der betroffenen Diözesen hatten sich bemüht, die Juden mehr oder weniger wirkungsvoll zu schützen, allerdings mit wenig Erfolg. 2500 Juden sollen insgesamt ermordet worden sein. Auch beim zweiten Kreuzzug (1145-1148) war es 1147 in Köln, Speyer und Würzburg zu erneuten Pogromen gekommen, obwohl der berühmte Bernhard von Clairvaux, der wichtigste Kreuzzugprediger in dieser Zeit, ausdrücklich gegen die Verfolgung der Juden gepredigt hatte.

Im weiteren Verlauf des Ersten Kreuzzugs wird das Massaker nach der Eroberung Jerusalems, dem wohl zehntausende Muslime, aber auch Juden und sogar orientalische Christen zum Opfer fielen, als ›Kriegsverbrechen‹ charakterisiert. In einem wahnsinnigen Blutrausch ließen die von dem mühsamen und entbehrungsreichen Feldzug gebeutelten Kreuzfahrer ihren Aggressionen freien Lauf. Da gibt es auch nichts entschuldigen und zu beschönigen. Dennoch ist zu bedenken: Die Anwendung von Gewalt war selbstverständlicher Bestandteil der ›Ritterehre‹ und der christlichen Gottesstreiterschaft. Der Ehrenkodex und der moralische Pflichtenkatalog eines Ritters sah vor, »dem Herrn ergeben zu dienen und sein Leben zu schützen, das Wohl der Gesellschaft im Auge zu haben, Ketzer und Ungläubige zu bekämpfen, Schwache zu verteidigen.« (Schlunk/Giersch, Die Ritter, 2003, S. 12; Prietzel, Kriegführung im Mittelalter, 2006, S. 241ff.) Die Kriegführung war, was auch von christlichen Kritikern nicht verschwiegen wurde, tatsächlich insgesamt sehr grausam und traf vor allem die Zivilbevölkerung hart. Massaker waren, so hart es klingt, keine ›Kriegsverbrechen‹ sondern durchaus im Einklang mit den »militärischen Gepflogenheiten der Zeit« (Jaspert, Die Kreuzzüge, 2003, S. 42).

Moral (›Ritterlichkeit‹) und Realität klafften häufig weit auseinander. Im Vergleich von christlicher und muslimischer Kriegführung muss das Prinzip der Reziprozität gelten. Christliche und islamische Quellen verschweigen Massaker und andere Gräueltaten nicht. Für die Muslime war der Dschihad eine verbindliche individuelle und kollektive Verpflichtung, für Allah zu kämpfen (siehe weiter unten). Zur historischen Wahrheit gehört auch die skrupellose und brutale Kriegführung Zengis und seines Sohnes Nur ad-Dins, nur noch übertroffen von der Grausamkeit des ägyptischen Mamluken-Sultans Baibars Al-Bundukdari (1223-1277). Baibars war ein Tscherkesse vom Schwarzen Meer, der als Sklave nach Damaskus gekommen war und in der Militärtruppe der Mamluken im Dienst eines Ayyubiden-Emirs rasch Karriere gemacht hatte. (Thorau, Sultan Baibars I. von Ägypten, 1987). Mit Mord und Totschlag hatte er sich auf den Thron des Sultans geputscht, folgte einem fundamentalistischen Islam und versprach, das ›Heilige Land‹ vollständig von Christen zu ›säubern‹. Das tat er dann auch mit Fleiß. Wir würden das heute als ›ethnic-religious cleansing‹ bezeichnen. 1263 verwüsteten seine Truppen Galiläa, wobei die Geburtskirche von Nazareth zerstört wurde. 1265 fielen Arsuf und Caesarea, 1266 die Templerfestung Safed, 1268 Jaffa und die Templerfeste Beaufort, 1271 die Templerburg Safita und die gewaltige Johanniterburg Krak des Chevaliers sowie Montfort, eine Burg des Deutschen Ordens. Baibars war insbesondere dafür bekannt, dass er nach Kapitulationen christlicher Burgen und Städte seine Versprechungen und Zusagen zur Schonung der Bewohner nie einhielt und die Besatzungen nebst Zivilpersonen massakrierte. Seinen brutalen Vernichtungsfeldzügen ließ er gelegentlich noch triumphierend zynische Briefe folgen, so z.B. an Fürst Bohemund VI. von Antiochia, der von ihm gefangen genommen wurde. Dieser Brief sei, so der Historiker Robert Payne, »ein Meisterwerk an Bosheit und Beschimpfung« gewesen (Payne, Die Kreuzzüge, 2001, S. 398).

Auch der in christlichen Quellen häufig als ritterlich, fair und großmütig geschilderte Sultan Saladin hatte seine dunklen Seiten, die nicht verschwiegen werden dürfen. Er hatte sich mit Verrat und Mord in Ägypten zum Sultan geputscht und seine schiitischen Feinde skrupellos vernichtet. Dann brachte er seine Familienangehörigen in beste Machtpositionen, was im Abendland als ›Nepotismus‹ bezeichnet wurde. Er kannte gegenüber den fränkischen Kämpfern keine Gnade, insbesondere wenn es sich um Angehörige der geistlichen Ritterorden handelte. Nach seinem Sieg am 4. Juli 1187 bei Hattin enthauptete er eigenhändig den von ihm am meisten gehassten Rainald von Châtillon, Fürst von Antiochia, der Anfang 1187 eine riesige, friedlich ziehende muslimische Karawane überfallen und den Waffenstillstand mit Saladin gebrochen hatte. Der Sultan hatte es nicht vergessen. Zudem sonderte er die Templer eigens zur Exekution aus und ließ sie von seinem nicht-militärischen Gefolge wie Schafe abschlachten. Seine Darstellung im Film Königreich der Himmel ist eine krude Verfälschung der historischen Fakten. So großzügig er auch hier und da war, aber keineswegs hatte er nach der Eroberung Jerusalems Ende September 1187 dem Verteidiger der Stadt, Graf Balian von Ibelin so einfach den Abzug aller Zivilisten gewährt, wie im Film rührend fabuliert wurde. Die Fakten: innerhalb von 40 Tagen konnten sich die Einwohner bei Zahlung eines Lösegelds freikaufen: Zehn Dinare für einen Mann, fünf für eine Frau, ein Dinar für ein Kind. Balian wurde gestattet, 7000 Christen für 30 000 Dinare freizukaufen (Runciman A History of the Crusades, Bd. 2, S. 465ff.). Die Glücklichen, die das Geld aufbringen konnten oder in Balians Kontingent aufgenommen waren, durften mit ihrer persönlichen Habe abziehen, der Rest – immerhin einige Tausend – verschwanden auf den Sklavenmärkten des Morgenlandes. Es sei noch angemerkt, dass die Intention des Filmes, für den interreligiösen Dialog, bzw. die Religionsfreiheit, zu werben, geradezu groteske Szenen generiert. So schreitet Saladin nach seinem Sieg durch die zerstörte Grabeskirche, sieht das Altarkreuz am Boden liegen, hebt es auf und stellt es sorgsam auf den Altar zurück. Nie und nimmer hätte der gläubige Muslim Saladin das Kreuz angefasst auf das Muslime zu spucken pflegten!

Es darf nicht verschwiegen werden, dass es bis in unsere Gegenwart immer wieder Tendenzen gab, den Kreuzfahrern eine geradezu morbide Lust an Grausamkeit zu unterstellen. Ein klassisches Beispiel hierfür ist die faktenverfälschende, propagandistische, emotionalisierende und z.T. bösartige antichristliche Darstellung der Kreuzzüge in der Dokumentation der BBC von 2004 (BBC – Die Kreuzzüge, Teile 1 und 2, 2004). Produzent dieses Machwerks war der englische Journalist, Buchautor und Regisseur Terry Jones, der durch seine Monty Python Filme bekannt wurde. Und so ist auch die Dramaturgie der Dokumentation aufgebaut. Die Kreuzfahrer werden in flapsigen Dialogen als menschenmordende und kannibalistische Monster vorgeführt. Nur ein Beispiel: Teil 1 der Dokumentation beginnt einem Schwenk auf die ehemalige Festung in Nordsyrien Ma’arat An-Numan. Die Szene ist düster, orientalisierende Musik untermalt den Kamerablick auf die Festungsruine, Flammen lodern. Der erste Sprecher: »300 Meilen nördlich von Jerusalem führt die Pilgerstraße durch Ma’arat Am-Numan. Diese kleine Stadt wurde im Winter des Jahres 1098 von Kannibalen überfallen. Von Männern, die zweitausend Meilen marschiert waren, um Gutes zu tun im Namen Christi.« (Im Vordergrund erscheint ein gepanzerter Ritter, Helm mit Nasenschutz, auf seine Lanze gestützt, an deren Spitze ein weißer Fetzen mit dem roten Georgskreuz flattert). Der zweite Sprecher: »In Ma’arat kochten unsere Truppen die erwachsenen Heiden in Kochtöpfen. Sie spießten Kinder auf Lanzen und verschlangen sie gebraten«. (Die orientalisierende Musik schwillt an, die Kamera zeigt frontal das von Flammenschein beleuchtete unbewegte Gesicht des Kreuzritters). Der erste Sprecher fasst zusammen: »Das war der erste Kreuzzug.« So stimmt dieses Intro ein in eine durchweg manipulative, den historischen Fakten Hohn sprechende ›Dokumentation‹. Auf diese Weise soll der erste Eindruck von Abscheu und fassungslosem Entsetzen über die christlichen Mörder hergestellt werden und der Dokumentation die Leitmelodie vorgeben. Der Zuschauer erfährt über die Quellen des berichteten grässlichen Ereignisses nichts. Die Vorgänge nach der Eroberung von Festung und Stadt Ma’arat An-Numan im November 1098 werden nicht erläutert, obwohl es bis heute nicht klar ist, was eigentlich geschehen ist und wer dafür verantwortlich war (Runciman, A History of the Crusades, Bd. 1, S. 261. PAYNE, 2007, Die Kreuzzüge, S. 81ff.).

In der Tat wird die Kannibalismus-Episode von mehreren christlichen Chronisten kurz berichtet (Gesta Francorum, Robert der Mönch, Baudri de Borgueil). Radulfus Cadomensis (Robert von Caen, 1080-1120) schrieb in seinem Bericht von 1112 Gesta Tancredi in Expeditione Hierosolymitana, offensichtlich geschockt: »Die Unseren kochten die erwachsenen Heiden in Töpfen und steckten die Kinder auf Spieße, um sie gegrillt zu verschlingen«. Der französische Chronist Guibert de Nogent (1053-1124), Benediktiner und Abt des Klosters Nogent-sous-Coucy gibt jedoch in seiner Gesta Dei per Francos einen ausführlicheren Bericht. Darin macht er eine Fußsoldaten-Einheit des Kreuzfahrerheeres für den Kannibalismus verantwortlich – die sogenannten ›Tafuren‹, ein verwahrloster, armer Haufen, angeführt von einem Ritter aus der Normandie, der sein Pferd verloren hatte und nun zu Fuß unterwegs war. De Nogent bezieht sich dabei auf einen poetischen Text, der als Chanson d’Antioch bekannt geworden ist und dessen frühestes Manuskript aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts stammen soll. In diesem werden die Tafuren und ihr Kannibalismus dargestellt. Interessant ist, dass in den islamischen Quellen zwar die Eroberung von Ma’arat An-Numan erwähnt wird, aber nicht der Kannibalismus, was sehr verwunderlich ist, denn wenn derartige widerwärtige Taten von den Kreuzfahrern zu berichten gewesen wären, hätten sich muslimische Chronisten die großartige Gelegenheit nicht entgehen lassen, die Barbarei der Franken demonstrativ darzustellen um den Abscheu vor ihnen zu steigern. So bleibt als Fazit festzuhalten, dass wir nicht sicher wissen können, ob die kannibalistische Episode tatsächlich stattgefunden hat oder der Phantasie von Chronisten entsprungen ist. Derartige Skrupel fochten aber einen Terry Jones nicht an, den vermeintlichen ›Kreuzfahrer-Kannibalismus‹ zur Leitmelodie seiner Dokumentation zu stilisieren.

Ein trübes Kapitel war das Verhalten gegenüber besiegten Feinden und Kriegsgefangenen, dass – bis auf wenige Ausnahmen – nicht von ›Ritterlichkeit‹ geprägt war. Es dominierten Wortbruch, nackte Gewalt, Massaker und Versklavung auf beiden Seiten. Das Schicksal der die Kreuzzüge begleitenden Frauen war besonders schrecklich. Es wird von Massenvergewaltigungen berichtet. Besonders attraktive fränkische Frauen und Mädchen, die in Gefangenschaft gerieten, wurden versklavt und verschwanden in den zahllosen Harems des Orients (Hechelhammer, Frauen auf dem Kreuzzug. In: Kein Krieg ist heilig, 2004, S. 210ff.). Prominente Adlige (wie z.B. Bohemund von Tarent, König Balduin II., Joscelin von Courtenay) konnten sich mit hohen Geldsummen freikaufen. Für König Balduin II. musste 1124 die enorme Summe von 100 000 Byzantinern aufgebracht werden. Das galt umgekehrt auch für vornehme Muslime. Der Templerorden verlangte 1154 60 000 Dinare für Nasr ibn Abbas. Bis zum Eintreffen des Lösegeldes konnte die Gefangenschaft viele Jahre dauern. Der ›böse Bube‹ der Kreuzzüge, Fürst Rainald von Châtillon, schmachtete von 1161 bis 1176 in muslimischer Gefangenschaft. Graf Bertrand von Toulouse und seine Schwester wurden nach der verlorenen Schlacht um Araima 1149 verschleppt und brachten 12 Jahre in Gefangenschaft zu. Keine Gnade gab es für Angehörige der geistlichen Ritterorden, die den Muslimen besonders verhasst waren. Das Fußvolk sah dem Tod oder der Versklavung entgegen. Krasse Beispiele gibt es für beide Seiten. So ließ der englische König Richard I. ›Löwenherz‹ nach der erfolgreichen Rückeroberung Akkons 1191 über 2000 muslimische Gefangene hinrichten, weil er glaubte, dass Saladin Vereinbarungen für den Gefangenenaustausch nicht eingehalten habe. Nach der für die Muslime siegreichen Schlacht bei Al-Mansurah (Ägypten) 1250, wurde der französische König Ludwig IX. gefangen genommen und in relativ milder Haft gehalten. Die rund 20 000 Gefangenen dagegen wurden in Lagern im Nildelta zusammengepfercht und eine große Zahl in den folgenden Tagen in Gruppen von jeweils 300 Gefangenen massakriert. Schließlich kaufte der französische König sich selbst und 12 000 gefangene Christen für astronomische Geldsummen frei, wobei ihm die Templer erzwungenermaßen ›behilflich‹ waren.

Ablass für Kreuzfahrer – Vergebung aller Sündenschuld?

Zum Zeitpunkt der Kreuzzüge gab es noch keine kirchenrechtlich fixierte, gewissermaßen ›amtliche‹ Ablasstheorie. Eine solche wurde erst, beginnend in der Hochscholastik, u.a. von Petrus Abaelardus, Albertus Magnus, Giovanni Bonaventura und Thomas von Aquin entwickelt. Urban II. hatte 1095 einen ›vollkommenen‹ Ablass (indulgentia plenaria) bei Beteiligung am Kreuzzug aus frommer Absicht erteilt. Das war etwas Neues und deshalb kam es, vor dem Hintergrund der traditionellen Bußlehre der Kirche, zu einiger Verwirrung. Die Zeitgenossen verstanden den Plenarablass nicht nur als Ablösung sämtlicher ›zeitlicher Sündenstrafen‹, welche die Kirche am Ende des Bußprozesses gewähren konnte, sondern zugleich als die Tilgung der Sündenschuld! Ein Laie, der nicht mit der kirchlichen Konzeption von Buße vertraut war, musste schlussfolgern: Bereue Deine Sünden, beichte, empfange die Absolution, leiste das Gelübde und erhalte ›die Vergebung aller Sünden‹ (remissio omnium peccatorum) zugesprochen. Zu diesem fatalen Verständnis hatten der Papst und manche Theologen des 13. Jahrhunderts in erheblichem Maße beigetragen. Papst Innozenz III., am 8. Januar 1198 im Alter von 37 Jahren zum Papst gewählt, ein Gelehrter im Kirchenrecht, selbstbewusst, ehrgeizig und ein politischer Stratege, war durchdrungen von seiner Vision, die Macht des Papsttums über den christlichen Erdkreis zu befestigen. So war es kein Zufall, dass er sich ›Stellvertreter Christi‹ titulierte und damit eine bis in die Gegenwart reichende Formel schuf. Er hatte drei große Ziele: die Kirchenreform, die Vernichtung der Häresie und die Kreuzzüge. Letzteren widmete er sich mit großem Eifer und eiserner Energie, beanspruchte die geistliche und weltliche Führung der Kreuzzüge und ging daran, den ›Heiligen Krieg‹ besser zu organisieren. Innocenz III. drängte auf professionelle Rekrutierung qualifizierten Kreuzzugpersonals (eher Kombattanten als Pilger), ausreichende Finanzierung und straffes militärisches Oberkommando. Die Kreuzzüge sollten zu dauerhaften Institutionen werden unter der Oberaufsicht des Papstes. Die neuerliche Entfachung der nach 1192 erlahmenden Kreuzzugbegeisterung in Europa, hoffte er auf drei Wegen zu erreichen: Einer theologisch-pragmatischen Präzision von Ablasstheologie und -praxis, dem massiven Einsatz päpstlicher Kreuzzugspredigten, Briefen, kirchenamtlichen Erklärungen und schließlich mit der Aussendung rhetorisch überragender Kreuzzugprediger (z.B. Fulko von Neuilly, Kardinal Peter Capuano). Er schuf die »klassisch-scholastische Ablasslehre: zuerst unabdinglich Reue und Beichte, dann die Absolution als Zuspruch der Verzeihung Gottes, freilich mit Verbleib der zeitlichen Sündenstrafen«. (Angenendt, Die historische Entwicklung des Ablasses und seine bleibende Problematik, 2017, S. 31ff.).

Diese kirchenrechtliche Erläuterung hielt die kreuzzugwilligen Ritter und das Fußvolk nicht davon ab, zu glauben, dass der Kreuzzug bei aufrechter Reue und Beichte (seit dem Laterankonzil 1215 an war die Ohrenbeichte Pflicht!) zu völliger Sündenvergebung führe. Hatte nicht der Papst über den Erlass der zeitlichen Sündenstrafen hinaus »all denen, die sich persönlich, freien Willens und auf eigene Kosten den Mühen jener Reise aussetzen, die völlige Vergebung aller Sünden, die sie in ihrem Herzen bereut haben und die ihre Zunge bekannt hat;« versprochen? (Zit.n. Riley-Smith, Die Kreuzzüge, 2020, S. 231) Er sah die Kreuzzüge prinzipiell als Verpflichtung jedes geeigneten Mannes an, das Kreuz zu nehmen. Wer sich verweigerte, dem drohte er mit dem Jüngsten Gericht. Der Sündenablass wurde auch denen zugesprochen, die selbst nicht an dem Kreuzzug teilnehmen konnten, aber einen Vertreter sandten und diesen bezahlten. Materielle Zuwendungen, Schenkungen und Almosen für den Kreuzzug konnten dem Spender einen Ablass erwerben, der dem Wert seines Beitrages entsprach. Höchst problematisch waren die von Innocenz III. verkündeten Möglichkeiten, das obligatorische Gelübde bei Angelegenheiten höchster Dringlichkeit mit apostolischer Zustimmung umzuwandeln, abzulösen oder gar zu verschieben. Ablösungen erforderten eine Geldzahlung. Dies hatte nicht nur für die Kreuzzugwerbung erhebliche Folgen, sondern für die Ablasstheorie und -praxis insgesamt. Schon Zeitgenossen beklagten sich über die Praxis ›Kreuze für Cash‹. Es war exakt dieses Ablassverständnis, dass den Augustinermönch Martin Luther 1517 zu seinen ›95 Thesen‹ gegen den Ablass motivieren sollte. In seinem Eifer, die Zahl der Kreuzfahrer zu steigern, schreckte Innocenz III. auch nicht vor der Verletzung kanonischen Rechts zurück, indem er entschied, dass Männer auch gegen den Willen ihrer Ehefrauen das Kreuz nehmen dürften. Seine Argumentation war sehr spitzfindig: »da der Widerspruch einer Ehefrau nichts gegen die Forderungen eines irdischen Königs nach Kriegsdienst und Gefolgschaft ausrichten kann, um wie viel weniger muss er dann im Angesicht Gottes, des Himmelskönig, gelten?« (Riley-Smith, Die Kreuzzüge, 2020, S. 230). Das war, schaut man auf das oft schreckliche Schicksal der allein gelassenen Kreuzfahrerfrauen, eine ausgesprochen zynische Interpretation.

Wirtschaftliche Interessen im Vordergrund?

Die Behauptung, die Kreuzfahrer hätten sich in erster Linie aus ökonomischen Interessen an den Kreuzzügen beteiligt, ist in dieser Engführung und Einseitigkeit schlicht falsch. Gewiss haben ökonomische Interessen im Hintergrund schon deshalb eine Rolle gespielt, weil die feudalistische Kultur des Ritteradels grundsätzlich auf standesgemäße und familienzentrierte Selbstbehauptung, Landerwerb und Machterweiterung gerichtet war. Carl Erdmann hatte das in seinem ›Klassiker‹ relativiert und angemerkt: (…) »es ist unbestritten, daß nicht nur die Aussicht auf Sold, Beute und Landgewinn, sondern auch die auf Sündenvergebung und himmlischen Lohn die Krieger des Hochmittelalters in Bewegung gesetzt hat.« (Erdmann, Die Entstehung des Kreuzzugsgedanken, 1935, S. VIII). Die oft verbreitete These, dass sich viele jüngere ›unversorgte Söhne‹ des Adels beteiligt hätten, d.h. solche, die aus der Erbfolge ihrer Familien entweder ausgeschlossen waren oder aus anderen Gründen keine Chance auf Erbschaften aus ihrer Familie hatten, ist schlicht falsch: »Der einst verbreitete Mythos, die Kreuzfahrer seien eigennützige, landhungrige jüngere Söhne ohne eigenes Erbteil gewesen, ist nicht haltbar« (Asbridge, Die Kreuzzüge, 2021, S. 57).

Es gab im Gegenteil ganze Familiennetzwerke und adlige Clans von Kreuzfahrern, die kollektiv das Kreuz nahmen und in ihren Freundeskreisen für die Kreuzzüge warben. Gleichzeitig suchten sie dafür zu sorgen, dass der Familienbesitz in Europa zusammenblieb und den Zurückgebliebenen kein Schaden erfuhr. Auch die »Aussicht auf eine neue Heimat« kann die Kreuzritter »kaum motiviert haben. Neueste Forschungen haben (…) belegt, dass wirtschaftliche Faktoren wie die Hoffnung auf neue Wohngebiete oder demographischer Druck für die Kreuzfahrer wenig bedeutend waren«. (Jaspert, Die Kreuzzüge, 2003, S.18). Es muss auch zwischen den verschiedenen Kreuzzügen differenziert werden, bei denen ökonomische Interessen in verschiedener Bedeutung hervortraten. Beim Ersten Kreuzzug 1096-1099, der von großer frommer Jerusalem-Begeisterung, Buß- und Pilgergesinnung geprägt war, traten drei Kreuzritter mit ausdrücklichen ökonomischen und politischen Machtinteressen deutlich hervor: Bohemund von Tarent (1050-1111), späterer Fürst von Antiochia, Balduin von Boulogne (1058-1118), der Begründer des ersten Kreuzfahrerstaates und Tankred von Tarent (gest. 1112), Baron von Tiberias und Nachfolger seines Onkels Bohemund in Antiochia. Ihre primären frommen Überzeugungen, die sie zum Kreuzzug motivierten, sind jedoch nicht zu bezweifeln. Die stärksten ökonomischen und kommerziellen Interessen wurden während der gesamten Kreuzzugzeit von den Seerepubliken Genua, Pisa und Venedig verfolgt. Zugespitzt merkte Runciman an: ».. the merchant cities were out not for the welfare of Christendom but for their own commercial gain« (Runciman, A History of the Crusades, Bd.2, S. 315). Der Vierte Kreuzzug (1204), der ursprünglich nach Ägypten gehen sollte, wurde auf Anstiftung der Seerepublik Venedig (Doge Enrico Dandolo) umgeleitet und führte zur Zerstörung Konstantinopels und der Errichtung des Lateinischen Kaiserreichs (bis 1261). So verärgert die Kreuzfahrer über die doppelzüngige Politik der Seerepubliken und ihre ständigen internen Streitereien auch waren, ohne ihre Unterstützung wäre die Eroberung der Küsten des Heiligen Landes kaum möglich gewesen. Gleichwohl hing ihr Wohlstand auch von den guten Beziehungen zu den Muslimen ab (v.a. zum Hafen Alexandria). Sie durften sich diese nicht grundsätzlich zu Feinden machen. Das blieb stets ein schwieriger Balanceakt. Für die Kreuzfahrerstaaten wirkte sich ihre erbitterte Konkurrenz à la langue nachteilig aus, weil sie bis zu militärischen Auseinandersetzungen untereinander führte, was die Sicherheit und die Stabilität der Kreuzfahrerstaaten mehrfach ernsthaft bedrohte (etwa der Handelskrieg vor Akkon Juni 1258). Wirtschaftlich befriedigend, bzw. profitabel, waren die Kreuzzüge in erster Linie für die geistlichen Ritterorden, vor allem für die Templer.

Wer bezahlte die Kreuzzüge? Gutes Geschäft oder Fehlinvestition?

Die Kreuzzüge waren enorm teure Unternehmungen und bedeuteten erhebliche finanzielle Belastungen für die Kreuzfahrer. Bei dem hohen Risiko eines Kreuzzuges konnten sie nicht damit rechnen, dass sich ihre Einlagen auch amortisierten. Jonathan Riley-Smith schätzte, dass die »Teilnahme an einem Kreuzzug in den Osten (..) Kosten nach sich« zog, »die vielleicht das Vier- bis Fünffache des Einkommens eines Ritters ausmachten« (Riley-Smith, The First Crusade and the Idea of Crusading, 1986, S. 43). Um einen gepanzerten Reiter bezahlen zu können (Pferd und Bewaffnung), benötigte der Kreuzfahrer Einkünfte aus 12 Hufen seiner bäuerlichen Wirtschaftsbetriebe, das waren im Minimum 72 Hektar, im Maximum 216 Hektar. Der Kreuzzug des französischen Königs Ludwig IX. (›der Heilige‹) von 1248-1254 soll nach Schätzungen 1 Million 537 570tausend Livre gekostet haben (Riley-Smith, Wozu heilige Kriege, 2003, S. 75). Wenn 1 Livre zwischen 5 und 15 Euro wert war, dann sind das im Minimum zu 5 Euro gerechnet, fast 8 Millionen Euro und im Maximum, zu 15 Euro gerechnet, mehr als 23 Millionen Euro! Theobald von Champagne kalkulierte für den professionell finanzierten Kreuzzug 1204 25 000 Livres für sich und sein Gefolge und weitere 25 000 zum Vorhalten weiterer Truppen (Tyerman, God’s War, 2007, S. 507). Für den ominösen und skandalösen vierten Kreuzzug (1204) schloss das Kreuzfahrerkonsortium einen Vertrag mit der Seerepublik Venedig ab. Venedig verpflichtete sich zum Transport von 4500 Rittern, 9000 Knappen, 20 000 Mann Fußvolk, 4500 Pferden und entsprechender Lebensmittel über das Mittelmeer (Ziel: Ägypten) 85 000 Mark sollten die Kreuzfahrer in drei Raten bezahlen (Ebd., S. 512). Die adligen Kreuzfahrer verkauften, beliehen oder verpfändeten Land und Rechte und nahmen Kredite auf, um ihre Ausrüstung, ihr Gefolge und ihre Begleitmannschaften bezahlen zu können. Die von manchen (nicht nur vom Adel!) gehegten Hoffnungen, mit dem Traumziel ›Jerusalem‹ ein besseres Leben in Wohlstand und Sicherheit zu erlangen, hat sich für die breite Masse der Kreuzfahrer nicht erfüllt, im Gegenteil: Zahlreiche Kreuzfahrer kehrten arm und krank in ihre Heimatländer zurück. Für das einfache Volk, die schlichten Fußsoldaten und die unbewaffneten Pilger, waren die Kreuzzüge insgesamt ein Desaster. Ihr Blutzoll war exorbitant hoch und wer in Gefangenschaft geriet, landete auf irgendeinem orientalischen Sklavenmarkt ohne die Mittel, sich freizukaufen, was den adligen Gefangenen möglich war. Die Kreuzfahrerstaaten, die sich im Zuge des Ersten Kreuzzuges (1096-1099) entwickelten, waren und blieben stets Zuschussgeschäfte. Es kann demnach nicht in erster Linie die Gier auf Land und Beute gewesen sein, welche die Kreuzfahrer zum Zug ins Heilige Land motivierte. Die Untertanen der zur Kreuzfahrt bereiten Herrscher wurden kräftig zur Kasse gebeten: Der englische König Heinrich II. (1133-1189) und der französische König Philipp II (1165-1223) führten 1166 eine Steuer ein, deren Höhe sich nach dem Wert des beweglichen Besitzes und dem Einkommen des Steuerpflichtigen richtete. 1188 wurde der ›Saladin-Zehnte‹ (›Saladin Tithe‹) eingeführt. Dieser wurde für ein Jahr von allen, Laien wie Klerikern, verlangt, die nicht das Kreuz nahmen. Bemessungsgrundlage waren wieder beweglicher Besitz und Einkommen. Auch führten die Könige eine wechselnde Summe ihrer jährlichen Einkünfte an die Päpste ab, die das Geld zur Finanzierung der Kreuzzüge zu verwenden versprachen (Ebd., S. 76). Die Päpste waren ohnehin die wichtigsten und profitabelsten Geldeintreiber für die Kreuzzüge und ersannen immer neue Finanzquellen und Einzugsmethoden. Höchst umstritten ist auch der ökonomische Ertrag der Kreuzzüge für Europa, der von marxistischen und liberalen Wirtschaftshistorikern überschätzt wurde.

Kreuzzug und Dschihad – Mission contra Da‘Wa?

Der Vorwurf, die Kreuzzüge hätten die Missionierung, bzw. bei Konversionsweigerung, die Vernichtung der Muslime zum Ziel gehabt, ist eine schwarze Legende. Der österreichische linkskatholische Historiker Friedrich Heer (1916-1983) war sich ganz sicher was die Kreuzfahrer zum Aufbruch nach Jerusalem motiviert hatte:

»Die sechs mittelalterlichen Kreuzzüge, mit denen das christliche Abendland zwischen 1096 und 1270 das ›Heilige Land‹ zu erobern und den Vorderen Orient zu missionieren suchte, rechtfertigten sich religiös mit dem Hinweis auf die alleinseligmachende Wahrheit des Christentums. Die ›Erlösung‹ sollte den ›Ungläubigen‹, den ›Widersachern Christi‹, den ›Ketzern und Heiden‹ mit Gewalt, mit Feuer und Schwert beigebracht werden. Diese von den römischen Päpsten propagierten und protegierten Kreuzzüge haben unendliches Unheil gestiftet.« (HEER, Die Kreuzzüge – gestern, heute, morgen, 1969, S. 5).

Der deutsch-syrische Politikwissenschaftler Bassam Tibi formulierte einen seltsamen Parallelismus: »Die Kreuzzüge waren an Missionierung und der islamische Djihad und an die Da’Wa zum Islam gebunden« (Tibi, Kreuzzug und Djihad, 1999, S. 133). So war es nicht. ›Da’Wa‹ (arabisch für ›Einladung zum Islam‹) ist nicht schlicht als Äquivalent zur christlichen Mission zu begreifen. Ungeachtet der Tatsache, dass Christentum und Islam grundsätzlich missionarische Religionen sind, bestehen sowohl sachliche Unterschiede (z.B. theologische Begründungen) als auch sehr verschiedene historische Ausprägungen und Verläufe von Mission und Da’Wa. Die Zeit der Kreuzzüge war sicherlich keine günstige Zeit für christliche Mission und Da’Wa. Friedrich Heer, Bassam Tibi und viele andere verkannten die mannigfaltigen Beweggründe der Kreuzfahrer, das Kreuz zu nehmen. Auch wenn die Frömmigkeit ein Hauptbeweggrund für Kreuzfahrer war, bestimmte sie nicht heiliger missionarischer Bekehrungseifer. Eine Ausnahme ist der französische König Ludwig IX., (›der Heilige‹), der die Kämpfe zwischen Christen und Muslimen »als eschatologischen Kampf zwischen Gut und Böse« betrachtete und der Versuchung nicht zu widerstehen wusste, »sein Heer zum Zweck der Bekehrung einzusetzen« (Housley, Die Kreuzritter, 2002, S. 143). ›Zwangsbekehrungen‹ von Muslimen sind nicht bekannt. Ein festgefügtes, auf die Religion verengtes, christliches ›Feindbild Islam‹, hat es in den Anfängen der Kreuzzugbewegung nicht gegeben. Was wussten die Kreuzfahrer und die sie beeinflussenden Kleriker vom Islam? Nichts Genaues. Der Islam wurde von christlicher Seite lange Zeit als Form christlicher Häresie wahrgenommen, was vor dem Hintergrund der endlosen theologischen und politischen Auseinandersetzungen in der Alten Kirche um den ›richtigen‹ Glauben und die diesem entsprechenden Bekenntnisse (von Nicäa 325 bis 451 Chalkedon) nicht verwunderlich war. Der Theologe Johannes von Damaskus (675-749) hatte in seinem bekannten Werk (›Quelle der Erkenntnis‹) den Islam als eine der von ihm behandelten 100 Häresien eingeordnet (›De Haeresibus‹). Er verbreitete die Legende, Mohammed sei von einem arianischen Mönch über das Christentum unterrichtet worden und habe den häretischen Lehren seine eigenen religiösen Ideen hinzugefügt. Er sei ein Heuchler und Betrüger gewesen. Dies blieb im 12. und 13. Jahrhundert die dominierende Haltung des christlichen Westens zum Islam und blieb auch so selbst als der Koran im Jahre 1140 erstmalig – auf Veranlassung des Cluniazenser Mönchs Petrus Venerabilis – ins Lateinische übersetzt wurde.

Trotz der in der Kreuzzugszeit durchaus virulenten »Da’Wa‘ Praxis, gab es von muslimischer Seite keine offensiven Aktionen zur „Missionierung« der »ungläubigen« Franken. Es ist aber die häufige Praxis überliefert, gefangene Christen vor die Wahl zu stellen, entweder zum Islam zu konvertieren oder zu sterben. Nur sehr wenige konvertierten freiwillig, von ihren christlichen Brüdern als Schwächling verachtet. Wer lieber starb wurde als Märtyrer verehrt. Im kollektiven Gedächtnis des Abendlandes ist die Weigerung zur Konversion von 18 Kindern geblieben. Nach dem Scheitern des sogenannten ›Kinderkreuzzuges‹ 1212 wurden sie nach Bagdad auf den Sklavenmarkt verschleppt und dort vor die Alternative Konversion oder Tod gestellt. Sie wählten den Tod und alle wurden grausam hingerichtet (Runciman, History of the Crusades, Bd. 3, S. 143). Auch der umgekehrte Fall war höchst selten, denn das Verlassen des Islam galt als ›Apostasie‹ (Abtrünnigkeit, arabisch ›Irtidad‹) und wurde als todeswürdiges Verbrechen geahndet.

Die Muslime haben den überraschenden Einfall der Kreuzritter zunächst nicht als ›Religionskrieg‹ verstanden, sondern als kriegerischen Eroberungsakt auswärtiger Mächte. Das änderte sich aber bereits nach dem ersten Kreuzzug. 1105 hatte der Rechtsgelehrte Ali ibn Tahir al-Sulami (Ϯ 1106), Prediger an der Großen Moschee von Damaskus, eine sehr weitsichtige Analyse des Kreuzzuges und der Absichten der Kreuzfahrer (›Ifranj‹) in einem Buch veröffentlicht, das er unter dem Titel Kitab al-jihad veröffentlichte. Darin beschrieb er sehr klar, dass es den Invasoren um die Eroberung Jerusalems und weiterer muslimischer Territorien ging. Diese kriegerische Aktion bezeichnete er als christlichen ›Dschihad‹, d.h. um einen auch religiös motivierten Krieg. Die muslimische Rezeption seiner Warnungen war zu seiner Zeit aber noch sehr verhalten. Doch sehr rasch führten die Aktionen der Kreuzfahrer mit ihrer demonstrativen Verbindung von Frömmigkeit und Krieg zum Umdenken und zur Besinnung auf die eigenen kämpferischen Wurzeln im Dschihad Konzept. Seit jeher waren im Islam Religion und Politik nicht zu trennen. Der Expansionismus, bzw. Imperialismus der muslimischen Araber nach Mohammeds Tod 632 war daher nicht nur, wie uns manche muslimische Wissenschaftler und ihre westlichen Unterstützer glauben machen wollen, auf bloße politische und ökonomisch motivierte Eroberung und Ausbeutung anderer Ländereien gerichtet. Die Religion war von Anfang an eine entscheidende dynamische, motivationale und emotionale Kraft. Die im Koran, den Hadithen und Kommentaren der vier maßgeblichen Rechtsschulen breit dargelegte Konzeption des Dschihad als einer Pflicht für alle Muslime, wurde vom Atabeg von Mossul, Imad ad-Din Zengi (1084-1146), praktisch wiederbelebt. Die folgenreiche Eroberung der Kreuzfahrerstadt Edessa 1144 war sein Werk und er wurde von den muslimischen Chronisten als ›Säule der Religion‹ begeistert gefeiert. Sein jüngster Sohn Nur ad-Din (auch Nureddin, ›Licht des Glaubens‹) (Ϯ 1074) setzte den Kampfeifer seines Vaters unvermindert fort, fügte den Franken weitere schwere und demütigende Niederlagen zu, eine der ersten bei Inab (am Brunnen Murad) im Juni 1149. Die Armee des Fürsten Raimund von Antiochien (rd. 5000 Mann stark) wurde von der muslimischen Übermacht fast ganz aufgerieben, Fürst Raimond getötet und sein Kopf als Geschenk an den Kalifen von Bagdad gesandt. Arabische Chronisten, allen voran Ibn al-Athir (1160–1233), gewissermaßen der Hofschreiber des Zengi-Clans, hoben seine religiöse Leidenschaft für den Dschihad hervor. Er galt als vorbildlicher ›Mujahid‹ (Gotteskämpfer) (Hillenbrand, The Crusades, 1999, S. 118ff.). Auch der legendäre Sultan Saladin (1173-1193) zeigte gesteigerte religiöse Kampfbereitschaft gegen die Franken. Sein Vertrauter Bahad ad-Din (1145-1234) pries ihn in den höchsten Tönen: »Sein Verlangen nach dem heiligen Krieg hielt sein Herz und alle seine Sinne gefangen, so daß er von nichts anderem als davon sprach und sich um nichts anderes als um Rüstung und Soldaten für den heiligen Krieg kümmerte.« (Die Kreuzzüge aus arabischer Sicht, 1973, S. 143). Ganz überschwänglich stimmten Saladins Biografen Ibn Shadadd und Imad al-Din al-Isfahani in den Lobpreis ein, insbesondere nach seinem glorreichen Sieg gegen die Kreuzritter bei Hattin am 4. Juli 1087 und der Eroberung Jerusalems im gleichen Jahr. Als führender ›Mujahid‹ wurde er als Modell-Muslim und allseits geliebter Kriegsherr geradezu hymnisch verehrt. Selbst der ihm gegenüber kritische Ibn al-Athir würdigte ihn ausdrücklich. Wie fromm er letztlich gewesen ist, wird sich kaum eindeutig entscheiden lassen, denn Saladin war Realist und Pragmatiker und er wusste wohl aus strategischen Gründen die dschihadistische Leidenschaft seiner muslimischen Streiter zu entfachen.

Einfall der ›fränkischen Barbaren‹ in eine überlegene Kultur?

Die in der kulturgeschichtlichen und islamwissenschaftlichen Literatur immer noch lebendige These, dass die ›barbarischen‹ Kreuzfahrer in eine ihnen weit überlegene islamische Kultur eingebrochen seien und diese zerstört hätten, ist nicht haltbar:

»Selbst wenn wir einräumen, dass gebildete Araber über eine überlegene Kenntnis der klassischen Autoren verfügten, dass sich unter ihnen hervorragende Mathematiker und Astronomen befanden, so bleibt doch festzuhalten, dass die Muslime auf vielen technischen Gebieten weit im Rückstand lagen. (Stark, Gotteskrieger, 2013, S. 110).

Zweifelsfrei haben islamische Kenntnisse in Mathematik, Physik, Medizin, Chemie und Astronomie für einen fruchtbaren Wissenstransfer in das Abendland eine bedeutende Rolle gespielt. Aber aus dieser Tatsache zu schlussfolgern, wie häufig zu lesen ist, dass die europäische Zivilisation ohne den Islam nicht hätte entstehen können, ist völlig absurd. Stolz halten muslimische Geisteswissenschaftler bis heute die kühne Behauptung aufrecht, dass das philosophische ›griechische Erbe‹ von den Muslimen für Europa ›gerettet‹ worden sei (z.B. Plato, Aristoteles, Hippokrates etc.). Das antike Erbe ist entscheidend in spätrömischer Zeit, im Übergang zum Mittelalter zwischen ca. 500 und 800 n.Chr. von den christlichen Klöstern im Westen erhalten und vermittelt worden, z.B. dem Kloster Vivarium in Süditalien, in dem der berühmte Cassiodorus (485-580) gewirkt hat. Ferner ist zu denken an Isidor von Sevilla (560-636) und den Philosophen Boethius (480-514) sowie bedeutende Theologen in Irland und England. Die Vermittlungsleistung der Byzantiner, die »ihre Identität als Römer und Orthodoxe« und »ihr hellenistisches und klassisch-griechisches Kulturerbe« pflegten, ist hoch zu bewerten (Haldon, Das Byzantinische Reich, 2002, S. 208).

Ohne das islamische Erbe (›turāth‹) in Philosophie und Theologie gering zu schätzen, muss doch festgehalten werden, dass gerade jene bedeutenden fortschrittlichen islamischen Philosophen und Theologen des Mittelalters (vom 9. bis 12. Jhdt.), von denen das Abendland tatsächlich etwas hätte lernen konnten, in massiven Widerspruch zum islamischen Offenbarungsdogma und seiner Apologeten gerieten, wie z.B. al-Kindi (800-866/73), al Farabi (870-950), ar-Razi (864-925), die Schule der Mu’tazila im 9. Jahrhundert, Ibn Sina (Avicenna, 980-1037), Ibn Tufail († 1185) und in erster Linie Ibn Ruschd (Averroes, 1126-1198). Im Diskurs über Religion und Philosophie, Glauben, Wissen und Erkenntnis, Offenbarung und Geschichte, Gottesbilder (anthropomorph/symbolisch), die Historizität des Koran (Erschaffenheit/Unerschaffenheit) der rationalistischen Wahrheitssuche und der Betonung der Willensfreiheit des Menschen, vertraten sie Positionen, die scholastischen Debatten im mittelalterlichen Europa nicht unähnlich waren. Doch kamen sie aufgrund des Sieges konservativ-orthodoxer Philosophie und Theologie (z.B. al-Ghazali, Ibn Taimiyya, Ibn Hazm) in der islamischen Welt nicht zum Tragen. Und von der islamischen Orthodoxie mit ihrem faktischen Vernunftverbot konnte das mittelalterliche Europa nichts lernen (Ghadban, Allahs mutige Kritiker, 2021, S. 120ff.).

Die entscheidenden Leistungen des Wissenstransfers vom Griechischen in die Sprache der Eroberer – das Arabische – gingen von orientalischen Christen aus, genauer, von ostsyrischen Gelehrten, die vom Griechischen ins Syrische übersetzten und dann vom Syrischen ins Arabische (z.B. Abu Zaid Hunain ibn Ishaq, 808-873) und sein Sohn Ishaq ibn Hunain, gestorben 910). »Bedeutende muslimische Philosophen hatten ostsyrische-christliche Lehrmeister: Al-Farabi den Logiker und Mönch Matta ibn Yunus, Ibn Sina (Avicenna) den Arzt und Philosophen Abdallah ibn at-Taiyib« (Tamcke, Christen in der islamischen Welt, 2008, S. 39). Vom 8. Jahrhundert an blühte die Übersetzungsarbeit im arabischen ›Haus der Weisheit‹ in Bagdad. Die übersetzten Schriften fanden dann u.a. über das eroberte Spanien Eingang in das Abendland und begründeten den Ruf der Muslime als interkulturelle Vermittler durch die Sammlung zahlreicher Schriften in Bibliotheken (herausragend Córdoba und Toledo). Zur Kreuzzugzeit waren die meisten arabischen Schriftsteller, Philosophen und Ärzte orientalische Christen. Das muslimisch besetzte Spanien (Al-Andalus) wird bis heute als »interreligiöser Glückfall für Europa« gerühmt (Tischler, Ist Spanien ein interreligiöser Glücksfall für Europa? In: Möller/ Goßmann (Hgg.), Interreligiöser Dialog, 2006, S. 145 ff). Ein solcher Euphemismus ist nicht angebracht. ›Al-Andalus‹ kann nicht als das vermeintlich ›Goldene Zeitalter‹ des Wissenstransfers, des christlich-muslimischen Dialogs, der gegenseitigen Toleranz und ›convivencia‹ glorifiziert werden. Hier ist seit der Aufklärung eine Mythenbildung im Gange, die bis heute von muslimischer Seite sorgsam gepflegt wird. Bis auf kurze Phasen der Abwesenheit christlich-muslimischer Konfrontationen auf der Iberischen Halbinsel, etwa in der Regierungszeit von Abdurrahman III. (912-961) und Al-Hakam (961-976), bestimmte für Jahrhunderte die Feindseligkeit auf beiden Seiten das christlich-muslimische Verhältnis. Fortschrittliche geistesgeschichtliche Entwicklungen und temporäre ›Toleranz‹ endeten in ›Al-Andalus‹ mit der Machtübernahme der berberischen islamischen Fundamentalisten, der ›Murabitun‹ (= Grenzwächter), besser bekannt als ›Almoraviden‹ (von 1092-1172) und den ihnen folgenden noch extremeren ›Almohaden‹ (= Einheitsbekenner) von 1172 bis 1492. Den muslimischen Eroberern hatte das christliche Abendland die ›Reconquista‹ entgegengesetzt, deren Kämpfe und Feldzüge von den Päpsten als ›Kreuzzüge‹ geadelt wurden.

Die hochgelobte und gewiss streckenweise bemerkenswerte islamische Architektur ist ohne die christlich-byzantinischen Vorbilder gar nicht zu denken. Der Moscheebau orientierte sich an den Anlagen byzantinischer Kirchen, was besonders beeindruckend auf dem Jerusalemer Tempelberg oder in Istanbul (Suleiman-Moschee) besichtigt werden kann. Europäische Musik und Malerei wurden weitgehend ignoriert und es gab keine genuinen islamischen Hervorbringungen, allein schon wegen des orthodoxen ›Bilderverbots‹. Ähnliches gilt für die bildende Kunst. Einige Historiker und vor allem Islamwissenschaftler haben im Anschluss an die verbreitete Orient-Romantik im 18. Jahrhundert behauptet, dass der Einfluss der islamischen Welt »letztlich auch ein entscheidender Faktor für den Beginn der Renaissance« gewesen sei (Asbridge, Die Kreuzzüge, 2021, S. 706). Dieses Argument, bis in die Gegenwart getragen, ist nicht stichhaltig. Wie oben schon erwähnt, sind Philosophie, Literatur und Künste in den christlichen Klöstern und von den Humanisten im 14. Und 15. Jahrhundert, vornehmlich in Italien, bewahrt worden.

Von einer technischen Unterlegenheit der ›Franken‹ konnte schon gar nicht die Rede sein. Die Muslime lernten die Schiffbautechnik für ihre Flotten von den Byzantinern und die Belagerungstechnik von ihren fränkischen Feinden (Mangonels, Trebuchets, Belagerungstürme, sogenanntes ›griechisches Feuer‹ etc.).

Was also konnte die vermeintliche Überlegenheit der islamischen Kultur begründen? Sicherlich bewunderten die Franken die Pracht orientalischer Städte, wie Damaskus, Bagdad, Alexandrien oder Kairo, doch das waren alles Städte mit einer Jahrhunderte alten Kultur, die ihren Glanz z.T. den Zeiten des Römischen Reiches und dann dem Byzantinischen Reich verdankten. Es ist höchst zweifelhaft ›kulturellen Vorsprung‹ am Beispiel des muslimisch-spanischen Córdoba durch die Anzahl von Moscheen (600), Bäder (300), Hospitäler (50) und der schon vorhandenen Straßenbeleuchtung belegen zu wollen. Die stereotypen Argumente vom Einfall der ›Barbaren‹ in die ›überlegene‹ islamische Kultur sind in erster Linie einem tiefsitzenden Minderwertigkeitskomplex geschuldet, der mit aggressiver antiwestlicher Rhetorik überspielt wird.

›Segregation‹ und/oder ›Integration‹?

In der Kreuzzugforschung ist immer wieder höchst kontrovers die Frage diskutiert worden, ob es nach dem ersten Kreuzzug zwischen Christen und Muslimen Einstellungsveränderungen und Wandlungen ihrer gegenseitigen Wahrnehmungen und ihres Verhaltens gegeben habe. Hat die anhaltende Nähe von ›Franken‹ und ›Sarazenen‹ im ›Heiligen Land‹ auf das Leben in Outremer ausgestrahlt und wenn ja wie? Wie ist die Kreuzfahrergesellschaft im 12. und 13. Jahrhundert in Stadt und Land zu beschreiben? Zwei kontroverse, extreme Positionen sind dabei zu beachten: Die einen halten strikt daran fest, dass ›Segregation‹ das dominierende Muster der sozialen Beziehungen gewesen sei. Ab den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts war die These beliebt, dass die Kreuzfahrerstaaten seien ausbeuterische europäische Kolonien gewesen, von einer elitären und brutalen fränkischen Elite regiert. Diese hätte sich auf ihren – sukzessive errichteten – gewaltigen Festungen und Burgen (u.a. Atlit, Beaufort, Krak des Chevaliers, Montfort etc.) verschanzt und ihre Truppen nur zu Überfällen und Kriegen ausrücken lassen. Der israelische Historiker Joshua Prawer (1917-1990) sprach gar von »Apartheid« (Prawer, The Latin Kingdom of Jerusalem, 1972. S. ix, S. 469ff.). Die fränkischen Siedlungen inmitten des ›Feindeslandes‹ seien stets in einer prekären Lage gewesen und ihre Bewohner hätten jederzeit Übergriffe gewärtigen müssen. Drastisch formulierte Runciman: »No one knew when he might not receive a knife-thrust from a devotee of the Assasssins or poison from one of his servants“ (Runciman, A History of the Crusades, Bd. 2, S. 323).

So krass war es sicher nicht. Gewiss aber auch nicht so, wie die Vertreter der ›Integrationsthese‹ behaupten, die als ihren ›Kronzeugen‹ stets den Kaplan Balduins von Boulogne (König Balduin I.), Fulcher von Chartres (1059-1127) zitieren:

Denn wir, die wir Abendländer waren, sind nun Orientalen geworden. Einer, der Römer oder ein Franke war, wurde in diesem Land zu einem Galiläer oder Palästinenser. Einer, der aus Reims oder Chartres stammte, ist nun ein Bürger von Tyrus oder Antiochien geworden. Wir haben unseren Geburtsort bereits vergessen; schon kennen ihn viele von uns nicht mehr oder er wird nicht mehr erwähnt.
Einige besitzen bereits ein Heim oder einen Hausstand aufgrund einer Erbschaft. Einige haben Frauen nicht nur aus ihrem eigenen Volk genommen, sondern Syrerinnen oder Armenierinnen oder gar Sarazeninnen, welche das Sakrament der Taufe empfangen haben. Bei dem einen lebt nicht nur sein Schwiegervater, sondern auch die Schwiegertochter oder sein eigen Fleisch und Blut, wenn nicht gar sein Stiefsohn oder Stiefvater. Hieraus leiten sich Enkel und Urenkel ab. Die einen kultivieren Weinberge, andere bestellen Felder.
Die Leute gebrauchen die Wortwahl und Ausdrucksweise verschiedener Sprachen, wenn sie sich über dies und jenes unterhalten. Worte unterschiedlicher Sprachen sind Gemeingut geworden, das jeder Volkszugehörigkeit geläufig ist, und gegenseitiges Vertrauen vereint jene, denen ihre Herkunft nicht bekannt ist. Es steht in der Tat geschrieben: ›Der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind‹ (Jes 65,25). Wer als ein Fremder geboren wurde, gleicht nun einem hier Geborenen; wer als Ausländer auf die Welt kam, ist zu einem Einheimischen geworden.“ (Fulcher von Chartres, Historia Hierosolymitana (1095-1127), hrsg. von Heinrich Hagenmeyer, 1913. Lib. III, cap. XXXVII, S. 746ff.)

Der Text hätte auch in einem Werbeprospekt mit der Überschrift Kommt ins Heilige Land, und lasst Euch nieder! stehen können. Hier zeichnete Fulcher um 1120 ein zu rosiges Bild seiner Gegenwart, denn eben in diesem Jahr der Abfassung seiner Schrift hatte die Synode von Nablus beschlossen, sexuelle Beziehungen zwischen Christen und Muslimen streng zu bestrafen. Das war nun gewiss keine Einladung zu friedlichem Miteinander. Die ›Integrationisten‹ zitieren sodann als weitere Primärquelle den muslimischen Prinzen von Shaizar, Usâma ibn Munqidh (1095-1188), der uns eine legendäre Autobiographie aus der Kreuzzugzeit hinterlassen hat. Darin beschrieb er neben zahllosen Berichten über Kämpfe mit den Kreuzrittern auch fränkische Lebensweisen, die ihm häufig als wahrhaft ›barbarisch‹ erschienen (z.B. Speisen, Hygiene, Verständnis von ›Ehre‹, Umgang mit Frauen). Er stellte die Franken in der Regel als ehrlose, schmutzige und stinkende ›Ungläubige‹ dar. Angeblich würden sie sich nur einmal im Jahr mit kaltem Wasser waschen! Gleichwohl rühmte er auch die Kreuzritter für ihre Kampfkraft, Ritterlichkeit und gelegentlichen Großmut, nicht ohne den Kontrast zur besonderen islamischen Kriegstechnik und Geistesgröße herauszustellen. Einen Kreuzritter, der einen anderen zurechtwies, der ihm das Gebet auf dem Tempelberg verwehren wollte, lobte er ausdrücklich für seine Freundlichkeit. Auch erwähnte er einen Franken, mit dem er in herzlicher Freundschaft verbunden gewesen sei. Doch rund 80 Prozent seiner Erzählungen beschäftigen sich mit dem Krieg gegen die ›Ungläubigen‹, die ›Gott verfluchen‹ möge. Und mit kaum verhüllter Empörung berichtete er, dass ein befreundeter Franke ihm den Vorschlag gemacht habe, seinen 14jährigen Sohn mit ins Frankenland zu nehmen, damit er dort ritterliche Kampftechniken und fränkische Lebensart kennenlerne. Munqidh kommentierte: »So drangen Worte an mein Ohr, die nicht dem Kopf eines vernünftigen Mannes entsprungen sein konnten, denn selbst wenn mein Sohn in Gefangenschaft geraten wäre, hätte dies nicht schlimmer für ihn sein können als ins Land der Franken zu gehen«. Aber er blieb höflich und lehnte das Angebot mit Verweis auf familiäre Verpflichtungen zurück (Usâma Ibn Munquidh, Ein Leben im Kampf gegen Kreuzritterheere. Aus dem Arabischen übertragen von Gernot Rotter, 1978, S. 150).

Trotz des florierenden Handels in den Städten und Siedlungen der Kreuzfahrerstaaten und den damit verbundenen häufigen Begegnungen auf Augenhöhe, blieben die sozialen Beziehungen von ausgeprägt distanzierter Natur. Kaum ein Muslim machte sich die Mühe, die Sprache der ›Ifranj‹ und ihre Lebensart kennenzulernen. Was sollten sie auch von einer Religion lernen wollen, die im Koran als ›überholt‹, ›verfälscht‹ und ›blasphemisch‹ zurückgewiesen wurde und deren Anhänger im Namen ihres Gottes Muslime massakrierten? Man lese nur einige von den zahllosen Suren, welche die ›Kuffar‹ (= Ungläubigen) verdammen, nur die Suren 3,71; 4, 157 und 171; 5,14; 5, 51; 5, 72-77.

»Für den Moslem, der von der Vollkommenheit des Islam und der Oberhoheit der moslemischen Macht überzeugt war, waren sie Anhänger veralteter Religionen und Mitglieder eroberter Gemeinschaften. Deshalb konnten sie ihm wenig bieten, was von Interesse oder Wert für ihn gewesen wäre«. (Lewis, Die Welt der Ungläubigen. Wie der Islam Europa entdeckte, 1983, S. 64.)

Während die islamische Welt weitgehend in ›splendid isolation‹ verharrte und es vor dem 18. Jahrhundert »nicht das geringste Zeichen für intellektuelles Interesse an westlichen Sprachen und den in ihnen abgefaßten Literarturen« gab, begann im Abendland bereits im 12. und 13. Jahrhundert, die Beschäftigung mit dem Arabischen (Lewis, Die Welt der Ungläubigen, 1982, S. 80). Einige Kreuzfahrer und fränkische Chronisten mühten sich, Arabisch zu lernen, lasen arabische Literatur und kommunizierten auf Arabisch (Reginald von Sidon, Raimund III. von Toulouse und v.a. Erzbischof Wilhelm von Tyrus). In der Zeit der Renaissance begann eine ernsthafte Beschäftigung mit dem Arabischen (der erste bedeutende Arabist war der englische Geistliche William Bedwell, 1561-1632) und im 18. Jahrhundert setzte die wissenschaftliche Erforschung von Sprachen und Lehren des Islam ein (Orientalistik, Islamwissenschaft).

In der Kreuzzugzeit hat es weder ›Integration‹ noch gar Ansätze eines ›interkulturellen Dialogs‹ zwischen Abendländern und Morgenländern gegeben. Eine rigorose Politik kolonialistischer ›Apartheid‹ fand aber auch nicht statt. Die kriegerischen Konfrontationen sind in den Quellen von beiden Seiten ausführlich beschrieben und kommentiert worden, weniger allerdings die friedlichen Phasen, wo auch gelegentlich Diplomatie, Verträge und Gewaltverzicht das beiderseitige Verhältnis bestimmten. Es gab eine sehr begrenzte ›Toleranz‹, auch als »rough tolerance« beschrieben (MacEvitt, The Crusaders and the Christian World in the East: Rough Tolerance, 2008).

Man konnte zeitweise mehr oder weniger friedlich nebeneinander, aber nicht miteinander, leben. So ist im Fazit festzuhalten: Der Kampf um das Heilige Land bestimmte letztlich das Verhältnis von Christen und Muslime über den gesamten Zeitraum des Bestehens der Kreuzfahrerstaaten.

Der Templerorden – Mörder im Namen Christi?

Der ›heilige Bernhard‹ von Clairvaux wurde im Abendland nicht nur durch seine fulminanten Kreuzzugsaufrufe- und briefe, sondern auch durch seine Schrift Liber ad milites templi de laude novae militia (Lobrede auf die neue Ritterschaft, ca. 1128/1129) weithin bekannt. Sie sollte u.a. dazu dienen, dem 1120 in Jerusalem gegründeten Templerorden zu päpstlicher Anerkennung und Rekrutierung weiterer Ordensbrüder zu verhelfen. St. Bernhard hatte dem Gründer des Templerordens, Hugues de Payens aus der Champagne, seine uneingeschränkte Unterstützung zugesagt (Jones, The Templars, 2017, S. 42ff.; Sarnowsky, Die Templer, 20172). Der Templerorden hatte mit seiner geradezu revolutionären Verbindung von Mönchtum und Rittertum einen bis dahin unbekannten Typus mittelalterlicher Ritterschaft hervorgebracht, der für die Kreuzzugzeit und darüber hinaus überragende Bedeutung gewinnen sollte. Dahinter traten die anderen geistlichen Orden zunächst zurück: der ›Chorherrenorden des Heiligen Grabes‹ (gegründet 1099), die Johanniter (Hospitaliter), gegründet 1113 und der Deutsche Orden, gegründet 1192. König Balduin II. hatte einer kleinen Gruppe von Rittern, die sich zu einer Bruderschaft zusammengeschlossen hatten, einen kleinen Teil seines Palastes (frühere Al-Aqsa-Moschee) auf dem Tempelberg in Jerusalem eingeräumt. Als vormaliger Standort des antiken Tempels König Salomons besaß dieser eine besondere historische Bedeutung. Daher wurde die kleine Gruppe ritterlicher Brüder sehr bald als »Pauperes commilitones Christi templique Salomonici Hierosalemitanis« (Arme Ritter Christi und des Tempels von Salomon zu Jerusalem) bezeichnet, kurz: die ›Tempelritter‹ oder ›Templer‹. Die Geschichte des raschen Aufstiegs des Templerordens, seine brutale Vernichtung zwischen 1307 und 1314 und seine endgültige Auflösung durch Papst Clemens V. 1312 füllt mit zeitgenössischen Dokumenten und Sekundärliteratur ganze Bibliotheken (Demurger, Die Verfolgung der Templer, 2017). Bis heute ist seine Geschichte höchst kontrovers, aber gerade deshalb geht von ihr immer noch eine fast unheimliche Faszination aus. Immer wieder wurde in Dokumentationen, Romanen, Filmen, TV-Serien etc. die Geschichte des Ordens neu erzählt – in einer Mischung aus Verehrung, Abscheu, angenehmem Gruseln und Entsetzen über sein tragisches Ende 1314. Die Templer bleiben bis heute ein aufregender Stoff für populäre Vermarktung. In den Buchhandlungen finden wir in der Abteilung ›Historische Romane‹ zahlreiche Werke, die das Thema ›Templer‹ fiktional variantenreich verarbeiten. Eine ganze Reihe von ihnen schafften es auf die Bestsellerlisten. Z.B. Umberto Eco mit Das Foucaultsche Pendel (1992) und Dan Brown, Sakrileg (2004). Viele andere verkauften sich auch gut, etwa Wolfgang Hohlbein, Das Blut der Templer (2004), Inge Ott, Das Geheimnis der Tempelritter (2012), Ulrich Hinse, Das Gold der Templer (2014), Martina Andrés, Tempelritter-Trilogie (2015), Tom Melley, Die Gebote des Templers (2019), Guido Dieckmann, Die Templer-Saga, drei Bände, (2021), Preston W. Child, Der verlorene Schatz der Tempelritter (2021) und viele weitere. Film und Fernsehen waren auch eifrig bestrebt, das Interesse des Publikums zu bedienen, z.B. die Verfilmung von Sakrileg (d.h. »Der Da Vinci Code«, 2006) mit Tom Hanks in der Hauptrolle, Der letzte Tempelritter (2011) mit Nicolas Cage, die US-TV-Serie Knightfall (2018) über das Ende der Templer in Frankreich. Vorurteile, Gerüchte, Verschwörungstheorien, Legenden und Mythen blühten über die Jahrhunderte und werden immer neu aufgewärmt. Ein Film-Klassiker neben Sakrileg ist der zweiteilige Fantasy-Film Das Blut der Templer nach Wolfgang Hohlbeins Roman, mit Spitzenbesetzung (Harald Krassnitzer, Mirko Lang, Oliver Masucci, Catherine Flemming). Hier wird die Geschichte des ›Heiligen Gral‹ wiederbelebt: Die Templer und die ihnen feindlich gesinnten ›Prieure von Sion‹ jagen nach dem ›Heiligen Gral‹, d.h. sie suchen jenes Gefäß (Schale), das nach christlicher (apokrypher) Überlieferung von Jesus Christus als Kelch beim letzten Abendmahl mit seinen Jüngern benutzt worden sei und in dem Josef von Arimathia das Blut Christi unter dessen Kreuz aufgefangen haben soll. Templer hätten den Gral versteckt und ihn nach Ende der Kreuzfahrerstaaten an einen geheimen Ort in Frankreich verbracht. Er wird am Ende – nach blutigen Auseinandersetzungen zwischen den Templern und den ›Prieuren‹ gefunden - aber beide scheitern mit tödlichen Konsequenzen an der Macht des Gral.

Die Beschreibungen der Templer umfassen eine große Bandbreite. Sie reichen von den Beschützern des ›heiligen Gral‹ (bei Wolfram von Eschenbach) bis zur Geheimgesellschaft mit antichristlichen Ritualen (bei den Freimaurern im 18. Jahrhundert bis heute). Idealisierung und Dämonisierung wechselten über die Jahrhunderte, wobei am Ende doch eher das verzerrte und düstere Bild der Kritiker und Feinde des Ordens obsiegte. Der Orden steht dann für das ›finstere Mittelalter‹, geprägt von Mord und Totschlag und ein korruptes, Krieg und Gewalt ›glorifizierendes‹ Christentum. Waren die Templer ›Mörder im Namen Christi‹? Es mögen diejenigen so sehen, die mit Kurt Tucholsky Soldaten pauschal als Mörder titulieren. Über Tucholskys Satz ist bis in unsere Gegenwart – auch höchstrichterlich – gestritten worden, letztendlich mit dem Ergebnis, dass der Satz durch die Meinungsfreiheit des Art. 5 GG gedeckt sei. Wer das so sieht, mag es tun. Ich teile diese Auffassung ausdrücklich nicht (Tucholsky, Der bewachte Kriegsschauplatz. In: Tucholsky, Gesammelte Werke, Bd. 9, 1931, S. 253).

Der Orden, der 1129 auf dem Konzil von Troyes erste Ordensregeln fixiert hatte, erlangte am 29. März 1139 von Papst Innocenz II. außerordentliche Privilegien (Bulle ›Omne datum optimum‹), u.a. Steuerfreiheit, Besitzgarantie aller bestehenden bzw. zu erwerbenden Häuser, Liegenschaften etc., Berechtigung mit Zustimmung der Bischöfe den ihnen eingeforderten ›Zehnten‹ für eigene Zwecke zu nutzen und eigene geistliche Stätten zu errichten (›Oratorien‹). Seit 1147 durfte der Orden in der bekannten Ordenskleidung auftreten (weißer Mantel, rotes Kreuz) und entwickelte rasch eigene Netzwerke und Verwaltungsstrukturen. Seine gute finanzielle Ausstattung, erworben vor allem durch Schenkungen und Stiftungen, erlaubte es ihm, sich im werdenden Bankgeschäft zu betätigen. Er streckte klammen Fürsten die notwendigen Gelder für die Kreuzzüge vor, finanzierte Teile selbst und bezahlte Schulden. Der fast märchenhafte Aufstieg des Ordens zum zweifellos mächtigsten der geistlichen Ritterorden im ›Heiligen Land‹ aber auch in Europa, löste nicht nur aufrichtige Zustimmung und Begeisterung aus. Schon in der Kreuzzugzeit fanden Gegner des Ordens zahlreiche Kritikpunkte. Die wichtigsten seien hier knapp zusammengefasst:

Der Templerorden:
• anerkenne nur eine Autorität, den Papst, und weigere sich beharrlich, die Regeln des Lehnswesens zu beachten, d.h. füge sich nicht der Oberhoheit von Königen, Fürsten und Grafen;
• sei unermesslich reich geworden durch zahlreiche Geldzuwendungen, Schenkungen, Erbschaften und Stiftungen;
• sei aufgrund seiner europaweiten Bankgeschäfte zum Gläubiger zahlreicher Adelshäuser geworden und nutze seine wirtschaftliche Macht zu Erpressungen;
• habe politische Macht erlangt, beherrsche zahlreiche Landstriche in Europa und im ›Heiligen Land‹ durch seine kampfbereite Ritterschaft und ein weitgespanntes Netzwerk von Burgen und geistlichen Häusern;
• verfolge stets eigensüchtige Interessen und sei mit den anderen Orden zerstritten;

Die in den Prozessen gegen die Templer 1307-1314 vorgebrachten Beschuldigungen waren keine Sachkritik mehr, sondern bloße Verleumdungen zum Zwecke der Vernichtung des Ordens, angestiftet vom französischen König Philipp IV. ›der Schöne‹ (1268-1314) und seines Beraters Guillaume de Nogaret. Zahlreiche der sogenannten ›Geständnisse‹ der angeklagten Templer waren durch die Folter, bzw. Androhung derselben erzwungen (Demurger, Die Verfolgung der Templer, 2017, S. 76ff.) Demnach sollen die Templer ›Geheimlehren‹ vertreten und widerliche ›häretische‹ Rituale zelebriert haben, was heute als widerlegt gilt. Der Historiker kann nur im Blick auf die zeitgenössischen Quellen so etwas wie eine Bilanz versuchen, wobei klar ist, dass uns in den mittelalterlichen Quellen – in Sprache und Wertvorstellungen – fremde, aber auch in sich widersprüchliche, Gedankenwelten entgegengetreten. Natürlich ist es nach heutigen moralischen und christlichen Maßstäben nicht zu akzeptieren, dass, um es schlicht auszudrücken, eine militärische Elitetruppe sich beim Töten der Feinde auf die unmittelbare Anordnung Gottes und Jesu Christi beruft. Gleichwohl ist es Aufgabe der Geschichtsschreibung, die zeitgenössische Gedankenwelt weder nur positivistisch-deskriptiv abzubilden, noch an den Maßstäben des 21. Jahrhundert zu messen und entsprechend zu bewerten. Der Mittelalterhistoriker Malte Prietzel hat treffend deutlich gemacht, worauf es ankommt: »Man kann nur nach methodischen Adaptern suchen, welche die Vorstellungen einer Kultur in der Logik, Wortwahl, Sinnhaftigkeit der anderen Kultur verständlich machen« (Prietzel, Kriegführung im Mittelalter, S. 18).

Es gibt m.E. keine nur düstere Bilanz, im Gegenteil. Die Templer
• haben in dem Bewusstsein, Gott und Christus zu dienen, mit großem Einsatz, persönlichem Verzicht auf ›weltliche‹ Ehren eine einmalige Verbindung von Mönchtum und Rittertum geschaffen, die für ihre Zeit und die Lage im ›Heiligen Land‹ sinnvoll und hilfreich war;
• haben erfolgreich die Pilgerwege nach Jerusalem offengehalten, beschützt und zahlreichen Pilgern Leib und Leben erhalten;
• haben sich neben den Johannitern durch die Pflege kranker und invalider Pilger ausgezeichnet;
• haben durch ihre militärische Kompetenz in den Kreuzzügen manches Desaster für gekrönte Häupter und ihre Heere verhindert. Ein glänzendes Beispiel ist das couragierte Eingreifen des Großmeisters der Templer Everard (Eberhard) des Barres (Amtszeit von 1147-1152) beim zweiten Kreuzzug 1147/48. Mit eiserner Disziplin, Kampfkraft und kluger Taktik sorgte er dafür, dass das in den Gebirgsschluchten Kleinasiens von pausenlosen türkischen Attacken bereits stark dezimierte und demoralisierte französische Kreuzfahrerheer mit Mühe und Not nach Attalia entkam. König Ludwig VII. rettete sich, nach dem Bericht des Augenzeugen Odo von Deuil, in der Hitze des Gefechts auf einen Felsen, von dem aus er sich tapfer gegen zahlreiche Türken verteidigte, die den König nicht erkannt hatten und den einsamen Felsenkämpfer mit Pfeilen und Säbelattacken bedrängten. Der König agierte wie ein Berserker und erschlug viele von ihnen. Schließlich gaben sie es auf und der König kehrte sie zu seiner Truppe zurück. Schon in verzweifelter Lage verteidigten sie 1291, ihren eigenen Untergang vor Augen, die von der Mamluken Armee eingekesselte und bestürmte Stadt Akkon und retteten somit zahlreichen Zivilisten das Leben (Crowley, Der Fall von Akkon, 2019, S. 221ff.).
• haben durch ihr Netz von Festungen und Burgen für die Stabilisierung und den Zusammenhalt der Kreuzfahrerstaaten gesorgt. Ohne sie wären die Kreuzfahrerstaaten schon früher untergegangen nicht erst 1291;
• waren mit ihren diplomatischen Kompetenzen wichtige Berater der Könige von Jerusalem und anderer christlicher Fürsten;

Fazit: Es gibt heute keinen Grund mehr, an der ›Damnatio Memoriae‹ des Templerordens festzuhalten.

Kollektives muslimisches ›Trauma‹ seit den Kreuzzügen?

Seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert zieht sich ein bis heute einflussreicher Interpretationsstrang durch die Historiographie der Kreuzzüge. Bei allen Differenzen der Historiker im Einzelnen, hält sich sehr hartnäckig die – häufig popularisierte – Auffassung, dass die Muslime in erster Linie die unschuldigen Opfer der expansionistischen Aggressionen der Kreuzfahrer gewesen seien. Dem wurde, wie oben gezeigt, häufig widersprochen, aber immer noch wird behauptet, dass die Kreuzzüge bei Muslimen ein kollektives Trauma ausgelöst und zu einem Jahrtausend währender Verbitterung, Entfremdung und Feindseligkeit geführt hätten. Der Sachbuchautor Amin Maalouf, libanesischer Christ, in Paris lebend, schrieb, dass der Türke Mehmet Ali Agca, der 1981 versucht hatte, Papst Johannes Paul II. zu töten, später erklärt habe, er habe den »Obersten Kriegsherren der Kreuzritter töten« wollen. Maalouf sah darin ein Beleg dafür, welch nachhaltiges Trauma die Kreuzzüge, auch im Abstand von fast tausend Jahren, im kollektiven Gedächtnis der muslimischen Welt hinterlassen hätten. Ein »Verfolgungskomplex« habe sich in der islamischen Welt entwickelt. Der Westen sei der ewige Feind geblieben, gegen den »legitime Rache« geübt werden dürfe (Maalouf, Der Krieg der Barbaren, 20032, S. 283f.). Das ist sehr kritisch zu hinterfragen. Wenn ein ›Trauma‹ und ein ›Verfolgungskomplex‹ in der islamischen Welt entstanden sein soll, so gewiss nicht als unmittelbares Ergebnis der Kreuzzüge. Die zeitgenössischen Chronistenberichte der relevanten arabischen Autoren lassen kein ›kollektives Trauma‹ erkennen. Als Hintergrund muss berücksichtigt werden, dass in der islamischen Welt erst ab dem neunten Jahrhundert verstreute Berichte über Westeuropa bekannt wurden, die z.T. haarsträubende Geschichten über die europäischen Länder und ihre Bewohner verbreiteten (Lewis, Die Welt der Ungläubigen, 1982, S. 135ff.). Die konfrontative Kreuzzugzeit war dann nicht gerade besonders günstig für Länderstudien und so setzte erst lange nach den Kreuzzügen ein neues Interesse an Europa ein. Erst ab Mitte des 19. Jahrhundert gab es, nach Jahrhunderten der Indifferenz, wieder eine Beschäftigung mit den ›Franken‹ und den Kreuzzügen. Arabisch-syrische Christen brachten erstmals den Begriff ›al-hurub al-Salabiya‹ (die ›Kreuzkriege‹) oder ›harb al-salib‹ (›Krieg des Kreuzes‹) in den Diskurs ein, wo vorher nur von den Kriegen der ›ifranj‹ die Rede gewesen war. 1865 erschien in Jerusalem die erste „Geschichte der Heiligen Kriege im Osten, Kreuzkriege genannt“ auf Arabisch, eine Übersetzung von Muhammad Mazlum aus dem Französischen. 1872 verfasste der türkisch-nationalistische Schriftsteller Namik Kemal (1840-1888) die erste ›moderne‹ Saladin-Biographie, zweifellos in der Absicht, Saladin zum Vorläufer einer pan-islamischen Einheit zu stilisieren. Mit seiner Schrift begann die Entfaltung der muslimischen Heldenverehrung des großen Sultans. Der mit großem Aplomb inszenierte Besuch des deutschen Kaisers Wilhelm II. 1898 in Jerusalem und Damaskus, wo er einen Kranz am Grabe Saladins niederlegte (!), mag den ägyptischen Historiker Sayyid Ali al-Hariri motiviert haben, 1899 die erste arabische Geschichte der Kreuzzüge zu verfassen: »Ausgezeichnete Darstellungen der Kreuzfahrerkriege« (»Al-akhbar al-saniya fi’l-hurub al-salibiya«). Der Autor zitierte ausführlich aus den islamischen mittelalterlichen Quellen und bezog die Geschichte von den Kreuzzügen auch auf seine Zeit. So habe der türkische Sultan Abdülhamid II. treffend angemerkt, dass Europa gegenwärtig einen Kreuzzug in Form einer politischen Kampagne gegen das Osmanische Reich führe (Hillenbrand, Crusades, 1999, S. 592). Explizite, dokumentarisch belegte, Feindseligkeiten wegen der Kreuzzüge kamen somit erst Mitte des 19. Jahrhunderts auf und waren eine Reaktion auf »den Niedergang des Osmanischen Reiches und den Beginn eines tatsächlichen europäischen Kolonialismus im Nahen Osten« (Stark, Gotteskrieger, 2013, S. 18f.). Der ägyptische ›liberale‹ Reformer Mohammed Abduh (1849-1905) stellte in seinem Bestreben der Abgrenzung vom imperialistischen Westen Bezüge zu den Kreuzzügen her und verglich die Kreuzfahrer mit den modernen Kolonialisten. »Ein Franke«, so erklärte er, »mag in die höchsten Ränge aufgestiegen sein, wie Gladstone, gleichwohl scheint jedes Wort von Peter dem Einsiedler zu stammen« (Bhatia, Forgetting Osama bin Munqidh Remembering Osama bin Laden, 2008, S. 20).

Die Kreuzzüge wurden gleichermaßen zum Symbol der aktuellen politischen Entwicklungen. Sie standen als anti-muslimische historische Erbschaft für die ›imperialistisch-kolonialistischen‹ Bestrebungen und feuerten den Nationalismus der republikanischen ›Jungtürken‹ an. Wehrt Euch gegen ›die Invasion von Kreuz und Kapital‹ hieß es!

Die Erinnerungen an die glorreichen Zeiten der Vernichtung der Kreuzfahrerstaaten – angefacht durch die Heldenverehrung für Sultan Saladin – sollte zugleich den Widerstand gegen ›den Westen‹ beflügeln. Der ehemalige Diktator des Irak, Saddam Hussein, pflegte sich auf gewaltigen Propaganda Plakaten gemeinsam mit Saladin darzustellen. Und das obwohl Saladin bekanntlich Kurde war, die Hussein blutig bekriegte. An allem Niedergang und Elend der islamischen Welt sei der ›Kolonialismus‹ schuld, das war die allgemeine Stimmung in der arabisch-islamischen Welt. Das ›Mandat‹ von Engländern und Franzosen für Teile des zerfallenen Osmanischen Reiches (Libanon, Palästina) nach dem Ersten Weltkrieg sei nur ein anderes Wort für ›Kreuzzug‹. Höhepunkt sei die Gründung des Staates Israel 1948 gewesen – gewissermaßen als Nachfahre der Kreuzfahrerstaaten, bewusst als ›Brückenkopf‹ des Kolonialismus in den Nahen Osten gesetzt. Vor allem Islamisten und Dschihadisten waren eifrig bemüht, das muslimische Gedächtnis an die Kreuzzüge wiederzubeleben und Erinnerungen in fundamentalistische anti-westliche und anti-christliche Feindbilder zu transformieren. Das begann schon mit der ältesten islamistischen Organisation, den Muslimbrüdern 1928. Der Chefideologe der Muslimbrüderschaft Sayyid Qutb (1906-1966) setzte sich in mehreren Schriften mit den Kreuzzügen auseinander. Dabei schöpfte er stark aus dem Werk des zum Islam konvertierten Österreichers Leopold Weiss (alias Muhammad Asad). Für diesen, wie für Qutb, waren die Kreuzzüge nicht schlicht politisch mit ›Imperialismus‹ gleichzusetzen, sondern der Imperialismus war ›but a mask for the crusading spirit… The unveiled crusading spirit was smashed against the rock of the faith of Muslim leadership which came frm various elements, including Salahhuddin the Kurd and Turan Shah the Mamluk, who forgot the differences of nationalities and remember their belief, and were victorious under the banner of Islam‹ (Qutb, Milestones, geschrieben zwischen 1954 und 1962, S. 160). Der Westen wurde hier pauschal als vom ›Geist der Kreuzzüge‹ erfüllt diffamiert und diese Feindseligkeit hält bis heute an. Insbesondere Sayyid Qutb begründete die bis heute wirksame Konzeption einer jahrhundertealten Verschwörung gegen die arabisch-islamische Welt. Stets seien die Muslime die Opfer des »kreuzritterlichen Geistes« gewesen, der den »Okzidentalen im Blut liegt und sich in ihr Unterbewußtsein eingeschlichen hat« (Damir-Geilsdorf, Herrschaft und Gesellschaft. Der islamistische Wegbereiter Sayyid Qutb und seine Rezeption, 2002, S. 92). Die Kämpfer gegen die Kreuzfahrer, von Saladin bis Baybars, werden dagegen als Kämpfer für den ›wahren Glauben‹ glorifiziert. So werden unausgesetzt zahlreiche Legenden in die Welt gesetzt.

Ergo: Von einem kollektiven ›Trauma‹ im sozialpsychologischen Sinn kann keine Rede sein, wohl aber von einer politischen Instrumentalisierung der Vergangenheit und einer Selbststilisierung als permanentes ›Opfer‹ des Westens, um von eigenen Fehlern abzulenken und sich um eine realitätsgerechte Aufarbeitung der dunklen Seiten der eigenen Geschichte zu drücken. Nicht ›der Westen‹ ist am Niedergang des Islam vom 19. Jahrhundert aufwärts ›schuld‹. Es gibt dafür zahlreiche endogene Gründe, die hinreichend aufgearbeitet und beschrieben wurden.

Keine zeitgenössische Kritik an den Kreuzzügen?

Kritik an den Kreuzzügen ist nicht erst seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert formuliert worden, es gab sie schon bei einer ganzen Reihe von Zeitgenossen. Die Kritik war naturgemäß am stärksten nach unmittelbaren Niederlagen der Kreuzfahrer. Sie richtete sich u.a. auf militärische Fehler (z.B. Unterschätzung der Stärke der Muslime), die Kriegstaktik oder die Führungsschwäche der kommandierenden Adligen. Eine eher ins Grundsätzliche zielende Kritik war, wenn auch vereinzelt, durchaus vorhanden und nahm in der Regel drei Formen an: Skepsis, praktische Zurückhaltung, das Kreuz zu nehmen und schließlich eine Fundamentalkritik an dem ganzen Unternehmen (Siberry, Criticisms of Crusading 1995-1274, 1985, S. 69ff.) Massive, fundamentale Kritik wurde z.B. von dem legendären ›Annalisten von Würzburg‹ geübt, der das Scheitern der Kreuzzüge pauschal auf die Sünden der Christenheit zurückführte: »Gott erlaubte, dass die abendländische Christenheut wegen ihrer Sünden niedergeworfen wurde…Gewisse Pseudopropheten verführten die Christen mit eitlen Worten, gegen die Sarazenen zu ziehen, um Jerusalem zu befreien… Auf diese Weise gaben sich die Bewohner fast aller Gebiete der Vernichtung preis« (Ebd., S. 198) Diese, auf christliche Apokalyptik gestützte, Erklärung des Scheiterns der Kreuzzüge ins Heilige Land wurde letztlich zum Mantra der grundsätzlichen Kritiker (›peccatis nostris exigentibus‹), die auch von dem eifrigsten Kreuzzugprediger des Zweiten Kreuzzuges, Bernhard von Clairvaux, in seinem Werk De consideratione, geteilt wurde. Gott bestrafe die Sünden der Kreuzfahrer, indem er ihre gerechten Niederlagen geradezu herbeiführe. Apokalyptische Motive bestimmte auch die Kreuzzugkritik des Propstes des Prämonstratenserstifts zu Reichersberg, Gerhoh von Reichersberg (1092-1169). Für ihn waren die Niederlagen der Kreuzzugbewegung letztlich das Werk des Antichristen. Das eine ›Tier aus dem Abgrund‹ in der Offenbarung (Kapitel 13) bezeichnete er als die Habgier der Kirche. Es sei von Rom nach Jerusalem und wieder zurück geflohen! (Ebd., S. 200). In der trinitarischen Geschichtstheologie des kalabresischen Ordensgründer Joachim von Fiore (1135-1202) wurden die Kreuzzüge als aktuelle Beispiele für heilsgeschichtliche Entwicklungen identifiziert. Die sieben Köpfe des ›Tieres‹ in der Offenbarung 13 seien die sieben großen Verfolger des Christentums: Herodes, Nero, Constantius, Mohammed, Melsemutus (Babylon), Saladin und schließlich der Antichrist. Bei dem legendären Treffen Joachims mit König Richard I. ›Löwenherz‹ in Messina 1190/91 sagte er dem erfreuten englischen König den Sieg seines Heeres über Saladin voraus. Seine auf allegorischer Schriftauslegung und Fortschrittsdenken beruhenden kühnen Zukunftsvisionen trafen zwar nicht zu, aber erfüllten seine Anhänger mit immer neuen Hoffnungen auf das kommende Reich des Geistes und des Friedens. In seiner Expositio in Apocalypsim und seinem Jeremiaskommentar (»Super Hieremiam«, 1243/1248) sagte er voraus, dass in der Zukunft die Christen über die Heiden siegen würden, aber nicht mit dem Einsatz von Waffen, sondern durch friedliche Predigt. Seine Aussagen wurden zwar von seinen Anhängern (z.B. Salimbene von Parma und Gerardino von Borgo) und von Chronisten der Kreuzzüge zitiert, aber diese ›pazifistischen‹ Gedanken blieben nur in sehr kleinen Theologenkreisen lebendig. Es gab sie aber trotz der klar dominierenden Rechtfertigungen des Krieges gegen die Ungläubigen, die in der Causa XXIII des »Decretum Gratiani« offizielle kanonische Geltung erlangt hatten (Ebd., S. 210). Radikaler Pazifismus wurde zur Zeit der Kreuzzüge nur von den Katharern und Waldenser vertreten, die von der Kirche blutig verfolgt wurden. Die Einwände eines Radolfus Niger, dass die Bekehrung von Ungläubigen nicht mit Waffengewalt erzwungen werden könne, wurde im Kern von den Päpsten und führenden Theologen geteilt, weil sie die Kreuzzüge nicht als Kriege zur ›Bekehrung‹ der Heiden betrachteten.

Die hauptsächliche Kritik bezog sich in erster Linie auf die ›pilgernden‹ Kreuzfahrer selbst, ihre Befähigung zur Beteiligung an Kreuzzügen, ihr Verhalten untereinander und gegenüber den Muslimen. In der Regel sollten nur (männliche) Laien an den Kreuzzügen teilnehmen, dabei aber bevorzugt die dazu körperlich fähigen und finanziell Betuchten, um die Kosten ihrer Reise ins Heilige Land zu tragen. Arme, Alte und Schwache hätten nicht zuletzt sich selbst, sondern die Kreuzzugunternehmen als solche gefährdet. Sie sollten am besten zurückbleiben. Die Teilnahme von Geistlichen wurde problematisiert, vor allem dann, wenn sie sich aktiv an Kämpfen beteiligten. Ihre Aufgabe sei Predigen, Sakramente spenden, Beichten abnehmen und Bußen verkünden, nicht aber die Beteiligung an Kämpfen um den Erwerb von Macht und Land. Abt Adam von Perseigne, Teilnehmer am Vierten Kreuzzug, schrieb an seinen Bischof Hamelin von Le Mans, dass »Christus sein Blut nicht vergossen habe, um Jerusalem zu erwerben, sondern um Seelen zu gewinnen und zu retten« (Ebd., S. 30). Einer der schärfsten Kritiker, der englische Theologe Radolfus Niger, erklärte kategorisch, dass Priester kein Blut vergießen dürften, denn Christus gebiete dem Angegriffenen auch die andere Wange hinzuhalten (Matthäus 5, 39). Niger war keineswegs ein radikaler Pazifist, sondern es ging ihm entscheidend darum, dass der Mönch dem Gelübde seines Ordens treu bleiben sollte (›stabilitas‹). Eine Reihe von Kritiken zielte auf die Intentionen und das Verhalten der Kreuzfahrer. Zeitgenössische Kritiker, seien es der Papst, hohe geistliche Würdenträger, historische Berichterstatter oder auch Troubadoure, geißelten viel auszusetzen: »The most common accusations levelled against the crusaders were that they were guilty of pride, avarice, sexual incontinence and extravangance in dress and demeanor« (Ebd., S. 218). Kreuzfahrer sollten sich bescheiden kleiden und keinen Luxus nach außen zur Schau stellen. Glücksspiele, Trinkgelage und üppige Feste seien nicht mit dem Charakter der Kreuzzüge als einer Bußleistung zu vereinbaren. Die Kreuzfahrer, so Papst Gregor VIII. in seiner Bulle »Audita Tremendi« (Oktober 1187), sollten in Ausrüstung, Kleidung und Verhalten zeigen, dass sie auf einem Bußgang seien, anstatt ihre ritterliche Eitelkeit zur Schau zu stellen. Als leuchtendes Beispiel für Frömmigkeit, stolze Bescheidenheit, Bußgesinnung und zugleich ritterliches Verhalten wurde stets der französische König Ludwig IX. (›der Heilige‹) herausgestellt (siehe oben). Scharfe Kritik wurde an jenen geübt, die entweder ihr Kreuzzugsgelübde nicht einhielten oder die Umsetzung unziemlich verzögerten. Die gekrönten Häupter, namentlich Richard I. ›Löwenherz‹, Phillip August von Frankreich und vor allem Kaiser Friedrich II. von Hohenstaufen, gingen dabei mit schlechtem Beispiel voran. Allerdings begünstigten manche Päpste die Ablösung von Kreuzzugsgelübden durch Geldzahlungen, was in der Konsequenz zu skandalösem Missbrauch führte. Immer wieder wurden die ›Sünden‹ der Kreuzfahrer angesprochen, die als grundlegende Ursachen und Erklärungen für die Niederlagen der Kreuzfahrer genannt wurden. Die Sünden verdunkelten die rechte Kreuzfahrergesinnung und führten mit Folgerichtigkeit zu Schwachheit, Versagen und Niederlagen. Der Oxforder Grammatiker John of Garland nahm darauf Bezug und betonte die »recta intentio«: Der Kreuzfahrer trage gewissermaßen eine innere Schlacht (»psychomachia«) zwischen Tugenden und Lastern aus und könne gegen die Muslime nur siegreich sein, wenn die Tugenden in ihm triumphierten (Ebd., S. 97).

Was bleibt? Weder ›Hosianna‹ noch ›Kreuzige‹ ihn!

Es gibt heute keinen ernst zu nehmenden Historiker mehr, der, wie so manche seiner Kollegen im 19. Jahrhundert, die Kreuzzüge als ›zivilisatorischen Fortschritt‹ rühmt. Dagegen eignen sich die Kreuzzüge immer noch dazu, Zerrbilder zu verbreiten, ›schwarze Legenden‹ zu erzählen und platte Schuldzuweisungen zu verteilen. Sie werden aus muslimischer Sicht als Kampfwerkzeug explizit gegen das Christentum und ganz unspezifisch gegen ›den Westen‹ gerichtet.

Die historische Wahrheit bleibt auf der Strecke. Warum scheiterten die Kreuzzüge? Gläubige Christen könnten, ähnlich wie Papst Eugen III. in seiner Enzyklika »Quantum Predecessores«, (1146) theologisch sagen, sie scheiterten an der Sünde der Menschen, ihrer Überhebung und Selbstgerechtigkeit. Aus heutiger Sicht würden Christen hinzufügen: wegen ihrer fatalen Verdrehung des Evangeliums des Friedens und des Heils in ein Instrument des Krieges (›Deus lo vult!‹).

Da Heilsgeschichte eher das Metier der Theologen ist, muss der Historiker nach profanen Gründen suchen. Die Kreuzzüge scheiterten…
• an dem Erlahmen des Interesses des Abendlands an den kostspieligen Kreuzzugsunternehmungen, besonders nach dem Zweiten Kreuzzug 1147/48, dem »Absinken der Kreuzfahrerfrömmigkeit des Gottesstreitertum« und dem auch dadurch bedingten Abflauen des Kreuzzugsgedanken in der Folgezeit (Waas, Geschichte der Kreuzzüge, Bd.2, 1956, S. 271);
• an der Uneinigkeit und den egoistischen Interessen der gekrönten Häupter, der adligen Fürsten und Grafen in den Kreuzfahrerstaaten und in Europa, die zu fast permanentem Streit über adlige Vorrechte, Nachfolgeregelungen (insbesondere das Königtum von Jerusalem), Landbesitz, Erbschaften, Rolle der führenden Kleriker, Steuern und Abgaben führten und entscheidend die Bildung einer gemeinsamen Abwehrfront gegen die Muslime schwächten. Es gelang den Kreuzfahrern letztlich nicht, eine längerfristige politische Stabilität ihrer Staaten zu sichern: Outremer bot ein »pointillist picture of confusion, competition and conflict« (Tyerman, God’s War, 2007, S. 723);
• an der Einheit, Entschlossenheit, Kampfkraft, Kriegstaktik, dem Einfallsreichtum und den glühenden religiösen Überzeugungen ihrer islamischen Gegner von der Überlegenheit ihrer Religion und ihrem ›heiligen Krieg‹ gegen ›die Ungläubigen‹ (›Dschihad‹);
• den Streitigkeiten der gekrönten Häupter mit dem machtbewussten Papsttum, das seit Papst Innocenz III. die Organisation der Kreuzzüge (Ziele, Strategien, Taktik, Finanzierung) zu dominieren versuchte, sinnfällig an dem tiefgreifenden Antagonismus zwischen Kaiser Friedrich II. und den Päpsten, was letztlich zum Desaster des Fünften Kreuzzuges 1218-1221 führte;
• an der anhaltenden Konfrontation mit dem griechischen Kaiserreich (Byzanz), das der lateinische Westen als ›häretisch‹ (griechisch-orthodox), heuchlerisch, lügnerisch, wortbrüchig und hinterhältig verwarf und bekämpfte (Höhepunkt: Vierter Kreuzzug 1204). Darin lag cum grano salis eine gewisse Wahrheit, denn die wechselvolle Politik von Byzanz – zwischen Hilfe, Behauptung eigener Machtansprüche und Instrumentalisierung der Kreuzfahrer – war ein nicht unbedeutendes Hindernis für die Kreuzzüge;
• an den fast ständig köchelnden ›nationalen‹ Animositäten zwischen Engländern, Franzosen und Deutschen, die häufig genug ein entschlossenes gemeinsames Vorgehen verhinderten. Insbesondere die französisch-englischen Streitereien waren angesichts der gleichzeitig stattfindenden Kämpfe um die französischen Besitzungen der englischen Krone nicht verwunderlich; (Dan Jones, The Plantagenets. The Kings who made England. London, 2012, S. 45ff.)
• an der Feindseligkeit der Franzosen und Engländer gegenüber den Deutschen. Diese waren gleichermaßen verhasst, wozu das arrogante Auftreten und militärisch inkompetente Verhalten des deutschen Kaisers Konrad III. (1138-1152) erheblich beigetragen hatte. Dazu kam die skandalöse Inhaftierung des englischen König Richard I. (›Löwenherz‹) erst durch Herzog Leopold von Österreich und dann Kaiser Heinrich VI., der ihn über ein Jahr in der Festung Trifels gefangen hielt, eine astronomische Geldsumme für seine Freilassung erpresste und dann von ihm noch den Lehnseid verlangte. Auch dass sich 1192, mit päpstlichem Segen, ein ›Deutscher Orden‹ zu den schon lange aktiven Hospitalitern (Johannitern) und Templern zugesellte, löste neidvolle und feindselige Reaktionen aus.
• nicht zuletzt an Zufällen und unglücklichen Umständen. Dafür nur ein Beispiel: Die Tochter Königs Amalrich I. von Jerusalem und alleinige Erbin, Isabella, heiratete zwischen 1183 und 1197 vier Mal. Ihre letzten drei Ehegatten starben alle frühe und tragische Tode: Konrad von Monferrat wurde 1192 in Tyrus von Assassinen ermordet, Heinrich von Champagne fiel 1197 anlässlich einer Musterung seiner Truppen aus dem Fenster und Aimery von Zypern starb 1205, wahrscheinlich an einem vergifteten Fischgericht. Isabella folgte ihm fünf Tage später in den Tod.

Das Überleben der fränkischen Kreuzfahrerstaaten hing vom regelmäßigen Zustrom von Kreuzrittern, Fußvolk, Pilgern und siedlungswilligen Abendländern ab. Sie mussten ständig von außen mit Lebensmitteln, Waren des täglichen Bedarfs, Waffen, Rüstungen und Belagerungs- bzw. Verteidigungstechnik versorgt werden. Das ›Kreuzzuggeschäft‹ blieb ein Fass ohne Boden. Bis zu ihrem Untergang in Akkon 1291 hingen die Kreuzfahrerstaaten am Tropf Europas und blieben stets »umkämpfte Enklaven in einer großen, militanten und mächtigen muslimischen Welt«. 200 Jahre kämpften sie um ihr Überleben (Stark, Gotteskrieger, S. 234).

Sir Steven Runciman hat seine monumentale Kreuzzugshistorie mit einer poetisch-elegischen Schlussbetrachtung beendet, die in ein religiös formuliertes Verdammungsurteil mündete:

»In the long sequence of interaction and fusion between Orient and Occident out of which our civilization has grown, the Crusades were a tragic and destructive episode. The historian as he gazes back across the centuries at their gallant story must find his admiration overcast by sorrow at the witness that it bears to the limitations of human nature. There was so much courage and so little honour, so much devotion and so little understanding. High ideals were besmirched by cruelty and greed, enterprise and endurance by a blind and narrow self-righteousness; and the Holy War itself was nothing more than a long act of intolerance in the name of God, which is the sin against the Holy Ghost« (Runci, A History of the Crusades, Bd.3, S. 480).

Das waren starke Worte eines Byzantinisten mit orthodox-griechischen Neigungen, eines distanzierten Christen, der seiner Abscheu gegenüber dem, was er religiösen ›Fanatismus‹ nannte, stets deutlichen Ausdruck verliehen hatte. Die herausragenden Verdienste des selbsternannten Literaten für die Kreuzzugsforschung bleiben. Klio, die Muse der Geschichtsschreibung, begleitete freundlich Runcimans Narrative. Seine Worte spiegeln auch den Forschungsstand seiner Zeit und seine politischen Überzeugungen. Es ist oben gesagt worden, dass sich Waagschale der Beurteilungen nach dem 19. Jahrhundert tief zur ›Damnatio Memoriae‹ neigte und dort verharrte. Das Auf und Ab der kontroversen Bewertungen kann jedoch nicht die unbestrittenen historischen Wirkungen der Kreuzzüge auf die Gestalt und Entwicklung des abendländischen Europa in Frage stellen. (Housley, Contesting the Crusades, S. 145ff.).

Die Kreuzzüge waren geistes- und realgescichtlich bedeutende abendländische Unternehmungen, die mit ihrer relativ langen Dauer (je nach zeitlicher Einordnung der Kreuzzüge), in ihrer mobilisierenden emotionalen Kraft, religiösen Leidenschaft für das Christentum und ihrem Antagonismus gegen den Islam als einer religiös-politischen Religion, das Gesicht des mittelalterlichen Europas in religiöser und profaner Hinsicht nachhaltig geprägt haben. Sie haben dazu beigetragen, dass sich in Europa Ansätze einer Identität des christlichen Abendlandes zu formieren begannen. Die Kreuzzüge bleiben mit ihren langfristigen Wirkungen bis heute erstaunlich aktuell und erschreckend lebendig.

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(Teil I

(Diesem Beitrag liegt ein Manuskript mit zahlreichen Fußnoten zugrunde. Wer das vollständige Manuskript mit Fußnoten erhalten will, wende sich an den Autor (Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.). )

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