von Gunter Weißgerber

Chancengleichheit. Brandt und Schmidt. Neue Ost- und Gleichgewichtspolitik. Vertrauen schaffen bei gleichzeitiger Verteidigungsbereitschaft: Ich wurde mit dem Herzen Sozialdemokrat, lange bevor ich es überhaupt per Eintritt in die deutsche Sozialdemokratie werden konnte.

Meine Freunde in der Schule wussten das. 1978, elf Jahre vor 1989, offerierte ich das auch in meinen engeren Mitstudenten in Freiberg. Wie mir vor einigen Jahren anlässlich eines Seminargruppentreffens in Freiberg bestätigt wurde. »In die SED würde ich nie gehen, in eine SPD jederzeit und sobald es eine Sozialdemokratie in der DDR geben würde, wäre ich dabei. Weil Sozialdemokratie und Deutsche Einheit zusammengehören!« So meine 1978er Worte in der Erinnerung meiner Freunde.

Wie es dann ja auch geschah. Für mich gab es 1989 kein Halten mehr, was Freiheit, Demokratie, Deutsche Einheit, Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und NATO und all das unter aktiver Mitwirkung der Sozialdemokratie anging. Auch deshalb zog es mich an die Mikrofone der Friedlichen Revolution. Freiheit und Demokratie standen in der Tür, die SPD musste ganz vorn mitmischen! Ich für meinen Teil tat das. Am Tage meines SPD-Austritts am 7. Februar 2019 rief mich ein prominenter ostdeutscher Sozialdemokrat an und sagte mir: »Lass dir nicht einreden, du bist der SPD was schuldig! Mit unserer Gründung der SDP in unsicherer Zeit erfüllten wir unsere Bringschuld. Die, die jetzt ihre Nase rümpfen, wo waren sie denn im Herbst 1989?«

Soweit würde ich nicht gehen. Der SPD habe ich viel zu danken. Sie tat mir auch nichts, hielt mich in den letzten Jahren geradezu aus. Obwohl aus meiner Feder fast nur noch laute Kritik kam – Kritik auch und vor allem, weil es in der SPD niemanden interessiert, was engagierte Sozialdemokraten an Hinweisen und Vorschlägen geben. Meine Kommunikation mit der SPD-Spitze war sehr einseitiger Natur. Ich schrieb und die antworteten nicht, nie.

Doch das ist nicht der Grund meines Austritts. Vielen Mitgliedern ergeht es so.

Die SPD hat auch mir einiges zu danken. Das wären die deutlichen sozialdemokratischen Auftritte während der Friedlichen Revolution. Davon zehrte die SPD in der Region Leipzig etliche Jahre. Da waren knapp zwanzig Jahre des Streitens für ostdeutsche Interessen innerhalb des ›Zusammenwachsens, was zusammengehört‹. Da waren viele handfeste Erfolge für den Standort Ostdeutschland in Verknüpfung mit dem Wirken von Sozialdemokraten. Da war innerparteilich die Aktualisierung des ›Berliner Programms‹ der SPD in Leipzig 1998. Last but not least: Mit mir und meinen Freunden rutschte die SPD weder Richtung fünfzehn Prozent noch war zu unserer Zeit das Wort ›Direktmandat‹ für die Sozialdemokratie ein Fabelwesen in Sachsen.

An der ostdeutschen Sozialdemokratie war in der SPD zwei Jahrzehnte nicht gut vorbei zu kommen. Bestätigt hatten mir das nicht zuletzt die Leipziger Wähler 2005. Ohne Landeslistenabsicherung erzielte ich das sachsenweit beste Einzelergebnis für die Sozialdemokratie ausgerechnet in der Zeit härtester Angriffe auf uns wegen der AGENDA 2010. Wo andere Sozialdemokraten die Büsche aufsuchten, zog ich den Kopf nicht ein. Heute versucht die SPD Wahlergebnisse mittels politischer Kungelei herbeizureden, notfalls unter völligem Verzicht auf eigene Ansprüche. Auch das ist nicht der Grund meines Austritts. Das lässt sich irgendwie aushalten. Es schmeckt schlecht, es riecht schlecht, aber es könnte wieder vergehen. Die Gretchenfrage lautet: »Sind die Differenzen temporär oder grundsätzlicher Natur?«

Allgemein gilt, solange man zu mindestens einundfünfzig Prozent mit seiner Partei übereinstimmt und die ihre Grundlagen nicht uminterpretiert, kann man drin bleiben. Politisch strittige Themen und Personen sind temporär. Auf die DNA einer Partei kommt es an.

Parteien sind nun mal wichtig, Vollversammlungen mit allen deutschen Wählern sind in einem Parlament nicht machbar. Die Sozialdemokratie ist aus meiner Sicht wichtig. Jedenfalls die Sozialdemokratie, die es vor wenigen Jahren noch gab. Die jetzige SPD schuf engagiert eine Lücke, in die andere längst eingedrungen sind. Pessimismus ist angesagt. Die mit den Füßen trappelnden Fohlen hinter der Generation Nahles werden eine bessere Zukunft der SPD noch stärker zertrampeln. Das wird eh nix.

Es ist die DNA der SPD, die sich nachhaltig und für lange Zeit irreversibel geändert hat.

Zur DNA der deutschen Sozialdemokratie gehörten über anderthalb Jahrhunderte Freiheit, Demokratie, freie, geheime, direkte und unmittelbare Wahlen inklusive des Frauenwahlrechts, Standortpolitik, Wissenschaftsaufgeschlossenheit, Chancengleichheit.

Görlitzer Programm (1921), Godesberger Programm (1959) und SPD-Ostprogramm (1990) markierten die Absage an Gesellschaftsarchitekturbestrebungen, die Abwendung vom Marxismus mit der Hinwendung zur ›Sozialen Marktwirtschaft‹, die Westbindung und den unbedingten Beistand für Israel.

Nicht zuletzt war die SPD die Partei des ›Förderns und Forderns‹, der Hilfe zur Selbsthilfe. Mit dieser DNA gewann sie Mehrheiten und trug maßgeblich zu der Bundesrepublik Deutschland bei, zu der 1990 fast alle Ostdeutschen Ja sagten.

Die Ost-SPD erwies sich ihrer Schwester im Westen mehr als ebenbürtig. Ohne das ›Ja‹ der ostdeutschen Sozialdemokraten in der freien Volkskammer der verblichenen DDR wäre es am 23. August 1990 nicht zum Beitrittsbeschluss gekommen. Das war Sozialdemokratie.

Dreißig Jahre später ist die SPD genverändert. Die SPD ist nicht mehr solidarisch:

Die SPD war das gelebte Aufstiegs- und Teilhabeversprechen. Jetzt ist sie eine institutionengewordene Melk- und Umverteilungsselbsthilfegruppe. Die SPD genügt sich selbst. Ihren bisherigen Wählern genügt das nicht mehr.

Die SDP/SPD-Ost, aus einer kommunistischen Diktatur kommend, war demütiger und doch viel mutiger. Die Realität zu bessern ist einleuchtender, als eine virtuelle Realität zu versprechen. Ein Auszug aus dem Grundsatzprogramm der SPD der DDR vom 24. Februar 1990 (Markkleeberg) auf Seite 11 Mitte lohnt des Nachdenkens:

»Der von der Politik gesetzte Rahmen wird immer variabel sein müssen. Denn den Gang der Geschichte können wir nicht voraussehen. Wir können und wollen über die Absichten und Entschlüsse anderer Menschen nicht verfügen, sondern erhalten über sie Aufschluss nur durch die Erfahrung und den offenen, unabschließbaren Dialog. Darum bedürfen wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten keines fertigen Gesellschaftsmodells. Doch ist unser Bestreben, soweit als möglich alle entscheidenden Aspekte der gesellschaftlichen Entwicklung in den Blick zu bekommen und angemessen zu berücksichtigen. Deshalb suchen wir die Bedürfnisse und Interessen sowohl der Einzelnen als auch der Gesamtheit wahrzunehmen, ihnen zu ihrem Recht zu verhelfen und den Ausgleich zwischen ihnen zu befördern. ….Mit Demokraten können wir uns über gemeinsame Ziele verständigen, eine Zusammenarbeit mit Verfechtern totalitärer Ideologien, mit Links- und Rechtsextremismus lehnen wir strikt ab.«

Österreichs Sozialisten entschieden sich mit der Zeitenwende 1989/90 dafür, sich fortan ›Sozialdemokraten‹ zu nennen. Ein maßgeblicher Teil ihrer DNA war zu dem Zeitpunkt schon lange das klare Bekenntnis zu Freiheit, Demokratie, Chancengleichheit und sozialer Marktwirtschaft. Mit Sozialismus oder Kommunismus hatte das nichts zu tun und sollte endlich im Parteinamen zum Ausdruck kommen.

Die SPD sollte sich dreißig Jahre später ehrlich machen und sich fortan ›Sozialistische Partei Deutschlands‹ nennen. Das macht sogar Platz für eine ›Sozialdemokratische Alternative für Deutschland in der Europäischen Union‹.

Gegen die Sozialisten in der jetzigen SPD ist kein Kraut gewachsen. Das Terrain ist verloren. Auf sehr lange Zeit. Erholung ist nicht in Sicht. Auf der Visitenkarte der SPD stehen heute ›Sozialismus und Gesellschaftsarchitektur‹. Neue Sozialdemokraten treten dort nennenswert nicht mehr ein.

Selbstmord ist oft geplant. Die SPD scheint einen so einen Plan zu haben. So gesehen bin nicht aus der SPD ausgetreten, sondern die SPD tat es aus mir.

Eine Freund schrieb mir:

»… Also nochmal meine Anerkennung Deines Schritts. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie schwer einem ein solcher Schritt fällt. Immerhin muss man sich selbst gegenüber zugeben, dass der Kampf von Jahrzehnten im Wesentlichen vergeblich war. Und man hat in diesen Jahrzehnten doch eine affektive Bindung zur Partei entwickelt, ja, die Mitgliedschaft gehört zur eigenen Identität. Das gilt auch, wenn man weiß, dass man die Partei nicht selbst verlassen, sondern die Partei einen verlassen – ja sich selbst verraten hat…«
Geschrieben von: Weißgerber Gunter
Rubrik: Politik