Von Heribert Stiegenheimer

Sie entschuldigen bitte, ich muss Ihnen in meinem sechsten Lebensjahrzehnt endlich einmal mein Herz ausschütten. Es mag schlimmere Dinge geben, als im Bann des Fußballs gefangen zu sein. Zum Beispiel das anerzogene Interesse für die sogenannte »Modernen Musik«. Diese disharmonischen Geräusche müssen jedes ästhetisch geschulte Ohr beleidigen. Ist das Opfer einmal in diese Sektenkreise hineingeraten, gibt es aus der Lärm-Okkultismus kein Entrinnen, ohne dafür gestalkt und gesteinigt zu werden.

Mich traf ein ähnliches Schicksal 1973, als mich mein Vater ins Fußballstadion verschleppte. Ich war arglose elf Jahre jung und lief schnurstracks mit einer Holzfußbank bewaffnet in die Stehkurve. Heutzutage würde man schon am Stadioneingang wegen dieses potentiellen Mordwerkzeugs, das sich als gefährlicher Wurf- oder Schlaggegenstand eignet, dingfest gemacht werden. Vielleicht nicht gleich ein unschuldiges Kind, aber den Vater! Sie haben einen Anruf frei! Auch könnten sich kleingebliebene, aber ausgewachsene Erwachsene beim Anblick diese Holzkreation eine neue Diskriminierung einreden. Vorsicht vor woken Zeitgenossen, die alles und jedes auf sich und ihre Gefühle beziehen und mangels anderweitiger Beschäftigung ständig auf der Suche nach neuen Opferrollen sind! Das könnte zu Schadensersatzklagen mit Schmerzensgeldsummen führen, die die Armut der gesamten Sippschaft über Generationen zur Folge hätten. Nicht auszuschließen das alternative Abrutschen in die Vendetta (Blutrache) mangels Zahlungsfähigkeit, insofern man das Pech hätte, auf süditalienische oder albanische Fußballfans zu stoßen.

So stand ich kleine verlorene Seele in der Kurve, das Stadion war mit 32.000 Zuschauern gut gefüllt. Zum Ärger meines Herrn Vaters verlor die einheimische Mannschaft mit 1:3. Seitdem trage ich diesen gefährlichen Virus der irreparablen Fußball-Beklopptheit in mir. Ein Heiland dagegen ist nicht in Sicht, selbst die siebente lauterbachsche mRNA-Impfung würde als Gegenmittel wirkungslos im fußballerischen Nirwana verpuffen.

Fußball vereint die Menschen!

Wenn ich als Beobachter an die vielen dritten Halbzeiten denke, die mitunter schon in den Stadien begannen, kommen mir einige Zweifel am völkerverständigenden Charakter des Sports. Von intellektuell-archaischen Affenlauten oder Spontangesängen geistiger Tiefflieger bis zu deutschen Panzern in Moskau einmal ganz abgesehen. Prügeleien standen auf der Tagesordnung und manchmal hat die Polizei fleißig mitgemischt. Wer gerade im Weg stand, wurde umgerannt oder erhielt eine Ladung Pfefferspray und hatte eben Pech gehabt.

Es ist keineswegs so, dass für Stadion-Besucher keine sportlich-militärischen Anforderungen notwendig wären. Es kann nicht verkehrt sein, eine gewisse Grundfitness in folgenden Disziplinen vorzuweisen:

Dazu gehört die Fähigkeit zu taktischer und strategischer Lagebeurteilung, um einen Hinterhalt oder die Abspaltung von der eigenen Gruppe zu vermeiden. Manchmal sind diese Eigenschaften auch notwendig, um im unschuldigen Zivil wieder ungeschoren nach Hause zu kommen.

Fußball hält Körper, Geist und Seele gesund!

Seit nunmehr 49 Jahren bin ich gezwungen, mir Woche für Woche das Elend der eigenen Mannschaft hineinzuziehen. Fußballgucken ist die Menschenpflicht Nummer 1. Ich sah eine Unzahl an Spielen, die noch in der Nachspielzeit verloren wurden. Keine Mannschaft trifft häufiger Pfosten und Latte, keine Truppe versiebt mehr der einhundertprozentigen Chancen. Die Schiedsrichter pfeifen prinzipiell für den Gegner. Ich vermute sowieso, die anderen spielen stets mit mindestens zwei Spielern mehr auf dem Feld und haben zwei Torhüter gleichzeitig im Kasten stehen. Diese ersichtlich-objektiven Nachteile betreffen immer nur meine Elf, aber nie den Gegner. Ich kenne keine Mannschaft außer der eigenen, die jemals in der 97. Minute noch das entscheidende Gegentor bekommen hätte. Wir spielen prinzipiell gegen Wind, Regen und die Sonne – also gegen keinen Geringeren als die Naturgewalten. Eine glasklare Benachteiligung. Was ich Ihnen hier beschreibe, ist die ganz normale Wahrnehmung des größten Teils aller Fußballfans während des auf dem Spielfeld stattfindenden Wahnsinns.

Mehr dysfunktionaler Stress geht nicht.

Deshalb haben die häufigen Abstiege, die knapp verpassten Chancen, einen besseren Tabellenplatz zu erreichen, die verschenkten Meisterschaften und entgangenen Sponsor-Millionen schwere gesundheitliche Folgen für den Fan. Wer noch kein Alkoholiker ist, eine adipöse Bierwampe besitzt und keine Depressionen sein eigen nennt, darf sich auserwählt und glücklich schätzen. Gehen Sie davon aus, dass das schwere Los, ein Fußballfan zu sein, mindestens zehn Jahre der eigenen Lebenserwartung kostet. Übertroffen wird dieses Schicksal, wie bereits angedeutet, nur von den Anhängern der »Zeitgenössischen Musik«.

Es besteht eine weitere Gefahr: die der finanziellen Verausgabung. Das Trikot für die neueste Saison kosten schon mal locker 89,90 Euro. Die beiden Enkel komplett mit Fußballerkleidung des eigenen Vereins einzukleiden und noch jeweils einen Ball oben drauflegen? Ja das geht, halten Sie 500 Euro bereit, der Verein wird es Ihnen danken. Hinzu kommen Ausgaben für die Jahreskarte und die überteuerten Speisen und Getränke im Stadion. Nicht zu vergessen: die Ab- und Anreisekosten. Ganz wichtig – die obligatorische Auswertung des Spiels in der eigenen Stammkneipe. Einen Grund zum Saufen gibt es immer: Sieg oder Niederlage. Jawohl, saufen für den Sport!

Weniger gut ist dagegen, wenn man sich irgendwann die finanzielle Pleite eingestehen muss, weil man seine Emotionen nicht ganz im Griff hatte. Obdachlosigkeit und Jobverlust sind die Folge. Wer Glück hat, schafft es, in der Nähe seines Stadions herumlungernd den Rest seines tristen Lebens zu verbringen.

Der ehemalige Trainer des FC Liverpool, William »Bill« Shankly (02.09.1913 – 29.09.1981):

Es gibt Leute, die denken, Fußball sei eine Frage von Leben und Tod. Ich mag diese Einstellung nicht. Ich kann Ihnen versichern, dass es noch sehr viel ernster ist.

Damals war die Welt noch in Ordnung. Inzwischen ist die Lage deutlich ernster.

Geschrieben von: Stiegenheimer Heribert
Rubrik: Kultur