von Richard Schröder

Petra Köpping hat in diesem Buch ihre Forderung nach einer Wahrheitskommission für die Nachwendezeit untermauert, die das Unrecht und die Kränkungen zur Darstellung bringen soll, die Ostdeutschen namentlich durch die Politik der Treuhandanstalt widerfahren seien. Denn diese habe im Interesse der westlichen Konkurrenz überlebensfähige ostdeutsche Unternehmen ruiniert, dadurch Existenzen vernichtet und Lebensleistungen zerstört. Jene Demütigung transformiere sich nun in den Hass und die Wut ostdeutscher Demonstranten, etwa bei Pegida.

Köpping lässt sich von der Grundannahme leiten, der Treuhand habe ein strategisches Konzept zugrunde gelegen, das diese bewusst verfolgt habe mit der Absicht, ein alternatives, für den Osten viel besseres Konzept bewusst zu verhindern. »Der Osten wurde zum Versuchsfeld neoliberaler Politik in einer Art, die damals im Westen auf heftigsten Widerstand gestoßen wäre.« »Konservative Hardliner aus Bayern und Baden-Württemberg frohlockten…, endlich ohne Gewerkschaften, gesellschaftliche Beteiligung und ›Sozialklimbim‹ ihre nationalliberale Agenda politisch durchsetzen zu können.« (S.20).

Welche Konzepte die Treuehand verfolgt hat und wie die sich im Laufe der Zeit änderten, dazu fehlen bisher belastbare Forschungsergebnisse. Sie sind in Arbeit. Sicher ist aber bereits jetzt, dass die Treuhand für die Entwicklung gründlicher strategischer Konzepte gar keine Zeit hatte. Sie musste die volkseigenen Betriebe verwalten, ehe ihr die DM-Eröffnungsbilanzen vollständig vorlagen. Die Aufgabe, eine gesamte Volkswirtschaft von der Planwirtschaft in die Marktwirtschaft zu überführen bei gleichzeitigem Übergang vom geschützten Währungsgebiet einer reinen Binnenwährung (Ost-Mark) zu einer konvertiblen Währung und damit zu den Bedingungen und Preisen des Weltmarktes war so gewaltig, dass die Arbeit der Treuhand nur als learning by doing möglich war. Kurzarbeit Null, d.h. Gehaltsfortzahlung ohne Arbeit, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM), d.h. staatlich finanzierte Arbeitsverhältnisse, die sich nicht rentieren, oder Vorruhestand mit Abfindung, das waren doch arbeitnehmerfreundliche SPD-nahe Konzepte und für jeden marktradikalen Neoliberalen ein Gräuel. Die Treuhand hat – soll man sagen: in ihrer Verzweiflung? – auch auf diese Instrumente zurückgegriffen, die nun wahrhaftig nicht »nationalliberal« waren.

Auch der Osten als rechtsfreier Raum, in dem die Treuhand nach Lust und Laune turbokapitalistisch und neoliberal wüten konnte, ist Unsinn. Zwar mussten die Institutionen nach dem Ende des SED-Staates neu aufgebaut werden und erst wieder Durchsetzungskraft gewinnen. Aber mit dem Beitritt traten im Osten sofort das Mitbestimmungsgesetz (Arbeitnehmervertretung im Aufsichtsrat), das Betriebsverfassungsgesetz (Betriebsrat), das Sozialgesetzbuch in Geltung und auch die Arbeitslosenversicherung. Im Verwaltungsrat der Treuhand saßen Hermann Rappe (IG Chemie) und Heinz-Werner Meyer (DGB-Vorsitzender). Der zweite Chef der Treuhand, Karsten Detlev Rohwedder, den die RAF 1991 ermordet hat, war Mitglied der SPD und in der Regierung Helmut Schmidts Staatssekretär. Sie alle sind nicht als Marktradikale bekannt geworden.

Köpping behauptet, die Treuhand wurde »für die EU 2015 zum Vorbild für die Lösung der Griechenland-Krise.« (S.18) Ja stand denn 2015 in Griechenland der Übergang von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft und die Einführung einer konvertiblen Währung an?

Die Alternative, die die Treuhandpolitik bewusst vermieden habe und die viel ostfreundlicher und humaner gewesen wäre, sieht Köpping im Ausstieg aus der Ruhrkohleförderung. (vgl. S.33; S.66) Richtig ist, dass der Steinkohleabbau durch staatliche Subventionen weitergeführt wurde, als die Förderkosten über den Weltmarktpreis stiegen. Das waren, einschließlich Kohlepfennig, etwa 1000 DM Zuschuss pro Tonne Steinkohle. Produktionskosten über dem Weltmarktpreis, das war in der Tat ein Vergleichspunkt zur Situation der DDR-Wirtschaft vom 2. Juli 1990 an. Das wars dann aber schon. Es gab zudem für jene Steinkohlesubventionen ein politisch-strategisches Interesse: während des Kalten Krieges die eigene Energieversorgung nicht vollständig vom Export und namentlich vom nahöstlichen Ölpreis abhängig zu machen, da das Erpressungen ermöglichen konnte. Zudem kann man Kohle zur Zukunftssicherung mühelos auf Halde produzieren, nicht aber Autos oder Waschmaschinen, für die sich zum Herstellungspreis kein Abnehmer mehr findet. Und bei der Ruhrkohle handelte es sich um nur einen notleidenden von vielen blühenden Wirtschaftszweigen und um nur eine belastete Wirtschaftsregion neben vielen unbelasteten. Zudem waren die bundesdeutschen Staatsfinanzen stabil und die politischen sowie wirtschaftlichen Rahmenbedingungen unverändert, es war eine Transformation ohne Systemwechsel. Die Währungsunion in der DDR war dagegen mit dem Systemwechsel von der zentralen Planwirtschaft zur sozialen Marktwirtschaft verbunden. In der Planwirtschaft waren Einkauf, Verkauf, Marketing, Preisbildung, Produktpalette aus den Betrieben in die Planungsbürokratie ausgelagert worden. Die Betriebe hatten lediglich detaillierte Vorgaben zu erfüllen. Die Leistung der Betriebe wurde nach der Planerfüllung gemäß den Plankennziffern (über 200) gemessen und nicht nach der Rentabilität, ausgewiesen in Geld. Folglich gab es für die ausgelagerten Fähigkeiten gar keine eingeübten Fachleute mehr in den Betrieben, wohl aber eine überdimensionierte Planbürokratie, die die Rentabilität der Betriebe beeinträchtigte. Bei der Wiedereinführung der betriebswirtschaftlichen Rechnungsführung nach Einnahmen und Ausgaben (statt, wie die Spötter sagten: nach Eingaben und Ausnahmen) und den anderen ausgelagerten Vollzügen haben viele Ostdeutsche eine ganz beachtliche Lernfähigkeit an den Tag gelegt. Aber oft wird übersehen, dass 1990 das ganze Organisationsgeflecht der DDR-Wirtschaft neu konstruiert werden musste. Zudem mussten die Betriebe aus dem Staatshaushalt ausgegliedert werden. Viele stellen sich heute die DDR-Unternehmen vor wie westdeutsche Unternehmen, bloß eben mit Ostgeld. Das ist Unsinn. Es gab viele Bücher zum Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus, aber wohl keine für den Übergang vom Sozialismus zum Kapitalismus. Das war 1990 weltgeschichtliches Neuland und schon deshalb musste die Treuhand unvorbereitet antreten. Die meisten Verschwörungstheorien unterstellen ihren finsteren Akteuren weit mehr Absicht und die noch dazu dauerhaft, als die widerborstige Wirklichkeit mit ihren unerwarteten Wendungen überhaupt zulässt. Köpping verweist einmal auf einen ostdeutschen Hang zu Verschwörungstheorien hin, hat aber nicht bemerkt, dass auch sie dem Hang erlegen ist. Gorbatschows Programm von Glasnos und Perestroika, die Wahl eines polnischen Papstes, der Fall der Mauer, der Zerfall des RGW, Gorbatschows Ja zur deutschen Einheit, die schnelle Währungsunion, der Putsch gegen Gorbatschow, der Zusammenbruch der Sowjetunion, die Zahlungsunfähigkeit Russlands und der östlichen Nachbarn – nichts davon wurde erwartet und konnte also auch nicht in strategische Konzepte eingearbeitet werden. Vieles davon hat umgekehrt Planungen plötzlich über den Haufen geworfen und die Transformation der DDR-Wirtschaft zusätzlich erschwert.

Dass die Treuhandmitarbeiter, denen zunächst der Umgang mit einer black box übertragen worden war, von der persönlichen Haftung bei Fehlentscheidungen ohne grobes persönliches Verschulden freigestellt wurden, war nicht, wie Köpping suggeriert, die Erlaubnis zur Rücksichtslosigkeit, sondern notwendig, um überhaupt Mitarbeiter zu gewinnen. Wenn die Treuhandmitarbeiter mit dem Berufsrisiko Gefängnis behaftet gewesen wären, hätte doch jeder dankend abgewinkt.

Die Transformation des Ruhrgebiets hat die Bundesrepublik subventioniert. Und wer bitte sollte nun die gestreckte Transformation für die gesamte DDR-Volkswirtschaft bezahlen? Doch nicht die DDR, die ja 1990 fast pleite war und die Zeit bis zum Beitritt nur mit ziemlich viel Geld aus der Bundesrepublik überstehen konnte. Köppings Alternative lautet also, korrekt betrachtet, die Bundesrepublik hätte die Defizite der Volkswirtschaft der DDR auf noch längere Zeit finanzieren sollen, um so den Schock der schnellen Umstellung zu vermeiden, der durch die unvorbereitete Grenzöffnung bedingt war. Und weil die Bundesregierung die zusätzlichen Milliarden nicht rübergereicht hat, sei nun die Würde der Ostdeutschen verletzt und ihre Lebensleistung vernichtet. Und all dies scheint mit der Wirtschaftspolitik der SED rein gar nichts zu tun gehabt zu haben, eine tolle Generalamnestie.

Köpping ist sich offenbar nicht im Klaren darüber, um welche Beträge es hier geht. Nachdem die Treuhand einen ersten Überblick gewonnen hatte, wurde geschätzt, dass nach der Währungsunion 2 Prozent der DDR-Betriebe sofort in der Lage seien, rentabel zu arbeiten. 72 Prozent galten als sanierungsfähig. Bis zum Verkauf bzw. bis zur Sanierung musste aber die Treuhand überbrückend ihre Defizite finanzieren. 21 Prozent galten als unsanierbar. Am Ende wurden 30 Prozent der Unternehmen geschlossen. An vier Beispielen sei erläutert, was »unsanierbar« bedeutete. Interflug und Carl Zeiss Jena haben nach der Währungsunion täglich ein Defizit von einer Million DM eingefahren. Bei einer Veranstaltung in der Dresdner Frauenkirche am 18.10.2018 erzählte ein Arbeitnehmer des Dresdener Kamerawerkes Pentacon, bei der DM-Eröffnungs-Bilanz habe sich herausgestellt, dass 100 DM Ausgaben 17 DM Einnahmen gegenüberstanden. Jeder Produktionstag habe ein Defizit von einer halben Million DM erzeugt. Deshalb habe auch er als gewählter Arbeitnehmer in den Entscheidungsgremien für die sofortige Schließung gestimmt. Die Treuhand habe dann noch bis Jahresende das Defizit getragen. Der PKW »Wartburg« kostete (mit Polo-Motor) vor der Währungsunion 33.000 Ostmark. Nach der Währungsunion wurde er für 10.000 DM verkauft. Die Produktionskosten beliefen sich aber auf 17.000 DM. Die Treuhand hat auch hier für eine Übergangsfrist das Defizit getragen. Bei der Schließung (Ende des ersten Quartals 1991) waren das insgesamt 101 Millionen DM. Köpping also verlangt, diese exorbitanten Defizitfinanzierungen hätten weitergeführt werden müssen, um schnelle Betriebsschließungen zu vermeiden. Aber wie hätte denn späterhin aus dem »Wartburg« ein weltmarktfähiges Auto werden sollen? Die Geschichte ging so weiter, dass das Wartburgwerk geschlossen und abgerissen wurde. Opel kam und baute ein neues Werk in Eisenach. Von der Treuhand hat Opel gar nichts übernommen. Denn der Schatz vor Ort waren meistens nicht die Fabriken und die Maschinen, sondern die exzellenten Ingenieure und Facharbeiter. Ebenso ist VW bei Zwickau (Mosel) verfahren und Mercedes in Ludwigsfelde. Man musste doch nicht etwas von der Treuhand erwerben, um im Osten wirtschaftlich tätig zu werden.

Köppings Alternative wäre unbezahlbar gewesen. Auch ihre Option: »erst sanieren, dann privatisieren« (vgl. S.44) wäre mit erheblichen zusätzlichen Kosten und Risiken verbunden gewesen. Denn dann hätte der Staat die Sanierungskosten vollständig allein tragen müssen. Man hätte zudem branchenkundige Übergangsmanager in erheblicher Zahl gewinnen müssen. Die hätten aber nur bis zum Verkauf planen können und hoffentlich in eine Richtung, die dem zukünftigen Käufer, den man erst noch finden musste, in sein Konzept passt, sonst muss nachtransformiert werden. Rohwedder hatte schon recht: Privatisierung ist die beste Sanierung. Wo das nicht gelang, hat ja die Treuhand bzw. die Nachfolgeorganisation BvS tatsächlich selbst saniert, weil nichts anderes übrig blieb. Man war da pragmatisch eingestellt und kein Prinzipienreiter. Die Treuhand hat für die Neuordnung der Wirtschaft der DDR unter Weltmarktbedingungen die Privatisierungsgewinne (ca. 70 Mrd. DM) ausgegeben und zudem 250 Milliarden Schulden aufgenommen, die nun nach und nach abbezahlt werden. Manche sagen: man hätte noch mehr Schulden machen sollen, z.B. für jedes Bundesland einen Konzern wie Jenoptik in Thüringen. Ich kann nicht beurteilen, ob das die Stimmung im Osten spürbar aufgehellt hätte, bin aber eher skeptisch. Und hätten wir die nächste Generation noch höher verschulden sollen?

Köppings Darlegungen zur Treuhand sind mit einigen schwerwiegenden Mängeln behaftet. Als Egon Krenz Erich Honecker ablöste, hat er von führenden Wirtschaftsfunktionären der SED eine Stellungnahme zur Staatsverschuldung und zur wirtschaftlichen Lage erbeten, die als »Schürer-Gutachten« vom 30.10. 1989 im Internet zugänglich ist, benannt nach dem obersten Planungs-Chef der DDR, Gerhard Schürer. Dieses Gutachten erwähnt Köpping nicht ein einziges Mal, obwohl der Zustand der DDR-Wirtschaft vor der Maueröffnung entscheidend war für die Erfolgsaussichten unter Weltmarktbedingungen. Köpping beschränkt sich diesbezüglich auf den Satz: »Wir wussten natürlich um die damals katastrophale Lage der DDR-Wirtschaft.« (S.43) Bei Schürer erfahren wir Genaueres. Über Jahre seien Investitionen in die Produktionsanlagen und die Infrastruktur unterblieben zugunsten des Konsums. Über die Hälfte der Industrieanlagen sei verschlissen, Tendenz zunehmend. Neu entwickelte Produkte hätten nicht in die Produktion eingeführt werden können. Die sozialpolitischen Maßnahmen hätten nicht vollständig auf eigenen Leistungen der DDR beruht und hätten zu wachsender Westverschuldung geführt. Man darf das alles nicht so genau wissen wollen, wenn man behaupten will, die Treuhand hätte konkurrenzfähige Betriebe kaputt gemacht, um dem Westen gefährliche Konkurrenz vom Leibe zu halten. Aber weiter. Mit keinem Wort erwähnt Köpping, was für Folgen die unvorbereitete Grenzöffnung am 9. November für die DDR-Wirtschaft hatte. Die technologisch zurückgebliebenen ostdeutschen Konsumgüter prallten ungeschützt auf die heißbegehrte westliche Warenwelt, vor der sie nicht durch Zölle geschützt werden konnten. Die durch Umtauschverbot geschützte Ost-Mark wurde plötzlich gehandelt und verlor in rapidem Tempo an Wert gegenüber der Westmark. Sie wurde nicht nur zur Zweitwährung der DDR, sondern wohl eher zur Leitwährung, was auf Dauer nicht gut gehen konnte. Auch die Folgen der Währungsunion für die DDR-Wirtschaft werden mit keiner Silbe erwähnt. Sie erwähnt auch nicht die Auflösung des Handelssystems zwischen den »sozialistischen Ländern« (RGW) zum Jahresende 1990, die Abschaffung des Transferrubels und den Zusammenbruch des Ostexports der ostdeutschen Länder durch Zahlungsunfähigkeit der östlichen Handelspartner, allen voran Russlands, der vor allem ostdeutsche Unternehmen traf. 1991 hatte die Bundesrepublik mit der Sowjetunion ein Handelsabkommen über 21 Milliarden DM abgeschlossen, das kurz darauf nur noch Makulatur war. Keine Fabrik kann ohne Kunden produzieren. Für den Westexport bedeutete die Währungsunion das Ende, weil sich die Kosten für Lohn und Material vervierfachten. Also entweder die Preise der Produkte über Weltmarktniveau erhöhen oder defizitär produzieren, das heißt: Schulden machen. Die Treuhand zahlt ja, wie früher der Staat. Nicht wenige Unternehmen haben einfach weitergewirtschaftet wie bisher, Planwirtschaft ohne Plan. Ostdeutsche Produkte hatten nach der Währungsunion entweder ein Qualitätsproblem, wie die Kameras, oder, bei akzeptabler Qualität, ein Preisproblem. Dieses Preisproblem verschweigt Köpping vollständig.

Und was erwartet Köpping von einer »Wahrheits- und Versöhnungskommission«? Der Ausdruck »Wahrheitskommission« ist bekanntlich nach dem blutigen Apartheidsystem in Südafrika erfunden worden und versprach denjenigen, die Blut an den Händen hatten, aber aufrichtig Reue zeigten und zur Aufklärung der Verbrechen beitrugen, Straffreiheit. Köpping hebt ausdrücklich hervor, dass Wahrheitskommissionen die Reuigen belohnen. Sie vergleicht also die Privatisierung und Transformation der DDR-Wirtschaft tatsächlich mit den blutigen Verbrechen der südafrikanischen Rassentrennungspolitik.

Einerseits erwartet Köpping, dass wir Ostdeutschen endlich erfahren, wie es wirklich war. Diesen Wunsch kann ich nur unterstützen. Besonders würde ich Veranstaltungen vor Ort begrüßen, an denen gerade nicht nur betroffene Zeitzeugen teilnehmen, die immer dazu neigen, sich als Opfer böser Mächte zu sehen, sondern auch damalige Akteure und drittens Wissenschaftler, die die zugehörigen Akten genau kennen.

Allerdings bleibt Köpping nicht bei dieser Ergebnisoffenheit. Sie erwartet Geständnisse von denjenigen, die nach ihrer Auffassung den Ostdeutschen im Einigungsprozess übel mitgespielt haben, und zwar in amtlichen Funktionen, also abgesehen von schwarzen Schafen unter den Gebrauchtwarenhändlern und anderen Gaunern. »Ich wünsche mir das Geständnis der westdeutschen Politiker, die schnelle Währungsunion, die Ausrichtung der Treuhand und viele andere Instrumente der Nachwendezeit wurden … nicht zum Wohle Ostdeutschlands gemacht, sondern gehörten zu einer Politik, um westdeutsche Bürger vor den Konsequenzen der Wiedervereinigung zu schützen.« (S.28) Ihr Wunsch kann nicht erfüllt werden, weil ein solches Geständnis nicht der Wahrheit entspräche. Die schnelle Währungsunion war die Antwort auf die massenhafte Abwanderung Ostdeutscher in den Westen. Köpping zitiert doch selbst die Leipziger Montagsdemonstranten vom Februar 1990: »Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, gehen wir zu ihr.« Von westlicher Seite hat zuerst Ingrid Matthäus-Meier (SPD) die schnelle Währungsunion gefordert. Der Kanzlerkandidat der SPD, Oskar Lafontaine, hat zwar massiv dagegen polemisiert und (zutreffend) erklärt, das werde alles ungeheuer teuer für die Westdeutschen. Er hat aber nicht erklärt, wie ein separates Währungsgebiet mit einer nicht konvertiblen, reinen Binnenwährung ohne Zollkontrollen an seiner Grenze soll Bestand haben können. Er hat etwas Undurchführbares als Alternative gefordert.

Auch der damalige Bundesbankpräsident Pöhl hatte erhebliche Bedenken gegen die schnelle Währungsunion, aber vor allem gegen den Umtauschkurs 1:1. Ich selbst habe damals im ZDF mit ihm darüber diskutiert. Das wichtigste Argument für die damals ökonomisch höchst problematische schnelle Währungsunion war der ungeheure Migrationsstrom von Ost nach West. Sämtliche Turnhallen waren bereits mit DDR-Flüchtlingen gefüllt. Der »Volkszorn« wuchs. Lafontaine befürchtete zu Recht einen erdrutschartigen Sieg der Republikaner im Saarland, der seine SPD-Kanzlerkandidatur gefährdet hätte. »Wir können uns nicht Masseneinwanderung in unsere Sozialsysteme leisten«, hat er sinngemäß damals gesagt. Das kommt uns heute irgendwie bekannt vor und war damals wie heute kein unanständiges Argument. Nach der Ankündigung der Währungsunion ging der Flüchtlingsstrom auf ein Siebtel oder um 85 Prozent zurück.

Jene Distinktion: »nicht zum Wohle Ostdeutschlands, sondern…« ist falsch. Eine vernünftige Einigungspolitik zum Wohle der Ostdeutschen musste gleichwohl darauf achten, dass die Solidarität der Westdeutschen nicht überstrapaziert wird. An der Stelle ist Köpping nicht besonders feinfühlig. »Eine Gefährdung westdeutscher Arbeitsplätze durch vielleicht sogar staatlich geförderte Unternehmen im Osten? Das Szenario hatte keine Chance.« (S.28) Zum Glück nicht, sage ich dazu. Denn das Konzept »Aufbau Ost als Abbau West« (so nenne ich das) wäre – wenn ich auch mal in Köppings überdramatisierenden Sprachstil wechsle – eine Vorlage für den Bürgerkrieg. Selbst der Heilige Martin hat dem Bettler nur den halben, nicht den ganzen Mantel gegeben. Wir sind in Ost und West keine Heiligen und sollten deshalb von einander nicht einmal den halben Mantel verlangen, sondern Hilfe, die etwas weniger weh tut. Und die ist ja nun tatsächlich reichlich von West nach Ost geflossen. Es gab aber auch Gegenleistungen von Ost nach West, wenn auch nicht geplant und nicht vom Osten erwünscht: viele tüchtige Ostdeutsche sind vor und nach 1989 in den Westen gegangen und haben dort den Aufbau Südwest befördert.

Köpping erwartet ein weiteres Geständnis, und zwar gleich zur Eröffnung – heißt das: vor der Untersuchung? »Ich glaube, am Beginn einer Aufarbeitung muss es ein Geständnis der westdeutschen Politik und der Wirtschaft geben: Ja, im Osten haben westdeutsche Unternehmen sich in hohem Maße eine potentielle Konkurrenz vom Halse gehalten. Die ostdeutsche Nachfrage war wichtig, das ostdeutsche Angebot wurde beiseite gedrängt.« (S.23). »Mancher Betrieb und Firmensitz würde heute im Osten noch bestehen. Die westdominierte Politik hat allerdings diese Marktbereinigung gedeckt.« (S.28) »Es muss … einfach mal gesagt werden dürfen: Der Osten hatte mehr Potential gehabt, doch viele Chancen wurden aktiv durch westdeutsche Unternehmen kaputt gemacht.« (S.28) Das sind Behauptungen, die allenfalls auf kriminelle Machenschaften zutreffen, die es allerdings auch gab. Für deren Aufdeckung war eine Abteilung der Treuhand zuständig, die solche Fälle der Staatsanwaltschaft übergeben hat.

Der Vorwurf, die Treuhand habe im Osten überlebensfähige Betriebe im Auftrag der westdeutschen Konkurrenz bewusst in den Ruin getrieben und die westdominierte Politik habe das unterstützt, ist im Osten weit verbreitet, aber er ist bei genauerem Hinsehen nicht sehr plausibel. Wenn ein profitgieriger Kapitalist eine Fabrik kauft, die mächtig Gewinn abwirft, weil sie billiger produzieren kann als die westdeutsche Konkurrenz, wird er sie doch nicht schließen, sondern auf Hochtouren laufen lassen, um maximal Profit einzustreichen. Es ist zwar tatsächlich vorgekommen, dass ein westdeutsches Unternehmen einen ostdeutschen Betrieb erworben, dann aber liquidiert hat. Wie oft das vorgekommen ist, weiß ich nicht. Der Grund war oft der: der Erwerber hoffte, die eingespielten Lieferbeziehungen ostdeutscher Unternehmer für die Erschließung östlicher Märkte nutzen zu können. Als dort aber die Wirtschaft zusammenbrach, hatte er plötzlich eine Fabrik ohne Kunden. Da konnte auch die Treuhand nicht helfen und musste in die Schließung notgedrungen einwilligen.

Und in einer Demokratie wollen Politiker wieder gewählt werden. Die CDU war damals an zusätzlichen Stimmen im Osten besonders interessiert, weil im Westen SPD und Grüne zugelegt hatten. Ohne die deutsche Einheit hätte Lafontaine durchaus Kanzler werden können. Aber steigende Arbeitslosigkeit bedeutet immer: steigende Unzufriedenheit mit der Regierung (obwohl der Einfluss nationaler Regierungen auf die Weltwirtschaft bescheiden ist). Das aber erstrebt kein regierender Politiker in einer Demokratie. Helmut Kohl hätte tatsächlich am liebsten blühende Landschaften präsentiert und nicht exorbitant steigende Arbeitslosenzahlen im Osten. Köpping trägt hier eine ziemlich giftige Verschwörungstheorie vor.


Köpping behauptet, der Westen habe sich einer »billigen Konkurrenz entledigt.« (S.23) In westdeutschen Kaufhäusern waren ostdeutsche Produkte tatsächlich »billig«, aber nur bis zur Währungsunion. Danach waren sie unverkäuflich teuer. Denn wenn die reine Binnenwährung Ost-Mark durch die konvertible Währung D-Mark ersetzt wurde, mussten Lohn und Material in West bezahlt werden. Solange man im Durchschnitt 4,5 Ostmark für den Erwerb einer D-Mark einsetzen konnte, ließ sich der Produktivitätsunterschied von 1:3 mit Gewinn kompensieren. Als aber die Ostmark abgeschafft wurden, stiegen beim Westexport die Lohn- und Materialkosten von einem Tag auf den anderen logischerweise auf das Vierfache. Das verkraftet keine Volkswirtschaft der Welt. Ostdeutsche Produkte waren nach der Währungsunion in Ost und West nicht billiger, sondern teurer als die westdeutschen.

Die Behauptung, ostdeutsche Betriebe seien so, wie sie im Juli 1990 nach der Währungsunion aufgestellt waren, eine gefährliche Konkurrenz gewesen, wenn sie nicht von der Treuehand zerschlagen worden wären, ist einfach falsch. Bei Konsumgütern war doch offensichtlich, dass sie gegenüber den Westwaren in den Augen der Ostdeutschen das Nachsehen hatten. Man kaufte lieber einen gebrauchten Westwagen als einen neuen Trabant, den es nun ohne Wartezeit gab. Gefährlich werden konnten aber westdeutschen Unternehmen durchaus durch die Treuhand transformierte Ostbetriebe, die durch Investitionen und Erhöhung der Arbeitsproduktivität zu Weltmarktpreisen verkaufen konnten. Das sahen manche westdeutsche Unternehmen tatsächlich als Gefahr: die Treuhand füttert uns Konkurrenten an. Aber die Treuhand wusste von dieser Gefahr und ist ihr, wo sie das gemerkt hat, begegnet. Sehr bald wurden deshalb in die Kaufverträge Konventionalstrafen bei eigenmächtiger Reduktion der zugesagten Beschäftigungszahlen und Investitionssummen aufgenommen. Also: dass westdeutsche Unternehmen um »Marktbereinigung« bemüht waren, das gab es durchaus. Dass die Treuhand und die Politik solche Marktbereinigung bewusst und gezielt gefördert oder geduldet habe, stimmt jedenfalls grundsätzlich nicht. Die Interessen westdeutscher Unternehmen, der Treuhand, der Bundesregierung und der östlichen Landesregierungen waren durchaus verschieden. Nach Köppings Darstellung zogen sie alle an demselben Strick, wie das Verschwörungstheoretiker so zu sehen pflegen. Köpping vervollständigt ihr Bild vom armen Ostdeutschen, der über den Tisch gezogen wird, indem sie auch noch die Gebrauchtwagenhändler mit überzogenen Preisen und die Haustürhändler mit unnötigen Versicherungen in denselben Topf wirft. Dass Ostdeutsche ihre Gebrauchtwagen sowjetischer Produktion (Lada) sowjetischen Offizieren zu überhöhten Preisen verkauft haben, sich an illegalen Transferrubelgeschäften bereichert, beim Staats- und Parteienvermögen hingelangt und bei der Umwandlung von LPGs ihre Mitgenossen über den Tisch gezogen haben, das soll wahrscheinlich nicht in der Wahrheitskommission aufgeklärt werden. Es würde das Bild vom Ostdeutschen als traumatisiertem Opfer trüben. Gauner gibt es immer und überall. Dass aber Treuhand und Regierung bewusst eine Politik der Benachteiligung Ostdeutschlands betrieben oder gar bewusst Gaunereien befördert haben, bestreite ich, weil ich keine Belege dafür gesehen habe. Auch hier gilt: die Schuld muss man beweisen, nicht die Unschuld. Hörensagen ist kein Beweis, sondern oft bloß Klatsch.

Für ihre Behauptung, bei gutem Willen hätten viele DDR-Unternehmen erhalten werden können, beruft sich Köpping erstaunlicherweise auf Hans-Werner Sinn. Er behauptet das tatsächlich, knüpft es aber an eine Bedingung, die Köpping überlesen oder nicht verstanden hat: »wenn man eine ganz andere Lohnpolitik gemacht hätte.« (S.44f.) Da hat er recht. Zu Löhnen wie in Bangladesch hätte die ostdeutsche Textilindustrie überleben können. Allerdings hätte niemand im Osten zu DM-Löhnen unter Sozialhilfeniveau gearbeitet. Damit sie nicht weglaufen, hätte man sie wieder einmauern müssen. Das verbot aber das Grundgesetz.

Es hat im Bundestag drei Untersuchungsausschüsse zu Schalck-Golodkowkis KoKo und zur Treuhand gegeben und weitere in Landesparlamenten. In dem exklusiv der Treuhand gewidmeten 2. Untersuchungsausschuss des Bundestages sind auf über 500 Seiten viele Fälle dokumentiert, in denen die Treuhand nicht korrekt gearbeitet habe. Das heißt: Mitarbeiter sind in diesen Fällen dem Auftrag der Treuhand, möglichst große Teile der ostdeutschen Wirtschaft überlebensfähig zu machen, durch mangelnde Sorgfalt oder auch Übereilung nicht nachgekommen. Ein gerechtes Urteil müsste allerdings die Anzahl dieser Fälle prozentual ins Verhältnis setzen zu allen von der Treuhand behandelten Fällen. Köpping erhebt fast den entgegengesetzten Vorwurf: die Treuhand habe den geheimen Auftrag gehabt, lästige Ostkonkurrenz zu beseitigen. Dergleichen Vorwürfe werden der Treuhand in den Abschlussberichten der Untersuchungsausschüsse aber nicht gemacht. Lediglich im Sondervotum der Gruppe der PDS findet sich diese Tonart, das übrigens gleich mit dem SED-Märchen beginnt, die DDR sei eine der führenden Industrienationen der Welt gewesen und deshalb könne ihre Industrie gar nicht so schlecht gewesen sein, wie sich aus dem Ergebnis der Treuhandarbeit zu ergeben scheint. Immerhin zählt das Sondervotum der PDS – anders als Köpping – einige Schwächen und Mängel der DDR-Wirtschaft auf. Selbst die PDS erinnerte sich 1994 noch genauer daran als 25 Jahre später der Zeitungsleser.

Zur Treuhand führt Köpping in ihrem Buch nur zwei konkrete Beispiele an. Am ausführlichsten geht sie auf die Margarethenhütte in Großdubrau ein. Sie erzählt: die Margarethenhütte habe sehr erfolgreich Hochspannungsisolatoren aus Porzellan produziert und zu 80 Prozent exportiert, auch in den Westen. Sie verfügte über moderne Maschinen aus der Schweiz. »Plötzlich hieß es aber über Nacht, der Betrieb müsse geschlossen werden. Es wurde behauptet, alles sei völlig veraltet und marode. Doch das ist nicht alles: Die damaligen Ingenieure erzählten mir, wie nachts die wichtigsten Betriebsunterlagen und Porzellan-Rezepturen sowie die letzten Mitarbeiterlöhne samt Tresor weggeschleppt wurden. Ich kann nur wie die ganze Belegschaft vermuten: das geschah zugunsten der Konkurrenz.« Und niemand hat die Kripo gerufen, als das letzte Gehalt gestohlen wurde?

Köppings Erzählung folgt einem Stereotyp, das auch von anderen Stilllegungen so erzählt wird. Westdeutsche kauften Ostunternehmen und machten sie platt, um sie als Konkurrenz auszuschalten. Die Maschinen und die vollen Auftragsbücher nahmen sie mit. So haben sich westdeutsche Unternehmen am Volkseigentum bereichert. Und deshalb stieg damals die Zahl der West-Millionäre. Die Story ist verbreitet, aber in keinem Falle unanfechtbar belegt – abgesehen von Kriminalfällen, bei denen die Staatsanwaltschaft tätig wurde. Aus dem Munde einer Ministerin haben wir jene Story bisher allerdings nicht gehört. Sie galt bisher nicht als seriös.

Köppings Erzählung lässt sich überprüfen. Bündnis 90 hat nämlich 1992 an die Bundesregierung eine Große Anfrage zur Margarethenhütte gerichtet, die diese auf neun Seiten beantwortet hat. Wer »Margarethenhütte« bei Google eingibt, bekommt sie präsentiert.

Die Schließung der Margarethenhütte hatte demnach überhaupt nichts zu tun mit Verkauf, Privatisierung oder westdeutscher Konkurrenz. Sie wurde auch nicht von der Treuhand veranlasst. Denn die Margarethenhütte gehörte zum »VEB Keramische Werke Hermsdorf«, aus dem 1990 »Keramische Werke Hermsdorf – Tridelta AG« wurde, mit insgesamt 19 Standorten, davon drei für Elektrokeramik. Bis zur Währungsunion war das ein sehr erfolgreiches DDR-Unternehmen, das sogar den Börsengang vorbereitete. Zu dem Zweck wurde eine Standortkonzentration vorgenommen. Aber seit der Währungsunion kam es zu massiven Einbrüchen im Absatz. Der Börsengang musste aufgegeben werden, weil die Banken bei defizitärer Bilanz nicht mehr mitzogen. In der Antwort der Bundesregierung heißt es: im Dezember 1990 »wurde einvernehmlich mit den Arbeitnehmern im Aufsichtsrat und dem Betriebsrat der ›Margarethenhütte‹ der Stillegungsbeschluss gefasst«, der dann im Mai 1991 (und nicht über Nacht) vollzogen wurde.

Wie gesagt erzeugte die Währungsunion für ostdeutsche Produkte ein Preisproblem, das sich als Rückgang des Absatzes seit dem 2.7., oft mit einer gewissen Verspätung, bemerkbar machte. Insofern waren volle Auftragsbücher vor der Währungsunion gar kein Beweis dafür, dass das nach der Währungsunion so weiter geht. Köpping verschweigt das Preisproblem und behauptet stattdessen, man habe plötzlich behauptet, die Maschinen seien Schrott. Das war zwar tatsächlich in vielen Fällen der Fall, aber eben nicht immer, in der Margarethenhütte wohl nicht. Aber auch neuere Maschinen waren keine Garantie für weltmarktfähige Preise, denn die Arbeitsproduktivität wird noch von anderen Faktoren massiv beeinflusst. Indem sie eine absurde und manifest falsche Begründung für die Schließung unterstellt, erscheint die Schließung als willkürlich, irrational und verlogen und ist dann nur noch aus Bosheit und finsterer Absicht zu erklären. Damit ist das Tor zu Verschwörungstheorien weit geöffnet.

Da die Schließung der Margarethenhütte eine innerostdeutsche Entscheidung zur Standortkonzentration war, konnte der von Köpping angeprangerte »Betrug von westdeutschen Kapitalisten an ostdeutschen Arbeitern« hier jedenfalls gar nicht stattfinden. Und die Betriebsunterlagen gehörten doch nicht der Belegschaft der Margarethenhütte, sondern der TrideltaAG Hermsdorf am Hermsdorfer Kreuz. Dort werden sie wohl bis heute liegen. Denn Tridelta produziert weiterhin auch Elektroporzellan. Damit bricht aber auch Köppings Vorwurf in sich zusammen, durch die Entwendung jener Unterlagen sei die Belegschaft der Margarethenhütte um ihre Lebensleistung betrogen worden.

Wie einem Spiegel-Artikel vom 18.05.92 zu entnehmen ist (bitte bei Google »Tridelta« eingeben), wurde das operative Geschäft von Tridelta Hermsdorf schließlich von Lothar Späths Gründung »Jenoptik« in Jena übernommen, wohl dem einzigen »Ostkonzern«. Zu jenem Zeitpunkt hatte Tridelta die Folgen der Währungsunion noch immer nicht verkraftet und produzierte ein monatliches Defizit von fünf bis zehn Millionen DM, die die Treuhand als Eigentümer zu bezahlen hatte, wie früher der Staat die Defizite der VEB bezahlt hat. Dadurch hat die Treuhand Tridelta vor dem Konkurs und vor der Konkurrenz geschützt. Tridelta hat sich übrigens erholt und produziert bis heute.

Ihr anderer konkreter Treuhandfall ist die Schließung des Kalibergwerks Bischofferode. »Das Beispiel Kaliabbau Bischofferode offenbarte, wie man eine ›am Boden liegende Firma aus dem Westen auf Kosten einer ostdeutschen saniert.‹« In Wahrheit wurden damals unter Assistenz der Treuhand der hessische und der thüringische Kalibergbau in einem neugegründeten grenzüberschreitenden Unternehmen »Kali und Salz« zusammengefasst. Da es auf dem Weltmarkt ein Überangebot an Kalisalzen gab, wurden mehrere Gruben geschlossen. In Bischofferode lagen nach der Währungsunion die Förderkosten pro Tonne 300 DM über dem Weltmarktpreis, hieß es damals. Die Bischofferoder Bergleute haben ihren Lohn nach der Schließung des Bergwerks zwei Jahre weiterbezahlt bekommen, was es bei unseren östlichen Nachbarländern nirgends gegeben hat.

Ich will ja gar nicht behaupten, dass alle Entscheidungen der Treuhand auch nachträglich als optimal erscheinen. Ich behaupte auch gar nicht, dass alles in Köppings Buch kritikwürdig sei. Sie gibt verbreitete Auffassungen, ein Stimmungsbild also, oft instruktiv und korrekt wider. Sobald sie aber selbst Stellung bezieht, habe ich den fatalen Eindruck: die PDS/die Linke lassen grüßen. Dass jemand eine Wahrheitskommission fordert, die eigene Wahrheitssuche aber nicht einmal bis zur Google-Anfrage forciert (und der Lektor des Verlags auch nicht), ist schon bemerkenswert. Könnte man ihre leichtfertige Verbreitung von fake news nicht auch Populismus nennen?

Aus ihren vielen Bürgergesprächen berichtet Köpping: »fast in allen Fällen war recht schnell nicht mehr »die Flüchtlingsproblematik das entscheidende Thema. Es ging um etwas viel tiefer Liegendes«, nämlich »unbewältigte Demütigungen, Kränkungen und Ungerechtigkeiten« der »Nachwendezeit«.

Es ist nicht unmittelbar einleuchtend, dass viele, die einmal unerwartet und unverschuldet arbeitslos wurden, deshalb ein Viertel Jahrhundert später gegen die »Islamisierung des Abendlandes« (so der hintere Teil des Kürzels Pegida) demonstrieren, Ausländerhass zeigen und gegen Flüchtlinge hetzen. Köpping erklärt uns das so: »Hier geht es anscheinend bei vielen gar nicht um das Thema Flüchtlinge. Diese waren nur Projektionsfläche für eine tiefer liegende Wut und Kritik.« (S.9) »Viele scheinen bereit, sich von der Stimmung anstecken zu lassen, dass man scheinbar (gemeint ist: anscheinend, RS) das Recht habe, gegenüber anderen Gruppen von Menschen ungerecht zu werden, weil man sich selbst ungerecht behandelt fühlt.« (S.13) Ich möchte doch gern mal jemanden kennenlernen, der so argumentiert. Ich fürchte: es gibt ihn nicht. Ich halte das für Küchenpsychologie. Wahrscheinlich stand Köpping eine These der Entwicklungspsychologie vor Augen, die plausibel erklärt: wer als Kind physische Gewalt erfahren hat, neigt öfter als Erwachsener zu physischer Gewalt. Wenn man Arbeitslosigkeit mit physischer Gewalt gleichsetzt und Erwachsene mit Kindern, kommt man zu Köppings These. In den Wissenschaften sind solche flotten Gleichsetzungen allerdings unzulässig.

Köpping will mit ihrer These offenbar Ostdeutsche entlasten: wenn Pegida-Demonstranten gegen die Migrationspolitik demonstrieren, einen Miniaturgalgen mit dem Text »für Merkel« vor sich hertragen und die Regierenden wegen ihrer Migrationspolitik als Volksverräter beschimpfen, dann haben sie »eigentlich« gar nichts gegen Fremde, denn sie sind traumatisiert durch die Entwürdigungen der Nachwendezeit. Deshalb wissen sie nicht wirklich, warum sie das tun. Köpping aber weiß es und sagt es uns. Dieser Entlastungsversuch geht voll nach hinten los. Denn er ist eine Entmündigung, weil er die betroffenen Ostdeutschen infantilisiert und pathologisiert. Wer Angst vor einer Islamisierung des Abendlandes hat, mit dem sollte man diskutieren, ob diese Angst berechtigt ist. Diese Diskussion wird nicht ganz einfach werden! Wer ihm stattdessen sagt: »eigentlich hast du gar nichts gegen Muslime, sondern du bist durch die Entwürdigungen des Einigungsprozesses traumatisiert«, der nimmt ihn nicht ernst. Im Klartext heißt das übrigens: am Ausländerhass ist mittelbar die Treuhand schuld. Küchenpsychologie ist eine Art von Zauberei, die alles mit allem erklären kann. Wer rational bleibt, fragt sich, ob wirklich ohne die Untaten der Treuhand die Ostdeutschen fremdenfreundlich wären. Warum ist in Polen, Tschechien, Ungarn die Ablehnung von Migranten weitaus stärker als in Ostdeutschland, obwohl es doch in diesen Ländern gar keine Treuhand gab? Und warum werden migrationskritische Parteien in allen westlichen und südlichen Ländern Europas zunehmend stärker? Die Treuhand kanns nicht gewesen sein.

Nun hat Köpping die Erfahrung gemacht, dass in Großdubrau kaum jemand von der einstigen Belegschaft zum Gesprächsangebot über die Nachwendezeit erschienen ist. (S.26) Man könnte daraus folgern, dass das die Leute nicht mehr so recht interessiert. Es ist lange her, ändern lässt sich ohnehin nichts mehr und wir haben ja wieder Arbeit gefunden. Mithilfe der Küchenpsychologie kann man das aber auch viel dramatischer deuten, in Anlehnung an die Traumaforschung: die Ostdeutschen seien nach einem Viertel Jahrhundert noch nicht in der Lage, über diese schrecklichen Erlebnisse zu sprechen. Sie konnten die notwendige »Trauerarbeit« (S.88; vgl. S.80) noch nicht leisten über den Verlust ihres Arbeitsplatzes und – was Köpping doch zitierend tatsächlich aufzählt - den Verlust ihres Schulsystems, ihres politischen und wirtschaftlichen Systems. (S.147) Wir wissen, dass ehemalige SED-Mitglieder das manchmal bis heute so sehen – und einige allzu verständnisinnige Westjournalisten auch.

In der Überschrift des vierten Kapitels heißt es: »Die Entwertung des ganzen Lebens.« Obwohl sich dieses Thema wie ein Leitmotiv durch das ganze Buch hindurch zieht, wird nicht hinreichend klar, worin genau Köpping die Entwertung des ganzen Lebens sieht. Im Verlust des Arbeitsplatzes? In der Stilllegung von Betrieben? Im Untergang der DDR? Für jemanden, der die DDR geliebt und für »den Sozialismus« gekämpft hat, konnte das Ende der DDR eine biographische Katastrophe sein, z.B. für Dozenten des Marxismus-Leninismus oder für Stasi-Mitarbeiter. Das sind die wirklich unvermeidlichen biographischen Katastrophen jeder Revolution. Mein Bedauern hält sich in Grenzen. Bei denjenigen, die mit vollem Einsatz und viel Improvisationstalent einen maroden Betrieb am Laufen gehalten haben, wird bei der Schließung des Betriebs Wehmut aufkommen, aber bei vielen auch Zorn: »Scheißstaat, der uns nicht die notwendigen Ersatzteile für unsere Maschinen liefern konnte.« Das Verhältnis der Arbeiter zu ihrem Betrieb war doch zumeist sehr ambivalent. Verstehen kann ich auch die Enttäuschung, dass mit dem Ende der DDR der Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft erfolgte. Das empfanden die Betroffenen aber nicht als »Entwertung des ganzen Lebens«, sondern als große Enttäuschung ihrer sehr hohen Einigungserwartungen. »So habe ich mir die deutschen Einheit nicht vorgestellt«, sagten damals viele im Osten – nachvollziehbar. Ich fürchte, man muss sich schon kräftig was einreden, um den Einigungsprozess mit – zugegeben - vielen Härten für viele im Osten als die »Entwertung des ganzen Lebens« zu verstehen. Köpping hilft aber dabei gern. Wer die Entwertung des ganzen Lebens aus einem oder mehreren der oben genannten Gründe beklagt, den möchte ich doch fragen, ob er wirklich seinen Lebenssinn allein aus dem Fortbestand seines Arbeitsplatzes in demselben Betrieb bezogen hat. Und Hobbys hattet ihr keine, Verwandte, Freunde, Freizeit- und Urlaubsfreuden und Feste auch nicht? Dann habt ihr aber die Lebensmöglichkeiten, die es in der DDR unabhängig von der SED – oder soll ich sagen: trotzdem gab, zu Eurem Schaden nicht genügend wahrgenommen. Die beklagte Entwertung des ganzen Lebens ist doch auch bloß ein fake new, das uns die Krätze andichtet, an der wir nun leiden sollen, um uns durch Aufarbeitung heilen zu lassen.

Ostdeutsche können stolz sein auf das, was sie unter den erschwerenden Bedingungen von Diktatur und Mangelwirtschaft in Familie und Beruf geleistet haben. Aber bitte nicht neuerdings stolz sein wollen auf die erschwerenden Bedingungen, die wir doch los sein wollten, solange die DDR bestand.

Geschrieben von: Schröder Richard
Rubrik: Geschichte