von Heinz Theisen

Mit dem Krieg in der Ukraine wird der westliche Universalismus noch vergeblicher und gefährlicher

Der Wille zur Selbstbehauptung schien in der westlichen Welt, besonders in Deutschland, gerade bei seinen Eliten erlahmt zu sein, von den Hochschulen über die Medien bis in die Parlamente. Statt mit ihrer Selbstbehauptung waren sie mit Kritik und Dekonstruktion unserer Kultur und unserer Interessen beschäftigt. Mit der gängig gewordenen Hetze gegen »toxische weiße Männer« und der luxurierenden Konzentration auf identitätspolitische Opfergruppen wurde der Westen sogar zum Hauptverursacher aller denkbaren Probleme stilisiert.

Diese radikale Selbstverleugnung ist ein evolutionär unwahrscheinlicher Vorgang, denn in der Evolution und Geschichte der Menschheit muss jedes Lebewesen, jede Gruppe von Menschen immerzu um Selbstbehauptung ringen.

Wie lange kann man es sich leisten, dies nicht zu tun? Diese Frage dramatisiert sich dadurch, dass andere Kulturen und Mächte – ob im Islamismus, im Darwinismus Chinas oder im Nationalismus Russlands – diese Haltung ausgenutzt und umgekehrt ihre Selbstbehauptung radikalisiert haben.

Schon zuvor haben die Überdehnungen in den Krisengürteln des Mittleren Ostens, Nordafrikas und dann auch noch in die russische Hemisphäre zur Destabilisierung dieser Räume beigetragen und sind dann durch Flucht, islamistischen Terror und Krieg auf Europa zurückgefallen.

Selbst ökonomisch haben die globalen Entgrenzungen der letzten dreißig Jahre die Welt nicht freier und sicherer gemacht. Die Globalisierung wurde von autoritären Regimen vielmehr dazu ausgenutzt, ihre Macht gegenüber den eigenen Bürgern und gegenüber dem Westen zu stärken. In der Corona-Pandemie sicherte China die Grenzen Wuhans zu anderen chinesischen Gebieten, nicht aber gegenüber dem Ausland, ein Akt ungeheurer Feindseligkeit.

Der Westen, unter dem wir die rechtsstaatlichen Demokratien der Welt verstehen, umfasst mit den EU-Staaten, Nordamerika, Ozeanien und einigen ostasiatischen Staaten kaum mehr als ein Zehntel der Weltbevölkerung. Die Demokratien werden weniger, Autoritarismus, im Islamismus und in China sogar der Totalitarismus, sind wieder auf dem Vormarsch.

Die verlorenen Grenzen des Möglichen

Auch hierbei zeigt sich erneut, dass dem westlichen Denken die wichtigsten Grenzen überhaupt in Vergessenheit geraten sind: die Grenzen des Möglichen und damit der Sinn für das Notwendige.

In einem surrealen Taumel überbieten sich eine überdehnte amerikanische Weltmachtpolitik, die Geldschöpfung der Europäischen Zentralbank, globalistische Aktivisten und hedonistische Individuen darin, möglichst viele Begrenzungen aufzuheben.

Die Realitätsverleugnung wird umso größer, je näher wir dem Reich der reinen Begriffe und Weltanschauungen kommen, den Hochschulen, Medien, Parteien und Parlamenten. Mit dem in den Geistes- und Sozialwissenschaften vorherrschenden Konstruktivismus wurden Begriffe selbst zur Realität erhoben.

Statt der strengen Suche nach Objektivität zählten darin vor allem Gefühle, an die Stelle des Analysierens trat ein allgemeines Moralisieren, an die Stelle der Differenzierung nach der Logik von Funktionssystemen ein Moralisieren nach Gut und Böse, welche die eigene Logik etwa der Wirtschaft und der politischen Selbstbehauptung außer Kraft zu setzen droht.

Im gleichen Maße wie die Hoffnungen des religiösen Glaubens schwinden, gewinnen sie in der Politik an Zulauf. Auch hierbei werden Sünden gebeichtet, allerdings nur die der anderen. Von Erbsünde und Endlichkeit ist anders als im Christentum keine Rede mehr, es dominieren Selbstgerechtigkeit und Selbsterlösung.

Am fatalsten wirkte sich der Glaube an unbegrenzte Weltoffenheit in der Außenpolitik aus. Fremd ist, was wir nicht verstehen. Der Übermut, in fremden Kulturkreisen westliche Strukturen aufzubauen, stellt keine Widerstände in Rechnung. Tradition und Religion gelten ihm nur noch als folkloristische Relikte, die dem Glauben an den Fortschritt weichen sollten.

Die Entgrenzung der Räume ging mit einer Entgrenzung des Denkens einher. Niemand – so der Orientalist Gilles Kepel – habe die geistige Verwirrung vorausgeahnt, die mit dem Verschwinden von Distanzen und Perspektiven einhergegangen ist. Die Auflösung von räumlichen und zeitlichen Bezugspunkten habe uns die Orientierung verlieren lassen.

Nach dem Scheitern des westlichen Universalismus im Mittleren Osten folgten keineswegs Einsichten in unsere Begrenztheit, sondern die Flucht nach vorn in eine neue Weltanschauung des Globalismus. Sie kennt keine Kulturen und Nationen mehr, sondern nur noch »die Menschheit« und die »Eine-Welt«. Unterscheidungen zwischen Freunden, Feinden und Gegnern gingen verloren.

Die westliche demokratische Kultur wird nicht nur von außen und im Kulturmarxismus auch von innen angefochten, einerseits von der postmodernen Dekonstruktion sowie von der Überinanspruchnahme ihrer Errungenschaften.

Entgrenzungen dominierten auch das gesellschaftliche Leben, ob in Erziehung, Partnerschaft, Kunst, Alltag, dekonstruierender Philosophie und Geldpolitik. Umgekehrt galten Grenzen als Inbegriff des Bornierten, Rechten, Bösen. In der bunten globalen Welt waren weder Viren noch angreifende politische Mächte vorgesehen.

Aus der Epidemie in China wurde nicht zuletzt durch das Fehlen kontrollierender Grenzen in kurzer Zeit eine Pandemie. So sehr wir es an schützenden Grenzen gegenüber dem Virus fehlen ließen – noch bis zum Frühjahr 2020 konnten Passagiere aus China ohne Gesundheitskontrolle in Deutschland einreisen –, desto enger wurden die Grenzen der Bewegungsfreiheit der Bürgers gezogen. Die Weltoffenheit endete im Lockdown.

Der Westen denkt nicht mehr in Einflusssphären, weil er die ganze Welt zu seiner Einflusssphäre rechnet. Damit überhebt er sich ein ums andere Mal und zieht andere Staaten wie Irak, Libyen und die Ukraine damit ins Verderben. Der russische Angriffskrieg ist moralisch durch nichts zu entschuldigen, geopolitisch ist er erklärbar aus der Überdehnung des Westens in die Einflusssphäre Russlands. Nicht einmal die Illusion eines »Wandels durch Handel« ist uns nach der neuen Blockbildung zwischen dem Westen und Russland und China geblieben.

Der deutsche National-Globalismus

Die global denkenden Eliten Deutschlands fühlen sich weniger ihrem Land und ihren Bündnissen als der »Einen-Welt« verpflichtet. Ihre nationale Identität liegt im gemeinsamen Bekenntnis zur Globalität, in der sie an Luftschlössern ohne Mauern bauen.

Bereitwillig opfern sie Partikularinteressen von Autoindustrie und Energieverbrauchern. Rechte der Staatsbürger werden »den Menschenrechten« untergeordnet, statt Patriotismus und Gemeinwohl gilt die Kardinaltugend der »Weltoffenheit«.

Die Bejahung offener Grenzen war Grundlage für das Bündnis von Global Playern der Wirtschaft mit dem Humanitarismus von Nichtregierungsorganisationen. Das Outsourcing der einen ist die freie Zuwanderung der anderen.

Dem Anspruch auf Zukunftsfähigkeit fiel die Gegenwartsfähigkeit zum Opfer: vom Niedergang der Infrastruktur und der öffentlichen Verwaltung bis zum fehlenden Hochwasserschutz im Ahrtal.

Angesichts eines hochmütigen globalen Engagements – nur 0,8 Prozent der Menschheit sind Deutsche – blieb kein Geld mehr für die Sanierung von Brücken. Die Deutschen begleichen die Rechnungen weiter, aber die Spaltung nach Global und Local Playern, zwischen Gewinnern und Verlierern der Globalität wird immer größer.

Längst ist auch der ortsgebundene Mittelstand dem Global Player »Amazon« schon deshalb nicht mehr gewachsen, weil er seine Steuern nicht europaweit optimieren kann. Die sozial-kulturelle Spaltung verläuft nicht zwischen »Links und Rechts«, wie es die Altideologen gerne hätten, sondern zwischen mobilen Anywheres und gebundenen Somewheres.

Die ersten Rettungsversuche vor dem Globalismus reichen vom Wutbürgertum der Gelbwesten und Donald Trumps bis hin zur Flucht der Brexiter aus der europäischen Solidarität. Bei ihnen handelte es sich nur um Antithesen. Statt neuer Absprachen in westlichen Bündnissen zogen sie bloß die nationale Karte. Von der Utopie zur Regression – dazwischen sollte es mittlere internationale Wege geben.

Die gemeinsame Suche in demokratischen Diskursen bleibt aus, weil die Ängste vor der Weltoffenheit diskreditiert wurden. Über dieses Diskursversagen wird die »offene Gesellschaft« – statt gegenüber ihren äußeren Feinden – nur gegenüber denjenigen verteidigt, die mehr Protektion einfordern. Das Ausbleiben des Diskurses treibt die innergesellschaftliche Polarisierung voran.

Sowohl mit dem Ausstieg aus der Kernenergie als auch mit immer neuen Maßnahmen gegen den Klimawandel gehen die deutschen Apokalyptiker »voran«. Doch kaum ein Land scheint ihnen folgen zu wollen. Wenn fast Ein-Drittel des weltweiten C02-Ausstoßes auf das Konto Chinas geht, ist die Verbesserung der deutschen Energiebilanz vergeblich, schlimmer noch, sie verschlechtert nur die eigene Wettbewerbsfähigkeit.

Als selbsternannte Avantgarde bezahlen wir dafür mit den höchsten Energiepreisen der Welt – und mit weiteren Dekonstruktionen der Industriegesellschaft. Der Preis der Unabhängigkeit von Kern- und Kohlekraftwerken war eine umso größere Abhängigkeit von russischem Gas und Öl. Der deutsche Sonderweg hatte uns in der Grenz-, Energie- und Außenpolitik zum Geisterfahrer des Westens gemacht. Die Rückkehr in die westlichen Bündnissysteme wird nun von nackter Not und ohne jede Konzeption erzwungen.

Der deutsche Globalismus hat sich in so tiefe Widersprüche verstrickt, dass uns nur noch gute Freunde daraus befreien können. Etwa die EU-Kommission, die die Kernenergie neuerdings als »grüne Technologie« einstuft. Auch die spezifisch deutsche »Willkommenskultur« wird von den europäischen Nachbarländern nicht geteilt. Die Ampelregierung will illegale Zuwanderung nicht bekämpfen, sondern legalisieren, die anderen europäischen Staaten fühlen sich auch ihren Nahinteressen verpflichtet.


Globalisten und Protektionisten

Heute droht die Auflösung der bürgerlichen Gegenseitigkeiten eher als im Totalitarismus in einem Relativismus gegenüber dem Eigenen und der Verabsolutierung irrealer Fernziele sowie der Verabsolutierung von noch so verstiegenen Minderheitsanliegen zu liegen. Der gesellschaftliche oder staatliche Gemeinsinn spielt demgegenüber keine Rolle.

Dieser radikale Individualismus geht – nur scheinbar widersprüchlich – mit dem Glauben an die »Eine Welt« des Globalismus einher. Es ist leichter, die Verantwortung für die ganze Welt abstrakt und symbolisch zu tragen als konkret für Familie, Nachbarschaft und andere naheliegende Gemeinwesen zu sorgen. Im Wechselspiel von Makrovisionen und Mikroidentitäten drohen mittlere Ebenen, von Familien bis zu Nationalstaaten, an Bedeutung zu verlieren. Entsprechend ist es um sie bestellt.

Das Denken von politischen Ideologen vollzieht sich immer noch entlang einer vorgestellten Linie von links nach rechts. Demnach ist jeder in dem Maße, wie er nicht links ist, im Umkehrschluss rechts. Die Rollen sind im Rahmen des Fortschrittdenkens, »eine weltliche Form des Glaubens an die Vorsehung« (Alain de Benoist), verteilt.

Während die Linken an den Fortschritt und damit an das Gute in der Geschichte glauben, besteht das ideelle Programm der Konservativen darin, vorgegebenen und aufgrund der Natur des Menschen nicht abänderbaren Realitäten gerecht zu werden. Nicht änderbar scheint ihnen vor allem die Notwendigkeit, den allseitigen Bedrohungen der Existenz wehrhaft entgegenzutreten.

In einer ausgleichenden Mitte, die der immer größeren Komplexität der Welt gerecht zu werden versucht, geht es immer um die Dialektik von Verändern und Bewahren. Nur im Ausgleich von Gegensätzen zu Gegenseitigkeiten verstehen wir uns demnach zu stabilisieren und zu behaupten. Der nationale Rechtsstaat, Sozialstaat und Demokratie müssen bewahrt werden, gerade damit Potentiale zur Veränderung und zur internationalen Zusammenarbeit vorhanden sind.

Die in weiten Teilen des Westens angefachte Polarisierung und der »Kampf gegen rechts«, zerstören diese Dialektik, das demokratische Wechselspiel und den offenen Diskurs. Der »Kampf gegen rechts« scheint umso erbitterter geführt zu werden, je mehr er am Thema vorbeigeht. Der große gesellschaftliche Konflikt unserer Zeit, die Wählersoziologie in Frankreichs ist hier eindeutig, handelt zwischen Global und Local Playern, zwischen Weltoffenheit hier und Grenz- und Schutzbedürfnissen dort.

Die Globalisierung förderte zugleich globale Angleichungen und die Zunahme lokaler Ungleichheit. Der territorial gebundene Sozialismus war damit zum Untergang verurteilt, mehr Gleichheit, und auch da vor allem symbolisch, gibt es nur global.

Da mehr Schutz im umgrenzten Territorium in der Deglobalisierung als »rechts« gilt, lösen sich sozialistische Parteien in diesem Dilemma regelrecht auf. Nicht global wettbewerbsfähige Teile der Bevölkerung mussten das Feld räumen, heute bis in den Mittelstand hinein, ein Beispiel ist der ortsgebundene Einzelhandel, der gegenüber Amazon keine Chance hat, weil dieses sowohl die weltweit günstigsten Produkte vertreiben als auch sich seinen lokalen Steuerpflichten entziehen kann.

Der Gegensatz zum Globalismus ist ein Protektionismus, der die Phänomene Trump, Brexit, Le Pen oder auch AFD leicht erklärt. Der Fehler der neuen, so genannten Populisten war es, von der Utopie der Entgrenzung in die Regression der radikalisierten Abgrenzung zu fliehen. Eine Renationalisierung der Verteidigungspolitik wäre in einer multipolaren Weltordnung keine Alternative. Ein nichtatomarer Nationalstaat wäre schutzlos gegenüber atomaren Erpressungsversuchen. Deren Erpressungspotential würde Deutschland zu einem Objekt der internationalen Politik machen.

Solche Gegenextreme erleichtern ihre Diskriminierung, wodurch die Suche nach dritten Wegen verschüttet wurde. Statt diese Ängste und Kräfte nur auszugrenzen und sie damit zu radikalisieren, wäre es demokratische Pflicht gewesen, sie in dialektischer Suche nach Mittelwegen, gewissermaßen in einer »Glokalisierung« aufzuheben.

Auf einer Achse der Selbstbehauptung muss Mehrebenenpolitik betrieben werden, auch geistig, indem Linke, Liberale und Konservative die Gegenseitigkeit von Kapital und Arbeit in der Sozialen Marktwirtschaft gegenüber dem Global-Liberalismus verteidigen.

Bürger kommt von Burg

Zu den radikalsten Folgen des Globalismus gehört die Verachtung von Grenzen, die in Europa vornehmlich nur als »offene Grenzen« gedacht werden durften. Jedes Staatsgebiet setzte ein Staatsvolk voraus, welches aber erst auf einem umgrenzten Staatsgebiet entstehen kann. Völker, die ihr umgrenztes Staatsgebiet verloren haben, verschwinden in der Geschichte in der Regel: Wo – so fragt Alexander Demandt – sind Karthager, Etrusker, Kelten und Hunnen geblieben?

In der griechischen Mythologie galten Grenzüberschreitungen als Ausdruck von Hybris. Im Naturrechtsdenken war es immer Konsens, dass eine grenzenlose Freiheit keinen Bestand haben.

Vom klassischen Liberalismus wurden Grenzen stets innerhalb von physischen und moralischen Grenzen gedacht. Der Ordo-Liberalismus denkt die Wirtschaft im Rahmen staatlicher und sittlicher Gesetze.

Die frühere Abkehr vom Nationalstaat, dessen Anrufung mit den übelsten Diffamierungen belegt wurde, ist in der Stunde der Gefahr, ob bei Pandemie oder militärischer Gefahr, offenkundig unbrauchbar. Klaus von Dohnanyi sieht den Nationalstaat nicht im Gegensatz, sondern in Ergänzung und im Rahmen der europäischen und westlichen Interessen. Es ist auch ihm zufolge keine Nazismus, für ein sozial schützenden Sozialstaat einzutreten und die »Somewheres« vor den nomadischen »Anywheres« zu schützen.

Um den Begriff Populismus, mit dem man jede Sorge um die Zurückbleibenden diskreditieren wollte, ist es ruhiger geworden. Es geht auf Dauer nicht an, mehr als 40 Prozent der eigenen Bürger als Populisten oder gar als Faschisten etc. zu bestimmen. Man wird auf die Ängste dieser Bürger zugehen müssen.

Auf die Straßenschläue und den gesunden Menschenverstand der »kleinen Leute«, die sich im Gegensatz zu den Angehörigen des politisch-medialen Komplexes alltäglich behaupten müssen, können Demokratien nicht länger verzichten. Aber deren Grenzen liegen oft in der mangelnden Abstraktionsfähigkeit von den eigenen Interessen. Mehr als all die prekären Akademiker, die heute Deutschland regieren, wären verantwortungsbewusste, beruflich bewährte und qualifizierte Bürger in der Lage, die Weltoffenheit um Realitätsoffenheit zu ergänzen. Die Europäer können es sich nicht mehr lange leisten, die Gesetze der Evolution zu ignorieren, den Schutz den eigenen Parolen zu opfern.

Der heute allerdings geforderte glokale Bürger wäre zugleich Patriot, Europäer und Atlantiker. Er würde sich statt nur dem Weiten auch wieder dem Nahen zugleich, den unterschiedlichen Notwendigkeiten der Realität, dem Ausgleich zwischen sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Nachhaltigkeit widmen.

Diese Haltung ermöglichte den Aufstieg der Industriegesellschaft, der Sozialen Marktwirtschaft und der rechtsstaatlichen Demokratie. Sie könnte auch die Selbstbehauptung Europas und des Westens ermöglichen. Auf einer Achse der Selbstbehauptung müssten Sozial-Konservative, die den Sozialstaat, Liberal-Konservative, die den Rechtsstaat und Ökologisch-Konservative, die Natur und Umwelt bewahren wollen, Platz nehmen. Und schließlich brauchen wir moderne Konservative, die die kulturellen Voraussetzungen der Moderne wie Individualismus, freies Denken und selbstverantwortliches Handeln sowohl gegenüber autoritären als auch auflösenden postmodernen Strömungen bewahren.

Der Krieg in der Ukraine als neuerliche Selbstaufgabe des Westens

Mit dem Krieg und der neuentdeckten Bereitschaft, Frieden mit Waffen schaffen zu wollen und einen – in Deutschland verachteten – Nationalstaat um jeden Preis zu verteidigen, scheint die Dekadenz des Westens seltsam plötzlich an ihr Ende gekommen, ja in ein kriegerisches Gegenteil umzuschlagen.

Undurchdachte Gegenextreme verschlimmern die Situation. Die gerade Deutschland und Europa massiv selbstschädigenden Sanktionen stärken nicht etwa unsere wirtschaftlichen Interessen und unsere Selbstbehauptung, sondern opfern sie geradezu auf dem Altar einer radikalisierte Form des Selbstverleugnung.

Da die nichtwestliche Welt sich nicht an den Sanktionen beteiligt, droht die vormalige Globalisierung des Westens in seine Isolierung umzuschlagen. Vom Mangel an Selbstbehauptung droht der Westen über die Verstrickung in den Ukraine-Krieg in die wirtschaftliche Selbstisolation überzugehen. Der Krieg legte zunächst die alten Naivitäten offen. Insbesondere Deutschland hatte nicht einmal die eigene Energieversorgung und damit die Basis von Industriegesellschaft und Wohlstand ausreichend gesichert, diese vielmehr mit dem Ausstieg aus Kernenergie und Kohle selbst noch dekonstruiert.

Die westliche Solidarität gegen Russland erscheint vordergründig als neuer, wenn auch verspäteter Ausdruck der Selbstbehauptung. Von Pazifismus und feministischer Außenpolitik ist keine Rede mehr: Die Ukraine wird ganz traditionell von Männern verteidigt, die ihre Frauen in Sicherheit bringen, im Gegensatz zu vielen Männern Afghanistans, die sich selbst in Sicherheit brachten und ihre Mütter und Frauen der Willkür des Siegers überließen.

Aber der naive Pazifismus ist umstandslos in einen einseitigen Bellizismus umgeschlagen, der mehr über Waffenlieferungen als über mögliche Waffenstillstandsabkommen nachzudenken scheint.

Moral ist eine in den internationalen Beziehungen unzureichende Kategorie. Die Bewahrung des Friedens hätte – so sehen es auch neo-realistische Politikwissenschaftler in den USA wie John Mearsheimer und Henry Kissinger – auch einer geopolitischen Perspektive als der Eigenlogik der internationalen Beziehungen bedurft.

Der in Parteien und öffentlichen Medien vorherrschende Bellizismus argumentiert so, als ob der Krieg in der Ukraine keine Vorgeschichte hätte und erst mit dem Überfall Russlands begonnen hätte. Damit wird die unheilvolle Rolle des systematischen Vordringens des Westens in die zuvor neutrale Ukraine unterschlagen. Vor allem wird die Rolle einer sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion von einem Defensiv- zu einem Offensivbündnis wandelnden Nato unterschlagen. Sie wurde darüber zu einem Instrument des amerikanischen Werteuniversalismus und liberalen Imperialismus.

Ihren einstmals ausschließlich defensiven Auftrag der Verteidigung der eigenen westlichen Hemisphäre hat die Nato über ihrem Ausgreifen in fremde Kulturkreise vernachlässigt. Die tiefere Ursache für diese Überdehnung einer sich globalisierenden Nato liegt in der Verleugnung kultureller Grenzen und der aus ihnen hervorgehenden Voraussetzungen einer rechtsstaatlichen Demokratie. In dem Maße, in dem sie sich nicht mehr als Verteidigungsbündnis der westlichen Welt versteht, konnte sie sich erst in fremde Kulturkreise verstricken.

Die Nato-Osterweiterung umgriff 14 Staaten Ost- und Südosteuropas, die meisten davon hatten früher zum Warschauer Pakt gehört. Heute zählt die Nato 30 Mitglieder. Die Ukraine ist seit 2020 eines der sechs Partnerstaaten, die zwar keine Mitglieder sind, aber Mitwirkungsmöglichkeiten haben. Dazu zählen auch Finnland und Schweden. Neben den 30 Mitgliedsländern gibt es noch 21 »Nato-Partnerländer«. Durch die Ausweitung der Nato-Aktivitäten in den Mittelmeerraum, den Mittleren Osten und nach unter Asien ist eine Partnerschaftsindustrie entstanden, die eine fast unüberschaubare Zahl an Foren, Räten und Gruppen nach sich gezogen hat.

Die Ukraine ist von der Nato mit einem Satz der Bukarester Nato-Konferenz in eine Falle gelockt worden. »Die Ukraine wird der Nato beitreten«. Mit diesem Beitrittsversprechen aus dem Jahr 2008 und dann auch noch den Annäherungen der EU 2013 wurde die Ukraine nach Westen gezogen. Einerseits lockte die Nato sie aus ihrer – geopolitisch gebotenen – Neutralität heraus, andererseits gewährte sie der Ukraine mit diesem bloßen Versprechen keinen wirklichen Schutz.

Im Verhältnis von Russland und der Nato ist die Eindämmungspolitik des einen die Einkreisungsangst des anderen. Aggressive Ausbruchsversuche aus der Eindämmung gelten wiederum als Beleg für die Notwendigkeit weiterer Eindämmung und diese wiederum als Notwendigkeit für Ausbruchsversuche. Eine solche tragische Dialektik hat schon vielen Kriegen zugrunde gelegen. Sie hätte nur von Staatsmännern durchbrochen werden können, die eben diese Dialektik durchschauen und auf höheren Ebenen wie einer gesamteuropäischen Friedensordnung aufgehoben werden können, die nicht unipolaren, sondern multipolaren Weltordnungsszenarien folgt.

Konturen eines defensiven Westens

Der westliche Illusionismus war letztlich eine Form der Realitätsverweigerung. Mit den Grenzen der Globalisierung und den neuen Nullsummenspielen könnte diese Form der Dekadenz an ihr Ende kommen und mit dem Bewusstsein für die Endlichkeit und Begrenztheit der Welt das Bewusstsein für Endlichkeit und Innerlichkeit des Menschen wachsen. Aber es ist spät geworden.

Der Westen braucht nicht nur eine ökologische, sondern auch soziale und wirtschaftliche Nachhaltigkeit. Der Ausgleich zwischen ihnen wäre die Aufgabe der Politik im nachideologischen Zeitalter der Komplexität. So erfordert etwa der globale Wettbewerb lokale Schonräume auch zur Vorbereitung künftiger Wettbewerbsfähigkeit. Angesichts der Interdependenzen einerseits und legitimer Schutzbedürfnisse andererseits ist die Suche nach mittleren Wegen und gegenseitigen Ergänzungen zwischen Schutz und Offenheit, zwischen Protektionismus und Globalismus, unabweisbar geworden.

Eine westliche Doppelstrategie zur Verteidigung nach außen und innen sollte auf der Notwendigkeit einer Selbstbegrenzung beruhen, indem er, statt sich in Parolen und universellen Idealen zu verlieren, mit seinen Beständen zu rechnen lernt. Unter dieser Voraussetzung hat der Westen noch eine Chance, sich selbst zu behaupten.

Die Zeit der Universalisierungsansprüche, die der Kommunismus, der liberale Imperialismus und der revolutionäre Islamismus erhoben haben oder noch erheben, sollte in einer multipolaren Ordnung zur Abgrenzung und Koexistenz der Kulturen und Mächte übergehen. Die Kooperationsmöglichkeiten im Bereich von Wissenschaft, Technik und Ökonomie würden durch die Neutralisierung der politischen Beziehungen vergrößert.

Europas Sicherheit sollte in Zukunft nicht am Hindukusch oder im Donbass, sondern an seinen eigenen Grenzen verteidigt werden. Nur ein starker europäischer Pfeiler innerhalb der Nato könnte eine hinreichende Unabhängigkeit der europäischen Politik von den imperialen Motiven der USA ermöglichen. Die französische Atommacht müsste dafür europäisiert werden.

Hinsichtlich Migration- und Integration läge der mittlere Weg zwischen Nationalismus und Globalismus in kontrollfähigen europäischen Grenzen und in einem gemeinsamen Asylgesetz. Der europäische Binnenmarkt sollte dort Schutzräume bieten, wo sie zum Aufbau fairer Gegenseitigkeiten mit China notwendig sind. Die europäische Solarenergie wäre damit vielleicht zu retten gewesen.

Die Europäische Union darf nicht mehr den Agenten der entgrenzenden Globalisierung geben, sondern – manchmal – auch den Schutz vor zu viel Offenheit auf die Agenda setzen. »Ein Europa, das uns schützt«, müsste mehr Dezentralität nach innen gestatten und umgekehrt mehr Einheit und Stärke nach außen zeigen.

Eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft könnte die Strategie der »Selbstbehauptung durch Selbstbegrenzung« umso eher nach außen durchsetzen, wie die EU dafür auf eine Politik der Zentralisierung nach innen verzichtet, in einer Europäischen Union der Vielfalt nach innen und der Einheit nach außen. Sie müsste ihre Beiträge dazu leisten, dass die Nato sich wieder von einem global agierenden Bündnis zu einem Defensivbündnis zurückentwickelt. Ihre Rolle in einer multipolaren Welt würde der zur Zeit des Kalten Krieges ähneln. Damit würden statt den Begriffen des Regenbogenzeitalters wie Universalität, Globalität und Interkulturalität Begriffe wie Eindämmung, Koexistenz und Entspannung wieder im Vordergrund stehen.

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