von Herbert Ammon

Kaum noch Hoffnung – ein Brite betrauert die Selbstaufgabe Europas

Die Zukunft Europas scheint – ungeachtet der sich der EU-Einwanderungspolitik widersetzenden östlichen Mitteleuropäer – vorgezeichnet: In Brüssel bereitet die EU-Kommission derzeit eine Revision der Dublin-Verordnung von 2003 vor, die den Zustrom von Asyl beanspruchenden Immigranten eindämmen sollte. Der Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker ›fordert‹ – er darf das – weitere Einwanderung nach Europa. Wenn sodann Deutschland, ungeliebte ökonomische Führungsmacht der EU, nach der verantwortungslosen Grenzöffnung für weit über eine Million von realen und vermeintlichen Flüchtlingen anno 2015 gemäß Koalitionsvereinbarungen fortan jährlich über 200 000 Asylbewerber aufnehmen will, so dürfte dies – in Korrelation mit der bereits stattfindenden Bevölkerungsentwicklung – in wenigen Jahrzehnten auf eine kulturelle und soziale Revolution hinauslaufen, wie sie der Alte Kontinent seit dem Ende des Römischen Reiches nicht erlebt hat.

Nichts als deutscher Kulturpessimismus in schlechter Spenglerscher Tradition, ›rechtspopulistische‹ Angstmache? Bereits vor fünf Jahren äußerte der amerikanische Historiker Walter Laqueur, als deutscher Jude einst vor Hitler geflüchtet, in einem Interview tiefe Zweifel an der Zukunft Europas (http://www.spiegel.de/international/europe/interview-with-historian-walter-lacqueur-on-the-decline-of-europe-a-912837.html – Siehe dazu Herbert Ammon: Nachtrag zu Walter Laqueur) Nun liegt ein Buch des britischen Autors Douglas Murray vor, das mit folgenden Sätzen beginnt: »Europe is committing suicide. Or at least its leaders have decided to commit suicide. Whether the European people choose to go along with this is, naturally, another matter.« (S.1) Die beiden ersten Sätze signalisieren das Grundmotiv des Buches, der letzte Satz birgt noch einen Keim der Hoffnung.

Murray, Mitherausgeber des Spectator und Gründer eines Centre for Social Cohesion sowie Stellvertretender Direktor des konservativen Henry Jackson Institute, beginnt mit der Darstellung der Problematik in Großbritannien. Die Einwanderung aus der Karibik und aus den Commonwealth-Ländern setzte 1948 mit einem neuen Staatsangehörigkeitsgesetz (British Nationality Act) ein. In den 1960er Jahren versuchte man – im Einklang mit den in Umfragen stets deutlich bekundeten Stimmungen in der Bevölkerung – die zahlenmäßig noch überschaubare Einwanderung gesetzlich einzuschränken. In diese Phase fällt die ›Ströme-von-Blut‹-Rede des Tory-Abgeordneten Enoch Powell, die 1968 inmitten medialer Empörung dessen Hinauswurf aus dem Schattenkabinett von Edward Heath nach sich zog. Powells Rede bewirkte, dass über Jahrzehnte jede weitere Debatte über die anwachsende Einwanderung blockiert wurde.

Den kritischen point of no return sieht Murray in der Regierungsübernahme von Tony Blair 1997, der – unter dem neoliberalen Signum von New Labour sowie der vordringenden Ideologie des multiculturalism – die Tore für Einwanderer aus der EU und aus Übersee weit öffnete. Laut dem Labour-Redenschreiber Andrew Neather ging es der Crew um Blair darum, der Rechten mit Vielfalt eins auszuwischen (»rub the Right´s nose in diversity«) und zugleich ein neues, verlässliches Wahlvolk zu rekrutieren (S. 19). Naturgemäß wurde derlei leak of information von den Parteifürsten vehement dementiert. Auch die Konservativen, die 2010 an die Regierung kamen, änderten entgegen allen Wahlversprechen an dem Zustand nichts. Im Gegenteil: Im Jahr 2010 erreichte die Einwanderung eine Rekordhöhe von 330 000. An dieser Stelle (S.22) spezifiziert der Autor freilich nicht zwischen EU-Migranten und anderen. Auch der Zensus von 2011 wirkte nicht als Alarmsignal hinsichtlich der Zukunft des Landes.

Zu den Strategien der politisch-medialen Klasse gehört es, kulturspezifische, maßgeblich in islamischen Einwanderungszentren anzutreffende Missstände zu negieren oder zu verharmlosen. Bereits 1984 verlor ein Schuldirektor im nordenglischen Bradford sein Amt, nachdem er die Weigerung pakistanischer Immigranten, ihre Töchter am Sport-, Tanz- und Theaterunterricht teilnehmen zu lassen, publik gemacht hatte. In einem Klima politischer Heuchelei blieben Fälle entsetzlicher Sex-Sklaverei ›weißer‹ Minderjähriger über Jahre hin unaufgedeckt, beispielsweise von 2004 bis 2012 im vermeintlich bürgerlichen Oxfordshire. Danach sprach man von ›asiatischen‹ Banden statt von neun muslimischen Pakistanis. (S.28f.)

Die Phänomene kulturell-sozialer Desintegration in Folge – die Herausbildung von Parallelgesellschaften, statistisch nicht zu kaschierende Kriminalitätsraten, der Rückzug der einheimischen Bevölkerung aus den ›Problembezirken‹ – sind in ganz Westeuropa zu beobachten. Die Abwehr von Kritik an unverminderter Einwanderung geschieht mit bekannten Klischees wie ›bereichernde Vielfalt‹, ›Islamophobie‹ sowie mit den Allzweckwaffen ›Rassismus‹ oder – so 2002 der damalige Innenminister (Home Secretary David Blunkett – »bordering on fascism« – S.11). Britische Konservative wie Boris Johnson pflegen den Ton überheblicher Resignation. Als Lord Mayor von London ließ er 2012 verlauten, man solle aufhören, über den Dammbruch zu jammern. Er sei passiert. Wir könnten jetzt nichts anderes tun als den Prozess der Aufnahme so bekömmlich wie wie möglich zu machen. (»There is nothing we can do now except make the process of absorption as eupeptic as possible.« – S.35f.) Der ob seiner sprachlichen Brillanz gerühmte Johnson behandelte die durch Masseneinwanderung entstandene kulturelle Problematik als eine Art soziales Verdauungsproblem.

Die Mehrzahl der Kapitel enthalten Fakten und Informationen zur Migrationsproblematik, die Murrays Buch in der aktuellen Debatte zur nützlichen Quelle machen – etwa über seine Erfahrungen in Deutschland (»a country teetering ever nearer to disaster« – S. 288). In Berlin erklärte ihm ein Gesprächspartner, »a German intellectual«, (S.270), dass alle Deutschen Antisemiten sein und schon aus diesem Grund verdienten, als Volk ersetzt zu werden. Murray hätte hinzufügen können, dass der Mann mit derlei Projektionen mutmaßlich seine höchsteigenen Sentiments enthüllte. Aus Politikermund hörte er folgendes Argument: zum einen seien offene Grenzen für Migranten eine moralische Verpflichtung, zum anderen habe der Zustrom inzwischen von selbst nachgelassen. Mit derlei Logik vermochte der betreffende Bundestagsabgeordnete seine humanitäre Grundhaltung bekräftigen und zugleich ausblenden, dass der Zustrom allein durch Merkels ›Deal‹ mit dem türkischen Präsidenten Erdogan gedrosselt wurde. (S. 288). Ein Bundesminister eröffnete Murray bezüglich der unter menschenrechtlicher Fahne inszenierten blutigen Interventionen im Irak, in Afghanistan und Libyen, es gebe ›Werte‹, für die sein Land eines Tages nicht nur zu kämpfen und zu sterben, sondern zu töten habe. Ob er ihn zitieren dürfe, fragte der Brite. Natürlich nicht, antwortete der wertebewusste Minister. (S.221)

Die Invokation von ›Werten‹, die Rechtfertigung jeglicher noch so fragwürdiger Entscheidungen sowie Gesetzesänderungen, mit den – ausdeutbaren – Menschenrechten, gehört zum Standardrepertoire heutiger Politik. Wie es tatsächlich um die Werte Europas bestellt ist, wird deutlich, wenn Rowan Williams, Erzbischof von Canterbury, die islamische Scharia als mit der bestehenden Rechtsordnung vereinbar erklärt.

Dass hinter den ›Werten‹ sich der Horizont des europäischen Nihilismus auftut, dass hier die tiefere Ursache für die Selbstaufgabe Europas zu suchen ist, ist eine Erkenntnis, der sich insbesondere deutsche Intellektuelle – womöglich unter Verweis auf das moralische Versagen eines Martin Heidegger – verweigern. In den beiden Kapiteln, in denen er über »The Tyranny of Guilt« (Kap. 10) und die ›Müdigkeit‹ (Kap. 13 »Tiredness«) Europas, spricht, zielt der Autor ins Zentrum der gesamten Migrationsproblematik. Wo eine Kultur ihre Substanz eingebüßt hat und sich über diesen Verlust mit Phrasen hinwegsetzt, hat sie die Fähigkeit zur Integration von Minderheiten, erst recht von zu Mehrheiten anwachsenden Minderheiten, verloren.

Die Reflexionen Murrays treffen den Nerv des zeitgenössischen Liberalismus. Es geht um das Dahinschwinden der jüdisch-christlichen Grundlagen der europäischen Kultur. Selbstverständlich wird hier als Einwand der Verweis auf die philosophisch-wissenschaftlichen Wurzeln Europas in der Antike erhoben werden. Die Grundaussage des Buches wird von dieser Feststellung nicht berührt. Denn zu Recht vermerkt der Autor – er selbst versteht sich als christlicher Atheist –, dass der nachaufklärerische Liberalismus noch immer von ›einer leichten Aura von Religion‹ überhöht war.

Unter den Schlägen von atheistischen Denkern wie Richard Dawkins (There's probably no god. Now stop worrying and enjoy your life.) – im Gefolge materialistischer Radikalaufklärung –verliert der Liberalismus seine letzte metaphysische Substanz. Zurück bleibt als Surrogat die ›Tyrannei der Schuld‹ (the tyranny of guilt).

Murray – er ist keineswegs ohne Mitgefühl für Not und Elend in den von ihm aufgesuchten Flüchtlingscamps – zerlegt die Lebenslügen der linksliberalen Intelligentsia. Dazu gehört die Rede von den Segnungen der Multikultur sowie das Argument von der Schuld des ›weißen Mannes‹ – zuletzt vom Redenschreiber der Bundeskanzlerin Merkel in ihrer Rede auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Davos in den Mund gelegt. Die Schuldideologie ist kein deutsches Privileg. Ein groteskes Beispiel für englische Adepten lieferte der Nachfahre des elisabethanischen Piraten und Sklavenhändlers John Hawkins. Zusammen mit 26 anderen Sklavenhändlernachkommen zog er mit Ketten behängt und mit einem Joch auf den Schultern Vergebung erheischend (›So Sorry‹) durch die Hauptstadt von Gambia, um sich vom Vizepräsidenten des Staates die Ketten abnhemen zu lassen. Aus Gambia kommen seit Jahren ›Asyl‹ suchende refugees.

Zu den tiefgründigsten Passagen des Buches gehören Murrays Überlegungen zur Rolle der deutschen Kultur- und Denktraditionen im Prozess der geistigen Selbstzerstörung Europas. Maßgeblich dank der deutschen Philosophie gewann das aufgeklärte Europa einst sein ideelles Selbstbewusstsein. In ihrer spezifisch deutschen Tendenz, die Dinge ›radikal‹ zu Ende zu denken sowie ins Absolute zielend, jeglicher Metaphysik zu entkleiden, zerstörten deutsche Denker die christlich-religiösen Wurzeln ihrer Kultur: von Hegel über Feuerbach bis zu Heidegger. Als einschlägiges Beispiel nennt der Autor den Göttinger Orientalisten Johann Gottfried Eichhorn, der anno 1825 mit radikal-rationalistischer Bibelkritik die Glaubenszuversicht des jungen Engländers Edward Pusey – später eine Führungsfigur des hochkirchlichen Anglo-Katholizismus – erschütterte. Übrig blieben die kunstreligiösen Phantasien Richard Wagners – und das europäische ennui, Synonym für Sinnverlust oder tiredness – eine Erkenntnis, die der ›liberale Schwindel‹ (»the fudge of liberalism« – S. 215) nicht wahrhaben will. Beim Flug über Bayreuth und Nürnberg überkommen den Autor die Bilder der deutschen – und europäischen – Selbstzerstörung im Nationalsozialismus. Über Regensburg erinnert er sich an den offenbar vergeblichen Versuch Papst Benedikts XVI., eine Debatte über die Rolle der Gewalt im Islam anzustoßen. Mit derlei Überlegungen trifft der Autor in die kulturellen Tiefenschichten der Migrationsthematik.

Wer nicht in das Lob von Globalisierung und Multikultur einstimmt, kann in den herrschenden Diskursen nicht auf Beifall hoffen. Sich progressiv dünkende Häme erwartet den Autor, wo er den Verlust tradierter ästhetischer Kategorien in Kunst und Architektur beklagt – ablesbar an den Provokationen eines Marcel Duchamp oder Jeff Koons sowie am Gesicht europäischer Städte, in denen die einst prägenden Dome hinter global gleichförmigen Zweckbauten aus Beton, Stahl und Glas verschwunden sind.

Naturgemäß stieß Murray in England mit seinem Buch auf Ablehnung seitens der linksliberalen Konsensverwaltung. Der Guardian versah eine Buchbesprechung, in der die Rezensentin Douglas Murray auf dem ideologischen Terrain von Nigel Farage und der Ukip ansiedelte, mit dem Titel gentrified xenophobia. Vor diesem Hintergrund spielt es für ›linke‹, genauer: linksliberale Kritiker, keine Rolle, dass der Autor zu den ›bekennenden‹ Homosexuellen zählt. Schmerzliches Lob bekam Murray in seinem Heimatland allein von den letzten Konservativen. Der Philosoph Roger Scruton legt das Buch all jenen ans Herz ›who can influence the course of events, at this critical time in the history of Europe‹.

Dass sich Europa an einem kritischen Wendepunkt seiner Geschichte befindet, dass die europäische Kultur von innen und außen ihrer Auflösung entgegengeht, ist eine Vorstellung, der sich die ›weltoffenen‹ Eliten in Deutschland, dem Land im Zentrum Europas, verschließen. Nur widerwillig wird man sich hierzulande der Worte der Bundeskanzlerin Angela Merkel erinnern, mit der sie die kopflose Grenzöffnung Anfang September 2015 rechtfertigte. Es sei ihr ›egal, ob ob ich schuld an dem Flüchtlingszustrom bin! Nun sind sie halt da‹ (Merkel am 22.09.2015). Ohne vernehmlichen Widerspruch durfte auch die Grünen-Fraktionsvorsitzende Karin Göring-Eckardt, unvollendete Theologin, in provokativer Naivität kundtun, Deutschland werde sich verändern, ›und zwar drastisch. Und ich freue mich drauf.‹

Wie lange die Freude vorhält, bleibt abzuwarten. Immerhin wächst unter Intellektuellen die Kritik am moralisch drapierten Hochmut der Apologeten des Verschwindens Europas. Der von Murray zitierte französische Philosoph Pascal Bruckner schrieb in einem Aufsatz mit dem Titel Imaginärer Rassismus: »Da kommt nun das Seltsamste an der ganzen Geschichte: die Beteiligung einer Fraktion der europäischen und amerikanischen Linken an der Verteidigung des rückständigsten Islams. Man könnte von einer neobolschewistischen Bigotterie sprechen, der verirrte Anhänger des Marxismus frönen.« (https://www.nzz.ch/feuilleton/islamophobie-imaginaerer-rassismus-ld.1287872)

In der jüngsten Ausgabe der Zeitschrift Cato reflektieren zahlreiche, darunter nicht so leicht als ›rechts‹ einzusortierende Autoren über den vor 25 Jahren erschienenen Essay Anschwellender Bocksgesang von Botho Strauß. Wir sind gespannt, welche Resonanz das Buch von Douglas Murray beim deutschen Publikum findet, wenn es jetzt in Übersetzung (in der Edition Tichys Einblick, März 2018) erscheint. Allein der folgende Satz wird in deutschen Feuilletons Entsetzen hervorrufen: »Perhaps the only country in Europe that could lead the continent out of such stagnation would be Germany.« (S. 319)

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