von Anne Corvey

Warum nicht heute und hier die Bilanz ziehen? Ich lade Sie ein, kritisch an den Nägeln zu kauen, Rechnungshof zu sein. Denn es gilt, offenbar zu machen: die nationale Pleite - das literarische Falschgeld - die sich als Person bestätigt fühlende Hybris - und das Sprüche klopfende Gewissen einer nicht existenten Nation.
Günter Grass, Rede über das Selbstverständliche

Die alten Dichter haben es vorgeführt, und wenn es in der Literatur nicht mehr funktioniert, dann im Leben. Das Wetter als wundervolle Spiegelung der ›Volksseele‹ - und wenn dem nicht so ist, dann wird es so gemacht.

Gut platziert - pünktlich zum Ende der Hitzewelle und mitten in das noch anhaltende Sommerloch - munitionierte Bürger Grass uns aus reicher Erfahrung heraus für eine hitzige Sommerdiskussion. Geküsst in diesem Fall nicht von der Muse, sondern vom medialen Todesengel. Welches Versprechen über die Unsterblichkeit der ihm wohl gemacht haben mag? Hitzig, verbissen, rachsüchtig und als symptomatischer Spiegel der Sache selbst brodelt die Diskussion in allen Zeitungsküchen. Und pünktlich wie das Sommergewitter kam die Abkühlung, diesmal von unerwarteter Seite. Es war gewiss nicht sein erster Highnoon, wie immer schoss er aus der Hüfte und übertraf diesmal seine eigene Treffsicherheit. Interessant war allerdings, dass Grass' Reaktion bereits vorher zu lesen war: Man will mich zur Unperson machen, denn wirklich verletzend, demontierend etc. war dieser treffend humorige Artikel.

Falls Sie immer noch nicht wissen, wovon ich rede: Ich spreche von Broders Oma. Sie hat mich so sehr an meine eigene und an die mittäglichen Tischgespräche mit ihrem Schwiegersohn - meinem Vater - erinnert, dass ich herzhaft lachen musste und wusste, das ist ein Schlüssel. Erheitert hat mich vor allem, dass es der Humor war, der das Verständnis aufschloss. Ein Funken Humor hätte Oma vor dem Absturz gerettet. Doch der Reihe nach.

Günter Grass hat im Spiegel vom 19. 6. 2006 geäußert, die Hypotheken, die wir nach dem Krieg mittlerweile in die dritte Generation hineingetragen hätten, müssten bewusst in die nächsten Generationen getragen werden. Nun provoziert er selbst - willentlich? - die Frage, ob er den Makel, den er sein Leben lang empfunden haben will, wirklich an die Generation der Enkel, Ur- und Ururenkel weitergeben möchte. Bei sich in die Rente verabschiedenden Protagonisten der Öffentlichkeit und der Macht ist es nicht selten zu beobachten, dass sie ihnen genehme Kofferträger der jungen Generation in entsprechende Positionen hieven und so versuchen, sich in die übernächste Generation resp. Nachwelt hinein zu verlängern. Bleibt die Frage, ob die Erben - man kennt das Verhalten von Erben zur Genüge - mit dem ihnen Zugekommenen auch wirklich so verfahren, wie die Erblasser sich das vorstellen. Ein anderes aber ist es, wenn der Vorgang nicht an bestimmte Personen, an ›persönliche‹ Erben gebunden, sondern sozusagen in die Öffentlichkeit der Jungen hinein ausgeweitet wird.

Rekapitulieren wir Broders Oma: Die sittenstrenge Dame, die ihren Enkelinnen aus tief moralischen Einsichten heraus das Tragen von Miniröcken verboten hat oder wahrscheinlicher verbieten wollte, denn welche Generation lässt sich schon von der vorvorigen das Modebewusstsein vorschreiben, kann im fortgeschrittenen Alter das Wasser nicht mehr halten - dieser Ausdruck bezeichnet nicht nur Inkontinenz, sondern auch den Geifer, der in Form von moralinem Speichel aus dem Munde tropft -, und gesteht im Bewusstsein ihrer umfassenden, angeeigneten und verliehenen moralischen Autorität - denn wie wir wissen befinden wir uns allen Taten der Alten zum Trotz schon lange auf der absteigenden Linie -, dass sie weiß, wovon sie spricht und wovor sie die Generation der Enkelinnen warnen möchte. Miniröcke bewirken bei den Mädels das, was Oma nach eigenen Aussagen als junge Frau getan hat, wovon sie also aus eigener Anschauung spricht und was sie Zeit ihres Lebens als Makel mit sich herum trug: das ›Auf-den-Strich-Gehen‹. Die familiären Auswirkungen beschreibt Broder anschaulich und gefühlsecht: Wohin mit Oma? Man mag sie nicht aus dem Hause jagen, aber weiter am selben Tisch mit ihr sitzen, das möchte man auch nicht.

Die Enkelinnen, vor allem aber der Hausherr (ist es der Schwiegersohn?) müssen den Eindruck gewinnen, Oma sei senil geworden. Man kann es sich bestens vorstellen, wie die Mädels nach einem Moment der Verblüffung zu kichern beginnen und wie der Hausherr stumm und indigniert auf das Tischtuch blickt und sich dann zu den Worten »Aber Oma! Nun lass es gut sein!« hinreißen lässt. (Wie Mama reagiert hat, ist nicht überliefert.) Ihr Leben lang hat Oma zu diesem Tatbestand geschwiegen und nun, irgendwann vor ihrem Ableben und kurz vor der bombastisch geplanten Feier zum Achtzigsten, muss es heraus. Stellt sich die Frage, ob sie nicht mehr weiß, was sie tut, ob sie die Bedeutung ihrer Person überschätzt und nicht sieht, dass ihre Autorität eine verliehene ist, in dem Sinne, dass diese nur soweit reicht, wie man sie ihr zugesteht, oder ob sie sich bei den Enkeln anbiedern will, indem sie auf deren falsches Bewusstsein schauend die Tatsache untermauern will, dass sie weiß, wovon sie spricht.

Dabei übersieht sie leider zweierlei: Zum einen unterstellt sie damit den Enkeln pauschal das, was ihr in der Jugend widerfahren ist oder wie sie sich verhalten und entschieden hat, denn Entscheidungen trifft man auch bereits mit 17. Eigentlich ist das ein Alter, in dem die jungen Leute hellwach sind. 17-jährige Neonazis werden jedenfalls nicht als halbe Kinder wahrgenommen. (Grass sagt ja selbst, er sei aufgeweckt und eigentlich aufsässig gewesen, er sagt aber nicht, wie sich das geäußert hat, es sei denn, die Verführtheit war die Aufsässigkeit.) Zum anderen übersieht Oma, dass dem Hausherrn (oder dem Schwiegersohn) schon im Namen seiner Töchter dieses Geständnis gegen den Strich gehen muss, denn es geht um den Ruf der Familie. Oder hat Oma gedacht, dafür sei sie allein zuständig? Dann hat sie sich wohl in der Generation geirrt.

Und noch eins: Oma ist halt ein wenig hinter der Zeit, auch wenn sie noch immer kräftig mitdiskutiert. Es geht schon längst nicht mehr um Rocksäume. Die jungen Leute haben alle Hände voll zu tun, ihre eigene ethische Haltung zu entwickeln, denn das, was Oma befürchtet, geschieht längst an allen Enden und Ecken der Welt - und diesmal sind es die Guten, die zuschlagen.

Im Interview mit Frank Schirrmacher und Hubert Spiegel sagt Grass, dass bewusst wie unbewusst sicher auch der Gedanke an Kinder und Enkel eine Rolle gespielt habe. Er verweist auf das Tagebuch einer Schnecke, das er für die damaligen Kinder und die kommenden Enkel geschrieben habe, um ihnen seinen politischen Aktivismus, Auschwitz und etliches mehr zu erklären. Düpiert müssen die sich natürlich auch fühlen und die Reaktionen zeigen genau das: Wut über das moralische Diktat. Enkel aber verhalten sich anders. Für sie ist Oma nun eine faszinierend komische Nummer. Und der Hausherr muss unauffällig handeln, um bleibenden Schaden abzuwenden, schließlich kennt man Oma und weiß, was geschieht, wenn sie erst einmal loslegt. Vielleicht ist das ja sogar der Zeitpunkt, an dem man überlegt, sie ins Heim zu entsorgen, denn da wird bestens für sie gesorgt und sie ist am richtigen Ort. Wer nimmt die Geschichten aus dem Heim schon ernst? Da kann sie den anderen Alten erzählen, was sie will, das ist eine eigene Welt, von der man lieber gar nicht so viel wissen will, vom - je nach Temperament und Gewissen - wöchentlichen oder monatlichen Pflichtbesuch einmal abgesehen. Leider hört ihr keiner zu, denn die anderen Heimbewohner leben in ihren eigenen Erinnerungen.

Und noch etwas geschieht mit der moralischen Instanz Oma: all die Zweifel, ob sie nicht vielleicht doch Recht gehabt hat und all der Unmut, der sich bei ihren über die Jahre geäußerten Ermahnungen, Vorhaltungen und Urteilen angesammelt hat, darf sich nun Luft machen, denn - man muss Oma nicht mehr Ernst nehmen, so traurig das Ganze auch sein mag und so sehr man Omas Schicksal bedauert. Und so darf man auf einmal sagen, dass Oma schon immer Binsenweisheiten von sich gegeben habe, dass sie mit Klugheit nun wirklich nicht geschlagen gewesen sei, und dass man das schon immer gewusst und nur mit Rücksicht auf die Familie nicht publik gemacht habe undsoweiterundsoweiter. Und so ist Oma in diesem Sommer gescheitert, hat sich verabschiedet aus der Riege der ernst zu nehmenden Menschen, denn zweimal überspringt man die Generationengrenze nicht und bis ins siebte Glied, das funktioniert nur in archaischen Gesellschaften - das wollen wir jedenfalls hoffen.

Eines aber bleibt, denke ich, als Aufgabe, wenn der Fall von Broders Oma abgeschlossen ist: Vielleicht sollte es doch den einen oder anderen, der sich mit gesellschaftlichen Phänomenen, mit Ritualen und dergleichen mehr wissenschaftlich befasst, geben, der sich der Frage widmet, wie er nun wirklich funktioniert, dieser unser Kulturbetrieb. Welche fatalen Auswirkungen auf die Literatur zum Beispiel dieses ganze Ehrungs- und Preisverleihungstheater hat. Wie sich vielleicht schon ganz junge Autoren verbiegen müssen und verbogen werden in einer Massengesellschaft, wenn sie dorthin streben. Wie eng und ungut verzahnt das Verhältnis zwischen Medien und Literatur, Schreiben und Kritik ist. Bezeichnend ist es doch, wenn öffentlich gesagt wird: Den Literaturnobelpreis erhält man nicht für persönliche Integrität und Geradlinigkeit. Das zeigt ein ganz bestimmtes und nie mehr hinterfragtes Literaturverständnis, das in direkter Beziehung zu gesellschaftlichen Entwicklungen zu sehen ist. Ein Thomas Mann hat da noch anders empfunden. Es zeigt sich auch - die Argumente machen es anschaulich - wie papierdünn die Grenze zwischen denen ist, die die Meinung vertreten, er hätte besser weiter geschwiegen und denen, die ihre Hochachtung vor dem späten Geständnis zu Protokoll geben, ganz abgesehen davon, dass eigentlich jeder nur von sich spricht.

Für mich persönlich schließt sich ein Kreis: Hatte ich schon im Falle der Einheit den erbitterten Widerstand von Bürger Grass nicht so ganz begriffen, so noch viel weniger die Verteufelung des Internet und seinen Plot Im Krebsgang, wo es um eine chattende Generation junger Neonazis geht. Nun ist mir der Knopf aufgegangen. Grass als Praeceptor Germaniae handelt nach der Devise Ich bin Deutschland und sieht im Grunde in jungen Deutschen tätige oder potientielle Neonazis, denen er sagen muss: Ich war auch einer wie ihr, aber schaut, was ich daraus gemacht habe. - Warum auch immer: Sei es aus Hochmut, sei es in Verkennung seiner Person und Funktion, sei es aufgrund der Tatsache, dass er nicht in der Lage ist, sich etwas anderes vorzustellen, als was er selber getan und erlebt hat. Wie in Die Plebejer proben den Aufstand nachzulesen ist, kann er sich einen berühmten Autor (es geht dort um Brecht) als integre Person nicht vorstellen. In gewisser Weise sind auch das - um mit einem anderen verirrten Autor zu sprechen - Zurüstungen für die Unsterblichkeit. Leider schafft man die Himmelfahrt noch immer nicht aus eigener Kraft.

 

Geschrieben von: Corvey Anne
Rubrik: Gesellschaft