von Felicitas Söhner

 1849 erschien erstmals in Paris die internationale revolutionäre Tageszeitung La Tribune des Peuples. Als soziales politisches Organ der europäischen Demokratie rief sie auf zum Freiheitskampf im Namen der internationalen Solidarität und Brüderlichkeit. Hier veröffentlichte der polnische Romantiker und Revolutionär Adam Mickiewicz zahlreiche Beiträge für die Idee eines neuen, freien Europas. Am 14. März 1849 schrieb er in der Erstausgabe: »La situation de l'Europe est telle qu'il devient désormais impossible pour un peuple de marcher isolément dans la voie du progrès, sous peine de se perdre lui-même en compromettant ainsi la cause commune.« (Die Situation in Europa ist so, dass es unmöglich ist, dass auch nur ein Volk für sich allein den Weg des Fortschritts beschreiten könnte, es liefe dabei Gefahr, selbst unterzugehen und gleichzeitig die gemeinsame Sache damit zu kompromittieren. Übers.d.Verf.) (Mickiewicz 1907: 54)

Heute befinden wir uns auf dem Weg zu einem integrierten Europa, in dem die Völker und Ethnien in verschiedenen Regionen leben und ihre regionalen Traditionen, Kulturen und Prägungen mitbringen. Wenn man Europa genauer betrachtet, besteht es aus einer Vielzahl von kulturellen Mustern und Vorstellungen. Die Zeit der Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts liegt mittlerweile hinter uns. Dennoch sind, wenn man den Umfragen glauben darf, nach wie vor die Vorstellungen der Menschen über ihre Nachbarn geprägt von nationalen Bildern und Stereotypen. Ein jeder Deutsche hat umgehend Bilder im Kopf, wenn er sich zu ›typischen‹ italienischen, polnischen oder schwedischen Eigenschaften äußern soll. Schwieriger wird es, wenn dieser zu den Charakterzügen der eigenen Nation befragt wird. Indirekt zeigen die Fremdbilder jedoch, welche Eigenschaften an der eigenen Nation vermisst oder zumindest ähnlich ausgeprägt gewünscht wären. So können Heterostereotype als Spiegel seines Selbst angesehen werden. Stereotype erinnern uns indirekt daran, wie wir uns positionieren und dienen so indirekt der Identitätsbildung. Hauptsächlich werden sie über Sozialisation und öffentliche Meinung vermittelt. Zudem besitzen diese Bilder eine deutliche Änderungsresistenz und zeitliche Stabilität. In ihrer charakteristischen Unbeweglichkeit dienen sie als erste Orientierungshilfe in der Weltbewältigung und spielen so eine nicht zu unterschätzende Rolle in unserer menschlichen Kultur. Stereotype vereinfachen zunächst den Zugang zu einer bisher unbekannten Realität. Dennoch ist ein reflektierter Umgang mit ihnen notwendig, um sie in ihrer Richtigkeit zu hinterfragen und eine Zementierung unstimmiger Bilder zu vermeiden.

Zur Begrifflichkeit lässt sich sagen, dass nach derzeitigem Forschungsstand von einer fächerübergreifenden einheitlichen und allgemeingültigen Definitionslage keine Rede sein kann. Aufgrund des Mangels an exakter Begrifflichkeit werden von vielen Forschern die Wörter ›Stereotyp‹, ›Vorurteil‹, ›Image‹ und ›Bild‹ oft synonym verwendet. Laut dem Stereotypenforscher und Geschichtswissenschaftler Hans Henning Hahn haben alle bisherigen Versuche die Begrifflichkeiten wenigstens im deutschsprachigen Raum zu präzisieren zu keiner gültigen Verbindlichkeit geführt. Seiner Ansicht nach befindet sich die Begriffsdiskussion hierzulande sogar in einer Sackgasse (Hahn 1995: 8). Es erscheint mir falsch, dass diese Begriffe austauschbar verwendet werden, auch wenn ohne Zweifel zwischen ihnen Gemeinsamkeiten bestehen. Nach meinem Verständnis ist ›Vorurteil‹ ein übergeordneter Begriff, der eine Haltung gegenüber einer fremden Gruppe bezeichnet, während ›Stereotyp‹ ein konkretes Charakteristikum dieser Gruppe beschreibt.

Wenn man nationale Stereotype betrachten will, impliziert die Benennung schon allein, dass es so etwas wie einen ›nationalen Charakter‹ überhaupt gibt. Nach der gängigen Ansicht unter Geisteswissenschaftlern sind Nationen eher künstliche Artefakte, als natürlich gewachsene Gemeinschaften. Da Menschen jedoch dazu neigen, Grenzen zwischen dem Eigenen und dem Fremden zu ziehen, bedeutet das auf die internationale Ebene übertragen, dass dort, wo sich ethnische Unterschiede bemerkbar machen, auch nationale Stereotype und Bilder auftreten. Sie waren und sind für alle Fachgebiete der Humanwissenschaften ein interessanter Forschungsgegenstand, da sie vor allem in der Mentalitätengeschichte Kenntnisse über das Bewusstsein der zeitgenössischen Realität, der eigenen Identität und auch der anderer Nationen vermitteln. Als langlebige Bestandteile der Kommunikation sind sie Untersuchungsgegenstand in vielen fachlichen Disziplinen. Daher wird ein Forschungsvorhaben, das sich mit dieser Thematik befasst, kaum umhin kommen, sich in einem interdisziplinären Bereich zu bewegen oder zumindest mit dem Bewusstsein einer fächerübergreifenden Öffnung im eigenen Fachbereich zu arbeiten.

Nationale Stereotype entstehen weniger durch genaue Kenntnis des Nachbarn, sondern mehr durch die Generalisierung selektiver Erfahrungen und vermittelter Kenntnisse. Europa bietet zahlreiche Beispiele, an denen man erkennen kann, dass die gegenseitige Abneigung zweier Nachbarnationen in dem Maße steigt, je näher sie nebeneinander liegen. Der unmittelbare Nachbar werde seit jeher eher argwöhnisch beobachtet. Eine bekannte Redewendung besagt: »Seine Nachbarn kann man sich nicht aussuchen.« Sie sind die vorgefundenen Anderen, mit denen man seine Lebenswirklichkeit zu gestalten hat. Kaum eine Begegnung zwischen zwei Gesellschaften geschieht ohne gemeinsame Geschichte und beiderseitige Vorstellungen. Gerade zwischen benachbarten Völkern und Ethnien, seien sie international oder intranational, treten im gemeinsamen Umgang Irritationen auf, da zwar Menschen Tür an Tür wohnen, sie dabei jedoch kaum ins Bewusstsein des anderen eindringen. Manchmal kann es in der Nachbarschaft Probleme geben, manchmal kann sie einem Freude bereiten. Diese alltägliche private Situation kann auch auf das Nebeneinander zweier Völker übertragen werden, das von einer manchmal belasteten Vorgeschichte geprägt ist, aber im konstruktiven Miteinander eine gemeinsame Zukunft vor sich hat.

Oft tritt der Andere kaum in den Fokus der Aufmerksamkeit, dann berichten wieder die Medien ausführlich über die andere Gesellschaft. Im Allgemeinen kennt jede Seite nur ›ihre‹ Geschichte und Wahrheit; genau aus dieser einseitigen Sichtweise entstehenden Klischees und Missverständnisse. Reduzierte Bilder sind einer internationalen Zusammenarbeit nicht immer dienlich. Sie können diese auch deutlich gefährden, da sie auch immer die Gefahr von Diskriminierung beinhalten. Gerade Populisten benützen den gezielten Einsatz von negativen Fremdbildern dazu, einen ihrer Sache dienlichen Sinn zu stiften.

Um gegenseitige negative Stereotypen abzubauen, bedarf es einem langfristigen, koordinierten und durchdachten Vorgehen der Verantwortlichen in Politik und Bildung. Konfliktforscher Andreas Zick betont dahingehend eindringlich, dass Bildung nützt und eine signifikante Funktion innehat (Zick 2009). Grenzübergreifende Abkommen sind hier äußerst wichtig, aber allein nicht ausreichend. Daher ist es umso ausschlaggebender, dass die Fähigkeit zum offenen Dialog und ein Mindestmaß an gegenseitiger Respektierung anderer Gesellschaften und Kulturen gefördert werden. Vor allem die Gestaltung einer gemeinsamen Lebenswelt kann Einstellungen ändern. Diese kann auf Basis einer genauen und gründlichen Kenntnis von Geschichte und Kultur des eigenen und des fremden Volks, sowie durch direkte Kontakte und Zusammenarbeit gestaltet werden.

Jedoch sollte hier vor einem naiven Optimismus gewarnt werden, da wirkliches Verständnis nicht von heute auf morgen entstehen kann. Gerade lockere Kontakte können wieder stereotypisierte Bilder zur Folge haben, aber grundsätzlich besteht in jeder einzelnen positiven Begegnung die Chance einer Verbesserung des Verständnisses.
Deshalb sollten vor allem interethnische Zusammenkünfte informativ vorbereitet werden, da es sonst sehr schnell zur Bestätigung bestehender Stereotypen kommen kann. Zudem ist es von grundlegender Wichtigkeit, dass das Bewusstsein von Gemeinsamkeiten gefördert wird; in dieser medialen Leistung liegt der Schlüssel eines konstruktiven Miteinander zwischen beiden Nachbarn.

Ein weiterer Ansatz im Stereotypenabbau bildet die Förderung interkultureller Kontakte. Zick sieht gerade in ihnen den »absoluten Königsweg« (Zick 2009). Er spricht von dem Multiplikatoreneffekt, den beispielsweise interkulturelle Kontakte von Kindern innerhalb ihrer Familien und Freundeskreise haben. Diese interkulturellen Begegnungen müssten nicht einmal direkt stattfinden, es würde genügen, wenn ein Freund oder ein Kind Berührungspunkte mit dem anderen Kulturkreis hätte. Schon allein durch das Erzählen unter Freunden oder Familien würden sich diese Erfahrungen generalisieren. In diesen kleinen alltäglichen Begegnungen würde mehr Potential liegen als in großangelegten öffentlichen Aktionen. Hier sollte vor allem bei den Vermittlern und Trägern der Sozialisation angesetzt werden, also in erster Linie bei der Familie als Primärgruppe, der Schule und anderen Bildungsstätten.

Grundsätzlich sollte vor allem auch die Gesellschaft ihre Einstellung ändern, Stereotype gänzlich vermeiden zu können. Nach Hans-Georg Gadamers Ansicht ist die menschliche Vernunft zu schwach, um ohne Vorurteile auszukommen. Er sieht es sogar als Glück an, unter »wahren Vorurteilen« erzogen zu sein (Gadamer 1990: 277). So gesehen ist es ein Vorurteil, ohne Vorurteile auskommen zu können. Allenfalls können wir sie einschränken, verringern oder mindern, aber wir können sie nicht gänzlich abschaffen oder aufheben.

Mit Vorurteilen und Stereotypen werden wir leben müssen, daher steht nicht ihre Existenz zur Diskussion, sondern die Frage eines sinnvollen Umgangs mit ihnen. Gerade in ihren paradoxen Auswirkungen – als Kontaktbehinderung, aber auch als Lebensbewältigungshilfe – liegt ihre Chance. Entscheidend ist hierbei, dass der Gesellschaft nicht nur die Bilder, sondern auch kulturelle Techniken des Umgangs mit ihnen übermittelt werden, so dass das Fremde nicht abgewehrt sondern als Teil des anderen akzeptiert werden kann. Wenn das Fremde im Anderen besser verstanden und voneinander erfahren wird, ist es einfacher Differenzen zu akzeptieren, gelassener mit diesen umzugehen und Abschied zu nehmen von der Zwangsvorstellung, dass in einer Gemeinschaft alle immer und in jedem Fall parallel gehen müssen. Zu dieser nötigen Gelassenheit im Umgang mit Unterschieden äußert sich Hans Magnus Enzensberger in seinem Essay sehr zutreffend: »Wie schon der flüchtigste Blick auf Hinz und Kunz lehrt, sind Nervensägen und Schwindler, Rüpel und Idioten unter der einheimischen Bevölkerung mit derselben statistischen Frequenz anzutreffen wie unter Türken, Tamilen und Polen. Das gewaltlose Zusammenleben mit ihnen ist eine Zumutung, die sich in der Zivilisation ausnahmslos jedermann gefallen lassen muss.« (Enzensberger 1992: 70) Diese Toleranz sollten die europäischen Völker und Ethnien auch beweisen um zum Gelingen eines gemeinsamen und freien Europas beizutragen.


Literatur:

Enzensberger, Hans Magnus (1992) Die Große Wanderung. 33 Markierungen. Mit einer Fußnote »Über einige Besonderheiten bei der Menschenjagd«, Verlag Suhrkamp, Frankfurt a.M.

Gadamer, Hans-Georg (1990) Hermeneutik: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Gesammelte Werke, Band 1, Verlag Mohr, Tübingen.

Hahn, Hans Henning (Hg.) (1995) Historische Stereotypenforschung. Methodische Überlegungen und empirische Befunde, Verlag BIS, Oldenburg.

Mickiewicz, Adam (1907) La tribune des peuples, Notre Programme – 14 mars 1849, E. Flammarion Editeur, Paris.
http://www.archive.org/stream/latribunedespeu00mickgoog (abgerufen am 30.03.2010)

Zick, Andreas (2009) Nach dem Schweizer Minarettverbot – Warum ist der entspannte Umgang miteinander so schwer? Auszüge aus der Sendung Notizbuch Freitagsforum vom 04.12.2009, Radio Bayern2, Bayerischer Rundfunk, München.

 

Geschrieben von: Söhner Felicitas
Rubrik: Gesellschaft