von Felicitas Söhner

Im Jahr des 80. Geburtstags von Michail Gorbatschow liegt nun die deutsche Ausgabe einer spannenden Quellenedition vor, die bereits 2006  von Galkin und Tschernjajew in einer geringen Auflage in russischer Sprache herausgegeben wurde (Michail Gorbačev i Germanskij vopros. Sbornik dokumentov 1986 – 1991 / Михаил Горбачев и германский вопрос. Сборник документов 1986-1991, Весь мир, Москва).

Die Dokumentation ist in russischer Sprache mittlerweile vollständig im Internet unter http://www.rodon.org/other/mgigv/index.htm abrufbar [29.06.2011]. Sie wurde von der russischen Öffentlichkeit wenn überhaupt, dann lediglich mit Unbehagen registriert.

Prof. Dr. Aleksandr Galkin ist Historiker und Mitglied wichtiger wissenschaftlicher Institutionen Russlands und hat zahlreiche Schriften zur deutsch-russischen Geschichte verfasst. Der promovierte Historiker und Politologe Anatolij Tschernjajew beriet 1985 bis 1991 Gorbatschow in außenpolitischen Fragen. Seit seiner Tätigkeit in höheren Parteikreisen führte Tschernjajew Tagebuch. Er stenografierte sowohl im Politbüro als auch bei politischen Treffen mit oder fertigte Gedächtnisprotokolle dieser Zusammenkünfte an. Diese einzigartigen Erinnerungen zur Geschichte der Perestrojka sind heute die Grundlage für viele seiner Publikationen und bieten zugleich einen weitreichenden Fundus nicht nur für die Forschung zahlreicher Historiker.

Aleksandr Galkin/Anatolij Tschernjajew (Hg.): Michail Gorbatschow und die deutsche Frage. Sowjetische Dokumente 1986 – 1991, München (Oldenbourg-Verlag) 2011, 640 S.

Neben einer akribischen Kommentierung findet der Interessierte in der deutschsprachigen Ausgabe ein kombiniertes Orts- und Schlagwortregister, ein ausführliches Abkürzungs- und Dokumentenverzeichnis sowie ein annotiertes Personenregister. Damit stellt diese Edition eine äußerst wichtige und notwendige Ergänzung zu den westlichen Sichtweisen auf den Wiedervereinigungsprozess dar. Zudem eröffnet die Veröffentlichung in deutscher Sprache nun erstmalig dem des Russisch unkundigen Leser den Zugang zu diesen Dokumenten.

Die Unterlagen sind beinahe komplett in der Gorbatschow-Stiftung archiviert und der Forschungswelt bis dato nur teilweise bekannt. Manche sind in unterschiedlicher Art und Weise bearbeitet. Auch werden mit den veröffentlichten Dokumenten die Archivalien nicht vollständig wiedergegeben. Die Herausgeber der vorliegenden Ausgabe weisen in Fußnoten auf Variationen, Auslassungen und Abweichungen hin (Vgl. xxiii ff.). Gleichzeitig war es ihnen ein Anliegen, die Dokumente in den westlichen Überlieferungskontext einzubetten (Vgl. xxiii). So ist die deutsche Edition mehr als nur eine Übersetzung des russischen Bandes.

Schon der Titel lässt erkennen, worauf sich der Fokus der Auswahl sowjetischer Quellen richtet. Die Publikation macht greifbar, wie die politische Führung der Sowjetunion mit den Entwicklungen in der DDR umzugehen versuchte. Sie zeigt, dass in Gorbatschows Perestrojka eine der grundlegenden Voraussetzungen für die Transformation des ehemaligen Ostblocks und somit auch für den Fall der Mauer liegt. Zudem möchte die Dokumentation »eindringlich vor Augen (führen), dass die deutsche Wiedervereinigung ein multinationaler Prozess war, in dem Moskau - Gorbatcev, Sevardnaze und ihre engsten Mitarbeiter - auf verschiedenen internationalen, multilateralen Foren agierten und reagierten.« (S. xxiii)
Die umfassenden Aufzeichnungen illustrieren die Bedeutung der deutschen Frage und auch die Dramatik des politischen Wandels in der Zeit von 1986 bis 1991.

Zu Beginn der Edition äußern sich die beiden Osteuropahistoriker Helmut Altrichter und Horst Möller zur besonderen Bedeutung der Vorgänge in den beiden deutschen Staaten für die Sowjetunion. Doch würde man dem »weltgeschichtliche(n) Vorgang, der zur Lösung der ›deutschen Frage‹ 1989/90 führte« (S. xvii) nicht gerecht werden, wenn man diesen ausschließlich aus der Perspektive der deutschen Wiedervereinigung betrachten würde. Die deutschen Herausgeber verweisen auf die Möglichkeit, die mit dieser Edition geschaffen wurde, die Vorgänge aus sowjetischer Perspektive zu betrachten. Zudem betonen sie die Unverzichtbarkeit dieser Dokumente für zukünftige Interpretationen, vor allem wegen der grundlegenden Ergänzung des bisher zugänglichen Materials (Vgl. S. Xvi).

Nach einer anschließenden editorischen Notiz des promovierten Historikers Andreas Hilger, in welcher dieser auf die Quellenlage, Sortierung des Materials und den Umgang mit Abweichungen und Variationen von Dokumenten näher eingeht, findet der Leser ein weiteres Vorwort, das die Herausgeber Galkin und Tschernjajew für die russische Ausgabe verfassten. Diese beiden betonen hier die außerordentliche Wichtigkeit der Kenntnis von Hintergründen und Zusammenhängen, um die Rolle Gorbatschows und auch die Bedeutung seines Wirkens in der Phase der deutschen Wiedervereinigung angemessen beurteilen zu können.

Sie kritisieren ein »Unverständnis für die wahren Motive Gorbačevs und die falsche Interpretation konkreter Episoden des Verhandlungsprozesses«, die teilweise derart tiefgreifend seien, »dass sie die Bedeutung nicht nur der Rolle Gorbačevs völlig entstellen, sondern auch die Bedeutung all dessen, was sich ereignet hat.« (S. xxvii) Zudem könne nach Ansicht der Herausgeber die Gorbatschowsche Politik in der deutschen Frage nur dann richtig interpretiert werden, wenn diese in einem globaleren Kontext gesehen würde.
Dabei verweisen sie auf die Zusammenhänge der deutschen Frage mit dem Kalten Krieg, welcher die »die Menschheit an den Rand der Selbstvernichtung geführt hat« (S. xxviii). Galkin und Tschernjajew beschreiben die »explosive Lage« in Ostdeutschland im Herbst 1989, unter deren Bedingungen Gorbatschow die primäre Aufgabe darin sah, jegliche Ausbrüche zu verhindern, den Wiedervereinigungsprozess in geordnete Bahnen zu lenken und dabei die staatlichen Interessen der UdSSR möglichst umfassend zu berücksichtigen (Vgl. xxxi).

Die beiden Historiker betonen aber auch die persönliche Schwierigkeit Gorbatschows, das ›antideutsche Syndrom‹ zu überwinden. Hier hätten die jahrelangen bilateralen Beziehungen zum ostdeutschen Staat sowie der wesentliche Einfluss der Neuen Ostpolitik Willy Brandts eine deutlich positive Rolle gespielt (Vgl. S. xxix). Abschließend ziehen Galkin und Tschernjajew das Fazit: »Bei der Erforschung der Ereignisse, die zur Wiedervereinigung Deutschlands geführt haben, der treibenden Kräfte dieses Prozesses und der Beweggründe, die ihn ermöglichten, ist es noch zu früh, einen Schlusspunkt zu setzen.« (S. Xxvii)

Die darauffolgenden chronologisch sortierten Dokumente lassen sich in vier Kategorien einteilen: Zu einer gehören Aufzeichnungen von Gesprächen Gorbatschows mit internationalen politischen Größen. Dabei ist ein Teil der Dokumente vollständig dargestellt, andere lediglich in Auszügen. Die Auslassungen sind entweder Wiederholungen schon bereits angeführter Gespräche oder haben keinen klaren Bezug zur deutschen Frage.
Weiter findet der Leser Notizen zu Besprechungen und Sitzungen des sowjetischen Parteivorstands, die sich mit der Situation Deutschlands befassten. Diese wurden seinerzeit von Anatolij Tschernjajew auf Notizblöcke zumeist stenografisch aufgezeichnet und gehören heute zum Bestand des Archivs der Gorbatschow-Stiftung.

Jene Dokumente werden ergänzt durch dienstliche Materialien und Aufzeichnungen engster Mitarbeiter Gorbatschows, welche mit der deutschen Frage zu tun haben und während der Entscheidungsphase zur deutschen Wiedervereinigung aufgezeichnet wurden. Zudem enthält die Quellenedition einzelne, jedoch zum Hintergrundverständnis grundlegende Veröffentlichungen der Medien.
Die Zusammenschau der Kreml-Dokumente bietet erstmals eine komplette Übersetzung der im Jahr 2006 von der Gorbatschow-Stiftung veröffentlichten Papiere und lässt den Leser erfahren, wie sich Gorbatschow seiner Zeit im aller engsten Kreis zur ›deutschen Frage‹ positionierte. So gewinnt der Leser einen tiefgehenden Einblick in die Hintergründe des politischen Wandels und vom Ende des Kalten Krieges aus sowjetischer Perspektive. Gleichzeitig erhält der Leser durch die intensive Kommentierung einen umfangreichen Vergleich verschiedener Textversionen.

Die Dokumente enthüllen, wie früh sich die Sowjetführung unter Gorbatschow auf eine Wiedervereinigung einstellte; denn schon am 29. September 1986 teilte das Staatsoberhaupt seinem außenpolitischen Berater mit: »Alle sozialistischen Länder sind verwundbar – wir können sie alle verlieren. Die DDR ist stärker als die anderen, aber einer Vereinigung mit der BRD kann sie nicht widerstehen, d.h. auch auf Kosten des Sozialismus« (S.17) Weiter geht aus den Unterlagen hervor, dass eine deutsche Einigung von der Sowjetunion zwar nicht angestrebt, jedoch als erwartbare Entwicklung akzeptiert wurde.

In den Unterlagen werden die dramatischen Ereignisse zum Greifen nahe. Sie stellen die Ereignisse um die Wiedervereinigung in einem neuen Blickwinkel dar: Am 5. Oktober 1989 notiert Anatolji Tschernjajew in sein Tagebuch: »M.S. [Gorbačev] fliegt morgen in die DDR, zum 40. Jahrestag. Er mag überhaupt nicht. Hat heute zweimal angerufen: sagt, er sei den Text (der) Rede bis zum letzten Buchstaben durchgegangen, (…) Zur Unterstützung Honeckers werde ich nicht ein Wort sagen. Die Republik und die Revolution werde ich unterstützen. Heute in Dresden – Demonstrationen mit 20 000. Gestern in Leipzig [noch mehr]. (…) Die ganze westliche Presse ist voll mit Artikeln über eine Wiedervereinigung Deutschlands.« (S.186)

Auch erfährt der Leser über Reaktionen und Wertungen der sowjetischen Führung zum Fall der Mauer. In diesen Tagen hält Tschernjajew fest: »Die Berliner Mauer ist gefallen. Eine ganze Epoche in der Geschichte des ›sozialistischen Systems‹ ist zu Ende gegangen. (…) Aber die DDR, die Berliner Mauer – das ist die Hauptsache. Denn hier geht es schon nicht mehr um den ›Sozialismus‹, sondern um eine Veränderung des Kräfteverhältnisses in der Welt; hier ist das Ende von Jalta, das Finale für das Stalin’sche Erbe und für die Zerschlagung von Hitler-Deutschland [im großen Krieg].« (S.228)

Aus deutscher Sicht überraschend, wirkt es daher aus sowjetischer Perspektive beinahe selbstverständlich, dass Gorbatschow am 10. Februar 1990 dem erstaunten deutschen Bundeskanzler mitteilte, dass in Bezug auf die Einheit »die Deutschen diese Frage selbst entscheiden (…und selbst) ihre Wahl treffen (müssten). Und sie sollten diese unsere Position kennen.« (S.326)
Das Konvolut zeigt Michail Gorbatschow nicht nur als einen Motor der Perestrojka, sondern vielmehr als einen Politiker, der die Zeichen der Zeit erkannte. Diese Rolle bemerkt auch sein außenpolitischer Berater: »Das ist, was Gorbačev ›angerichtet‹ hat. Er hat sich wahrhaft als groß erwesen, weil er den Gang der Geschichte gespürt und ihr geholfen hat, einen ›natürlichen Lauf‹ zu nehmen.« (S.228)

Wer sich dafür interessiert, wie die deutsche Wiedervereinigung zustande kam und wie sich die Positionen in den Verhandlungen entwickelten, der findet in diesen Dokumenten eine wertvolle Wissensgrundlage. Die vorliegende Quellenedition liefert einen wichtigen Beitrag in der wesentlichen Erweiterung und Ergänzung der bisherigen Darstellung der sowjetischen Position zur ›deutschen Frage‹. Dadurch erhält nicht nur die Debatte um die Rolle der Wiedervereinigung im Kalten Krieg und den politischen Transformationsprozessen eine deutlich breitere Quellengrundlage, sondern die Herausgeber leisten damit einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der deutsch-russischen Zeitgeschichte.

Literatur:

Bandi, Mario / Bajohr, Ulrike (2007) Tschernjajew erzählt, Wie Gobatschows Berater die deutsche Einheit erlebte, Hörspiel in: Deutschland Radio, Sendung vom 23.03.2007, www.deutschlandarchiv.info/download/publication/32 (abgerufen am 01.05.2011)

Bergmann, Wilfried (Hg.) (2009) Nach 20 Jahren Perestrojka - Wege zu einer neuen Weltordnung. Michael S. Gorbatschow und Richard von Weizsäcker im Gespräch auf dem Petersberg in Bonn, Verlag Duncker & Humblot, Berlin.

Biermann, Rafael (1998) Zwischen Kreml und Kanzleramt. Wie Moskau mit der deutschen Einheit rang, Verlag Schöningh, Paderborn.

Neef, Christian (2007) Das Ende des Experiments, Aufbruch ins Chaos, in: SPIEGEL Special Geschichte 4/2007, Ausg. vom 18.12.07, Augstein Verlag, Hamburg.

Oldenburg, Fred (1992) Die Deutschlandpolitik Gorbatschows 1985-1991, in: Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Bd. 17, Köln.

Oldenburg, Fred (1998) Die Erneuerung der sowjetischen Deutschlandpolitik in der Phase der Wiedervereinigung, in: Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Bd. 22, Köln.

Oldenburg, Fred (1999) Die Deutschlandpolitik Gorbatschows und der Niedergang der Sowjetunion, in: Meissner, Boris / Eisfeld, Alfred (Hg.), 50 Jahre sowjetische und russische Deutschlandpolitik sowie ihre Auswirkungen auf das gegenseitige Verhältnis, Berlin.

Plato, Alexander von (2003) Die Vereinigung Deutschlands - ein weltpolitisches Machtspiel. Bush, Kohl, Gorbatschow und die geheimen Moskauer Protokolle, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn.

SPIEGEL (2009) Ein ziemlich dummer Mensch, Interview mit Anatolij Tschernjajew, in: SPIEGEL Zeitgeschichte, Ausg. vom 17.08.09, Augstein Verlag, Hamburg.

Teltschik, Horst (1991) 329 Tage. Innenansichten der Einigung, Siedler Verlag, Berlin.

Tschernjajew, Anatolij (1999) Die Deutschlandpolitik Gorbatschows aus russischer Sicht, in: Meissner, Boris / Eisfeld, Alfred (Hg.), 50 Jahre sowjetische und russische Deutschlandpolitik sowie ihre Auswirkungen auf das gegenseitige Verhältnis, Berlin.

Wagenlehner, Günther (1989) Gorbatschow und die deutsche Frage, in: Deutschland Archiv, 22. Jg., Heft 9, Verlag Wissenschaft und Politik, Köln. S.1005 – 1011.

Weisflog Christian (2009) »Das letzte Imperium musste verschwinden«, Interview mit Anatolij Tschernjajew, in: Der Tagesspiegel, Ausg. vom 07.11.2009, http://www.tagesspiegel.de/politik/deutschland/das-letzte-imperium-musste-verschwinden/1628502.html (abgerufen am 11.06.2011)

Geschrieben von: Söhner Felicitas
Rubrik: Geschichte