Im Grunde ist alles ganz einfach: 80 Mio : 1, da konnte nichts weiter herauskommen als Wer sonst, Wir haben doch keinen, Wer wenn nicht sie? Vor allem, wenn man bedenkt, dass diese 80 Millionen, Kinder und Greise inbegriffen, doch alle irgendwie idealiter Unionswähler sind, sozusagen als Dritt- und Schattenwähler, gleichgültig, was sie sonst alles unterstützen oder am Laufen haben, – sie ist nun mal von Adenauers Zeiten her die Staatspartei und alle anderen sind … psst! Stimmenjäger wollte da jemand sagen, ein mühsames Geschäft übrigens, und: undankbar.

Aber der überquellende Talentschuppen SPD, diese Jugendschmiede der Republik? Auch in ihr sollte nur einer es können? Und der kann’s auch nicht? Wer soll denn dann…? Politik kommt von Können, das weiß doch jeder, im Grunde könnte jeder –: stopp. Jetzt aber mal halblang. Dass die Partei ihre Kandidaten per Zeitungsanzeige zusammensucht, das dient der Transparenz, daran ist nichts falsch, höchstens gewöhnungsbedürftig. Dass die Medien ihr den Kanzlerkandidaten küren und sie ihn dann bestätigt, ist hingegen weder falsch noch richtig, es ist abwegig, mancher würde sagen: Gerade deshalb läuft es darauf hinaus. Wer zuunterst steht, auf den läuft alles zu. Das ist eine alte Regel, die hier und da aufgeweicht werden kann, aber dann ist das Resultat auch danach.

Dass die 60+Parteien ein Problem mit der AfD haben, könnte auch daran liegen, dass sie ihren Frieden mit sich und der Welt gemacht haben und die Welt nichts davon weiß. Das wäre immerhin ein Ansatz. Kants Ewiger Friede wirkt sich insofern darin aus, als in gähnenden Landschaften allgemein nicht die glühendsten Verehrer touren. Zum Glück für die anderen ist die AfD, strukturell gesehen, ebenfalls eine 60+Partei, nur eine, die hofft, ihre Zukunft noch vor sich zu haben. Es ist diese Überzeugung, die sie grosso modo der Nation dort ans Herz legt, wo es schlägt, was immer man sonst davon halten soll. Die Nation selbst ist eine 60+Partei, die sich ihre Jüngeren zu Erinnerungszwecken hält, um gelegentlich nachzusehen, wie es damals war, als man selbst noch … demonstrierte, staatsfeindliche Pamphlete las und dazu kiffte oder wie das heute heißt. Diese große Partei, sie will wählen gehen, der Aufwand, den sie zu diesem Zwecke treibt, könnte größer nicht sein, hätte sie beschlossen baden zu gehen, sie will es aber vermeiden. Warum? Es wäre ein Desaster.

Die 60+Nation findet keine attraktiven Bewerber mehr für das mächtigste Staatsamt, nachdem der beliebteste bereits für das höchste weggefischt wurde. Seufzend erinnert sie sich an den geschniegelten Schwiegersohn-Typ, den seine Oberen vor Jahren in die Wüste schicken mussten, weil etwas mit seinem Titel nicht stimmte. Käme er heute, er könnte jede Partei haben, eine links, eine rechts, eine hinten… Man mag das Bild nicht ausmalen, irgendetwas stimmt nicht daran, es wirkt gequält.

Braucht sie ihn denn? Muss sie einen Bewerber ausrufen, um ihn gegen die 24-Prozent-Mauer rennen zu lassen, als handle es sich um einen Serientest für das E-Auto der Zukunft? Muss sie so tun, als kämpfe sie um die Macht, wenn die Macht so tut, als ginge es ihr um anderes als um den Erhalt? Was gewinnt am Ende, wer um den Erhalt streitet, wenn sich schon absehen lässt, dass er leer ausgehen wird? Wenn sich schon absehen lässt, dass auch der Gewinner leer ausgehen wird?

Leere Gesichter ... die Regierten lesen an ihnen ab, was die Stunde geschlagen hat. Die ’68er haben abgeräumt, was es abzuräumen gab, und die ’89er haben es ihnen nachgetan. Nun ist es genug: Die einen sind alt und die anderen sehen alt aus. Was der Westen nach ’68 zuließ, folgte dem Karriere-Ruf und verdarb sich das Leben durch häuslichen Zwist. Was der Osten nach ’91 zuwege brachte, emigrierte in alle Himmelsrichtungen oder blieb gleich zu Hause. Politik? Attraktiv? Alle Taschen umkehren und trotzdem undurchsichtig bleiben oder dafür zu gelten? Für wen? Für was? Um was zu bewirken?

Doch doch, sie wollten und wollen etwas bewirken, die damals und heute Jungen. Sie wollten es dort, wo ihnen die konsequente Nachwuchspflege der Fußballnation, die nebenher Autos verkaufte, es vorgaukelte: im Einsatz für die Welt. Dass die Welt in Gefahr sei, ist das eigentliche Mantra der ehemals Westdeutschen, es hat sie über den Geschlechterkrieg gerettet wie über die von Osten hereingebrochene Einheit, die ihnen ›erstmal‹ nichts sagte, bis beide Seiten sich im gewohnt antifaschistischen Kampf zusammenfanden. Dass das eigene Land Gefahr laufen könnte, von lauter Mittelmaß regiert in eine Welt hinüberzugleiten, die Mittelmaß nicht verzeiht, hat ihnen niemand gesagt und eigentlich glauben sie auch heute noch nicht daran. Was nicht ›für die Welt‹ geschieht, holt keine Seele hinter dem Ofen hervor, was für das mit seinen inneren und äußeren Beschränktheiten zurechtkommen müssende Land nötig wäre, das bleibt im Ungewissen und wird aufgehoben durch das ewig junge Bedürfnis, nur ja auf der richtigen Seite zu stehen.

Die richtige Seite… Da steht sie herum, die richtige Seite, sie fröstelt, denn es ist kalt, die Parameter haben an Verlässlichkeit eingebüßt, die anderen ziehen die patriotische Fahne hoch und haben Geschichte. Die Welt will noch immer gerettet werden, nur gegen die Retter braut sich zusammen, was nicht zusammen gehört. »Unglücklich das Land, das Helden nötig hat«, tönte einst Brechts Galilei. Viele haben dich gehört, aber haben sie dich auch verstanden? Welches Land wäre so unglücklich, dass es Helden nötig hätte? Welches Land überlebt auf Dauer das Unglück, glücklich zu sein? Größe, lieber Physikus, braucht Raum, sie muss sich erstrecken, die kleinste Erstreckung ist auch Größe, weil sie die Lücke füllt, in der sich sonst Unrat sammelt. Ansonsten fehlt, was die anderen Größen angeht, der Maßstab. Die Unsitte, Politiker überlebensgroß aufzublasen, um ihnen dann das Verdienst oder die Schuld an dem zuzuschanzen, was ohnehin passiert, wenn es gut- oder schiefgeht, verbessert nichts: nicht die Verhältnisse, nicht die Politik, nicht die Ansichten. Nur besser wäre besser – bessere Leute, bessere Ansichten, bessere Politik.

Geschrieben von: Siebgeber Ulrich
Rubrik: Der Stand des Vergessens