In Krisensituationen gewinnt, wer zuzuspitzen versteht. Ein Land oder ein Verband gleichgerichteter Staaten, in dem nur noch ein Thema die Gemüter beherrscht und Unfrieden zwischen zwei Fraktionen sät, die sich wenig oder nichts mehr zu sagen haben und sich stattdessen in Schuldzuweisungen, Beschimpfungen und Drohungen ergehen, – ein solches Land, eine solches System befindet sich in der Krise. Das heißt fürs erste nicht viel. Es gibt sowohl künstliche Krisen als auch, am anderen Ende der Skala, Krisen, in denen es nach Torheit schmeckt, gewinnen zu wollen, weil sie auch dann nicht weggingen – vielleicht gerade dann nicht weggingen, da man selbst, als kritischer Teil der Gesellschaft, Teil der Krise, womöglich ihr Hauptverursacher ist. Die beiden Extreme berühren einander: einer nicht lösbar erscheinenden Dauerkrise fehlt das entscheidende Merkmal der Krise, die ›Wende‹ zum Guten oder zum Schlechten, sie tendiert dazu, als Normalzustand fortzubestehen und gleichzeitig als ›künstliche‹, als Hirngespinst oder leere Drohung abgefertigt zu werden. Daher begnügt sich die Partei der Krise, ihr vermeintlicher oder wirklicher Nutznießer, damit, in der Krise – soll heißen: durch sie – stärker zu werden, bis irgendwann, in kritischeren oder sonnigeren Zeiten, ihr die Macht von alleine zufällt... Aus welchem Grund?

Ganz einfach: bis dahin haben sich sich die anderen an ihre Stärke und den peu à peu gewonnenen Einfluss gewöhnt. Der Tag wird kommen – so lautet das Kalkül –, an dem die herbeigeredete Entscheidung vor der Tür steht und stürmisch Einlass begehrt, sie vielleicht sogar eindrückt oder -tritt. Ist die gegenwärtige, sich unentschieden hinziehende Krise deshalb Gerede? Handelt, wer ihr die Stimme leiht und Entscheidungen anmahnt, verantwortungslos? Vielleicht, vielleicht nicht. Der Schein des Unfriedens gebiert den Unfrieden des Scheins. Niemand setzt sich sicherer ins Unrecht als der Selbstgerechte. Jede stürmische Gegenwart setzt die Parameter der Vergangenheit neu ... wer gerade noch als kurz- oder sogar stumpfsinnig galt, kann sich morgen in der Aura des Weit- und Umsichtigen sonnen, der immer gewarnt hat und dessen Rezepte deshalb Prestige genießen. Dennoch werden sie nur in den seltensten Fällen übernommen. Warum? Es wäre ›zu einfach‹. Es wäre zu einfach, dem verachteten Gegner von gestern, nur weil er mir gefährlicher wurde, auf einmal Kredit zu gewähren und ihm in seinen Ansichten zu folgen. Das Gegenteil ist der Fall. Wie in den Patentkämpfen der Wirtschaft gewinnt, wer die Herkunft der eigenen Lösungen am erfolgreichsten zu verschleiern versteht. Wer angesichts einer Massenflucht aus zwei Erdteilen in der Diskussion über Aufnahmekapazitäten ein Wort wie ›Obergrenze‹ aus taktischen Gründen tabuisiert, der behilft sich dann eben mit ›Kontingenten‹ – nebenbei bemerkt, ein recht durchsichtig gestricktes Beispiel, dem auf den Zuschauer-Rängen der blanke Hohn begegnet, während die irritierte Gefolgschaft sich aufs Abwarten verlegt, also auf eine Gelegenheit abzuspringen, sobald das Volk nicht mehr mitzieht.

— Das Volk? Welches Volk? Welche Rolle fällt in der Krise dem Volk zu?

— Das kommt auf die Phase an. In der ersten versuchen die Inhaber der Regierungsgewalt, es von den Entscheidungen auszuschließen und die aufkeimende Unruhe zu dämpfen, in der zweiten, ihm ›nach dem Maul‹ zu reden und seinen Zorn gegen die populistischen Herausforderer zu lenken, in der dritten –

... Reden wir nicht über die dritte. Die dritte Phase, falls sie denn einmal eintritt – was zu verhüten wäre –, folgt ihren eigenen Regeln, den uralten Regeln des Hauens und Stechens, bei dem zuvor keiner weiß, ob er wieder nach Hause kommt und ob sein Zuhause dann noch steht. Es sei denn, alle verstehen einander plötzlich bei belegter Stimme und die Krise fällt, mangels Zuspruch, bis auf weiteres aus.

Geschrieben von: Siebgeber Ulrich
Rubrik: Der Stand des Vergessens