Es ist schon ein ziemlich verzweifelter Griff in die Mottenkiste der Nation, die religiöse Herkunft eines Landes oder einer Kultur zu Staats-Zwecken zu mobilisieren. In neoliberal verfassten Gemeinwesen verhalten sich auch die religiös empfänglichen Bevölkerungsteile angebotsorientiert. Wer Religion will, muss sich der Konkurrenz stellen oder er sät vor allem eins – Unfrieden. Die großen Religionsgemeinschaften haben das, mehr schlecht als recht, irgendwann begriffen. Herkunft, Geburt, Überzeugungs- und Missionierungsarbeit, dazu die polarisierende Wirkung von Gewalt und Unfrieden, soweit sie religiös bemäntelt werden, sind längst (oder wieder) stärkere Akteure auf der kollektiven Bühne als der homogenisierende Nationalstaat alter Schule. Auch die Mehrzahl der Ländern, die ihn erst als Importartikel kennengelernt haben, falls er ihnen nicht einfach von den sich verabschiedenden Kolonialmächten übergestülpt wurde, hat das verstanden.

Dennoch stellt sich die Lage in ihnen anders dar als in den klassischen Nationalstaaten. Die Versuchung, die gute alte Versuchung des Monotheismus, ist vielfach zu groß: mit einem Staats-Gott im Rücken regiert es sich eleganter und fallweise auch effizienter als im Sog unterschiedlicher Glaubensrichtungen. Wenn ihr euch nicht auf einen Glauben einigen könnt, dann glaubt wenigstens an den gemeinsamen Staat: die Formel ist zweideutig, auch zwielichtig wie alle Lösungen, die aus Resignation ersonnen wurden und zu triumphalen Erfolgen führten. Denn nur der gottgefällige Staat kann einem religiösen Gemüt die Zustimmung abringen, die man Glauben nennt und die sich in der Opferbereitschaft des Einzelnen für die Gemeinschaft vollendet. Der geglaubte Staat wird immer eine Art von Staats-Gott in der Hinterhand haben. Ein Staat hingegen, an den keiner glaubt – denn die Intellektuellen glauben nicht, sie machen glauben –, ist zwar für viele Funktionen gut, aber er wird vermutlich aufgegeben, wenn er am Nötigsten wäre, er ist nicht wetterfest.

Was tun? Der Stimme der Resignation folgen, die sich gern als die der Vernunft ausgibt? Sich einmal mehr auf die Straße des Staats-Triumphalismus begeben? Den allzu frommen Neuankömmlingen mit den Attributen einer hergebrachten Frömmigkeit begegnen, weil es das eigene Herkommen ist – macht uns das fromm? Und wer wohl wäre dann – wir? Wie gesagt, halbwegs aufgeklärte Religionsgemeinschaften haben nichts gegen Konkurrenz, sie belebt das Geschäft. Sie haben erst recht nichts gegen den Staat, auch er belebt das Geschäft, wenngleich aus anderen Gründen. Der laizistische Staat bietet den Vorteil, dass er klar definiert, wo die seriösen Geschäftsfelder liegen und nach welchen Regeln sie bearbeitet werden dürfen. Dass er damit auch eine ›schwarze‹ Religiosität erzeugt, die gewillt ist, sich – um Gottes willen – nicht an die Regeln zu halten, nimmt er gern in Kauf, weil ... nun, weil erst sie den Kontrast ergibt, den die Zivilreligion benötigt, um sich in Szene zu setzen. Denn die Zivilreligion appelliert nicht an die Glaubensbereitschaft der Mitmenschen, sondern an ihre Selbstsucht: Wer hier das Knie nicht beugt, der muss von Sinnen sein ... oder über Mittel verfügen, die ihn wahrhaft unabhängig erscheinen lassen. Das kann ein Pass sein oder ein Vermögen, Hauptsache, es enthebt ihn der Notwendigkeit, Bürger eines Landes und damit überhaupt Staatsbürger zu sein und sich den Heiligtümern der Nation pietätvoll zu nähern.

Die schiere Existenz des laizistischen Staates grenzt an ein Wunder –: kein Wunder also, dass seine Inszenierung regelmäßig einen Abgrund an Heuchelei offenbart. In ihm falten die Bewohner (um es bei der christlichen Geste bewenden zu lassen) die Hände zweimal: vor der Brust und hinter dem Rücken. Das stimmt auch dann, wenn ihr inbrünstig geglaubter Gott Mammon heißt. Man könnte sagen, sie gehen von einer Geste erfrischt zur anderen über, aber das riecht, wie vieles, nach Hypothese und klingt fast schon gewagt.

Geschrieben von: Siebgeber Ulrich
Rubrik: Der Stand des Vergessens