...neulich im Einstein

 las ich verschiedene Berichte über das Gedenken an der Schinderstätte im Wald von Katyn. Der polnische und der russische Premier übten sich – erstmals seit sechzig Jahren! – glaubhaft in versöhnlichen Gesten. Es blieb aber ein Misston – einer nämlich fehlte: Polens Präsident. Als er dann drei Tage verspätet anreisen wollte, passierte das Malheur beim Anflug auf den Militärflughafen Smolensk. Mir fiel sofort die merkwürdige Parallelität der Ereignisse auf, die schon einmal im Zusammenhang mit Katyn die polnische Elite betraf.

Damals, als Władisław Sikorski (1881-1943), Premier der polnischen Exilregierung (seit 30. Sept. 1939) mit seinem Stab am 4. Juli 1943 beim Abflug auf den Militärflughafen Gibraltar abstürzte. – Sollte sich erneut das Prinzip asymmetrischer historischer Duplizität bestätigen, wonach sich markante Ereignisse zweimal ereignen, einmal als Tragödie, das andere mal als (hier: schwarze) Farce? Ein polnischer Schriftsteller hat das entsprechend kommentiert: »Die halbe Staatsführung steigt gemeinsam in ein Flugzeug und fliegt in den Nebel. Das ist schrecklich, grotesk und urpolnisch.« (Die Welt, v. 12. April 2010, S. 3).

Katyn als exemplarisch bolschewistisches Verbrechen – Putin beschrieb es dort beim Treffen mit Tusk als Stalins Rache [!] – war geeignet, als es im April 1943 offenbar wurde, die ganz und gar zweckbündnerische Allianz der Sowjets und des Westens gegen Hitler beenden zu helfen. Denn Sikorski wollte die – bei seinem Tod auf den Tag genau – zweijährige militärische Zusammenarbeit mit Stalin (seit 4. Juli 1941 gab es das sog. Sikorski-Majski-Abkommen) sofort beenden, als er hörte, was Schreckliches mit seinen immerhin 21857 (!) Offizieren, die Ende September 1939 in sowjetische Gefangenschaft gerieten, passiert war. Der Tod Sikorskis ersparte der Antihitler-Koalition eine Zerreißprobe, er blieb ein Kollateralschaden.

Dass das ein ganz und gar ideologisches, nicht ein ethnisches, Verbrechen war, wird deutlich wenn man seine Hintergründe offen legt, die mit dem polnisch-sowjetischen Krieg 1920 und dem polnischen Sieg und Territorialgewinn zusammenhängen. Dass dies möglich wurde – emblematisch als Wunder an der Weichsel bezeichnet –, hängt mit militärstrategischer Inkompetenz und ehrgeizigen Dilettantismus des seinerzeitigen Kriegskommissars Stalin zusammen, der damals einer wichtigen Armeegruppe an der Südwest-Front den politisch motivierten Befehl gab, nicht den bedrängten Tuchatschewski-Truppen vor Warschau zu Hilfe zu kommen, sondern Lemberg zu erobern. Die Diversifizierung der Truppen führte dazu, dass aus beiden Siegen nichts wurde, Polen wieder zum Gegenangriff übergehen und so große Gebiete der Westukraine und Westweißrusslands besetzen konnte, weit ostwärts der alten Curzon-Linie vom Juli 1920. Damit war der weltrevolutionäre Traum vom Export des Kommunismus nach Deutschland und Westeuropa ausgeträumt. Welcher Idiot, so soll damals Lenin gestöhnt haben, marschiert denn über Lemberg nach Warschau …? – Und diese (natürlich nie eingestandene) Schuld Stalins wurde jetzt, April 1940, als man die polnische militärische Führung von damals in Händen hatte [u.a. General Stanisław Haller (1872-1940), der mit Budjonnys Reiterarmee auch Woroschilow und Stalin zu Paaren jagte!], mit Blut abgewaschen. Ein Verbrechen, das man bis zum Zusammenbruch der Sowjetgesellschaft auch nie eingestand!

Von nationalkonservativer Seite in Polen würde man gern diese grässliche – unsoldatische – Bluttat an seinen Offizieren aus den historischen Zusammenhängen des Weltbürgerkriegs herausnehmen, um es als sozusagen völkisches Schisma zwischen Polen und Russen zu verewigen. Der polnische Präsident stand auch für diese denkerische Farce der Verethnisierung des Klassenkampfs.

Steffen Dietzsch

Geschrieben von: Dietzsch Steffen
Rubrik: Bannkreis