von Egon Bahr

Die Geographie bleibt die unveränderbare Konstante auf unserer Welt. Die Gewichte verändern sich, mit denen die Staaten Macht und Einfluss erhalten und erweitern wollen. Am Anfang des 21. Jahrhunderts sind wir Zeugen fundamentaler Gewichtsverschiebungen. Sie erfordern ein neues geostrategisches Denken. Die Lage Europas zwischen Amerika und Russland ändert sich zwar nicht, aber die Interessen der betroffenen Länder, das Eigene eingeschlossen, müssen unvoreingenommen und sorgfältig analysiert und dem Wandel angepasst werden.

Amerikas Festigkeit und Glaubwürdigkeit verdanken wir, dass der Kalte Krieg erfolgreich beendet wurde. Mit Amerika verbinden uns zum Teil gemeinsame, zum Teil unterschiedliche Wertvorstellungen. Das Verhältnis von Nation und Staat beiderseits des Atlantiks wird sehr unterschiedlich bleiben. Doch Demokratie und Pluralismus werden als Sockel gemeinsamer Wertvorstellungen stark genug bleiben, nicht zu vergessen, die existentiellen wirtschaftlichen Bindungen. Nationalbewusstsein und Sendungsbewusstsein sind in Amerika unauflöslich verschmolzen. Dieses Amalgam stellt einen moralischen Anspruch dar, der für Amerika nicht verhandelbar ist. Amerika hat eine fest gefügte Identität. Europa sucht sie. Auch die nächsten Präsidenten werden die Stärkung ihres Landes und seines Einflusses weiter verfolgen. Amerika wird mindestens für die nächsten 20 Jahre die Macht bleiben, deren militärische Überlegenheit weiter wächst.

Seiner globalen Verantwortung entsprechend hat es seine Emanzipation von Europa begonnen. Washington hat gelernt, Europa nicht ernst zu nehmen mit seinem jahrzehntelangen Versprechen, mit einer Stimme zu sprechen. Es konnte und dürfte gar nicht anders, als seinen globalen Interessen gemäß zu handeln. Es hat ein gigantisches Aufrüstungsprogramm mit neuen Weltraum- und Atomwaffen erarbeitet, schon vor dem schrecklichen 11. September 2001 und es danach zu verwirklichen begonnen. Es hat die Solidarität Europas, zum ersten Mal den Bündnisfall zu erklären, mit höflichem Dank und der Entscheidung beantwortet, zwischen „Willigen und Unwilligen, dem alten und dem neuen Europa“ zu unterscheiden. Frankreich, Deutschland und einige europäische Länder reagierten mit der Verweigerung, am Irak-Krieg teilzunehmen. Schließlich setzten sich die USA mit der neuen NATO-Strategie durch. Sie beendet jede Diskussion über die Ausweitung der NATO durch neue Mitglieder und etabliert für das Bündnis die Möglichkeit, für jede Aufgabe weltweit „Willige“ zur Unterstützung zu finden.

Europa wird seine Emanzipation von Amerika der amerikanischen von Europa folgen lassen müssen. Für Beide gilt die menschliche Erfahrung: Wenn sich Kinder von den Eltern emanzipieren, werden sie nicht zu Feinden. Washington darf gar nicht mehr „europe first“ denken. Europa muss es. Solange sich Europa seine Selbstbestimmung nicht nimmt, wird es nicht selbständig werden.

Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges war die amerikanische Politik auf Konfrontation zur Sowjetunion eingestellt. Die Supermacht wollte die unbezweifelbar einzige bleiben. Das Ziel wieder unverwundbar zu werden, nachdem die Sowjetunion ihre strategischen Raketen in Dienst gestellt hatten, nun aber eben durch Rüstungsbegrenzungsverhandlungen mit der Sowjetunion, dann Russland, aber immer gegen Moskau. Obama war der erste Präsident, der die Außen- und Sicherheitspolitik von der Konfrontation zur Kooperation umstellte. Er schuf damit gleichzeitig viele Baustellen, die natürlich nicht in Monaten die Krisenherde befrieden konnten, die in Jahrzehnten gewachsen waren. Sein größter Erfolg wurde der Vertrag zur Verminderung der strategischen Waffen um ein Drittel, den er mit Medwedew vereinbarte und der noch ratifiziert wurde, obwohl er seine parlamentarische Mehrheit verlor. Die Zustimmung der Republikaner für eine gemeinsame Regelung der gegen Russland geplanten Raketenabwehr, noch aus der alten Zeit der Konfrontation stammend, ist stecken geblieben. Erst nach den amerikanischen Wahlen wird abzusehen sein, ob die Welt sich auf den Rückfall in Konfrontation einstellen muss, nicht zuletzt in Europa und Deutschland.

In Russland erreichte Jelzin mit der Entmachtung Gorbatschows das Ende der Sowjetunion, unvorstellbare Korruption bzw. Bereicherung und das Wort Oligarch bekam seinen Inhalt; Gleichzeitig hörte ich in Moskau den Wunsch, es möge den Menschen noch einmal so gut gehen, wie zu Zeiten Breschnews. Putin stellte den Stolz auf Russland wieder her und empfand, er erhalte für seine Neigung zu Europa besonders für Deutschland und auf sein Werben um konkreten Ausbau der strategischen Partnerschaft nur eine laue Antwort. Nach seiner Wiederwahl zum Präsidenten ist er mit einer Opposition auf der Straße konfrontiert, die das Land noch nie erlebt hat. Ob er sich für die Wiederherstellung der Ordnung entscheiden wird oder vorsichtige Annäherung an bisher systemfremde Pluralisierung ist noch nicht erkennbar. Nicht einmal seine Kinder, vielleicht seine Enkel werden demokratisch in russischer Prägung, jedenfalls nicht im euroatlantischen Verständnis werden. Er versucht, eine politisch-wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den Ländern zu organisieren, die von der Sowjetunion übrig geblieben sind und die nicht in der NATO Aufnahme gefunden haben oder die mit der EU liebäugeln. In der Formierung ihrer globalen Interessen, die Brasilien, Russland, Indien und China, inzwischen in der Abkürzung BRIC bekannt, ergänzt durch Südafrika, findet er sein Land für die Zukunft gut aufgestellt.

Es könnte sein, dass Russland der erste Staat vielleicht nach China wird, der mit dem neuen Phänomen unseres Jahrhunderts, dem grenzenlosen unkontrollierbaren Netz umgehen muss. Putin steht für seine Gesellschaft vor ähnlich unüberschaubaren Konsequenzen wie sie bei uns überlegt werden, wenn über die Piraten diskutiert wird, natürlich mit dem kleinen Unterschied zur gelenkten Demokratie zwischen Merkel und Putin. Dieses weltweite Netz mit seinen Handys wird unser Leben weiter erleichtern, die Kriminalität und die Spionage steigern und neue Möglichkeiten zur Gewaltanwendung öffnen, die neue strategische Überlegungen verlangen, auch neue Waffen. Länder, die über die nötigen Voraussetzungen verfügen, arbeiten an aufregenden technisch neuen Waffensystemen. Der menschliche Erfindungsgeist gönnt sich keinen Urlaub.

Wie platziert sich Europa in dieser Welt. Jedenfalls ganz unzeitgemäß. Die 2008 in Amerika geplatzte Blase künstlichen Geldes und die danach ausgelöste Finanzkrise hat die Regierungen dermaßen in Atem gehalten, dass nicht einmal Luft blieb, den Spielraum des Vertrages von Lissabon für Außen- und Sicherheitspolitik zu nutzen.

Das Ziel wohin wir wollen, darf nicht verloren gehen; das Bewusstsein dafür darf nicht erlöschen, woher wir kommen, also die Quelle, Motive und Umstände für die größte Erfolgsgeschichte nach dem Krieg. Jean Monnet, der Franzose, der aus Amerika zurückkam, zeigte, was ein einzelner Mensch ohne Amt und Macht zustande bringen kann. Er überzeugte über Parteigrenzen hinweg die politischen Kräfte in den sechs Gründungsstaaten und gewann das Gewicht, etwas bisher Einmaliges zwischen Staatenbund und Bundesstaat zu schaffen. Obwohl dieses bis heute noch undefinierte Gebilde am Anfang ein Kind des Kalten Krieges war, das unter dem Schutz der Vereinigten Staaten stand, zweifelte niemand, dass nur durch Bündelung seiner nationalen Kräfte ein verteidigenswerter Organismus entstehen kann. Hebung des Lebensstandards und militärischer Schirm ergänzten sich. Der Schlüssel dafür hieß: Die Übertragung nationaler Souveränitäten auf Europa.

Daran gemessen sind die heutigen Diskussionen schrecklich. Da wird von unterschiedlichen Banken geredet, in verwechselbaren Versalien abgekürzt, die Rettungsschirme nacheinander oder auch zusammen aufspannen sollen. Private Ratingfirmen degradieren die Kreditwürdigkeit von Staaten.

Unvorstellbare Riesensummen von Hunderten von Milliarden können durch Finanzierungsmechanismen erhöht werden, um das nötige Sparen durch Wirtschaftsbelebung zu ergänzen. Ich verstehe das nicht und habe aufgehört, es im Einzelnen noch verfolgen zu wollen. Außerdem bin ich überzeugt, es geht 99 % meiner Mitmenschen genauso. Das soll Europa sein? Ein Begriff für wenige Fachleute, die angeblich Alles im Griff haben ohne sicher zu sein, wann, wie und zu welchen und wessen Kosten das glücklich enden soll? Und was haben die Undurchschaubarkeiten mit Demokratie zu tun? Zurzeit findet Europa in einer für die große Mehrheit der Bevölkerung abstoßenden Form statt, wirksamer Dünger für Politikverdrossenheit.

Die deutsche Entspannungspolitik hat gewaltige Veränderungen in Europa erbracht. Sie konnte nur gelingen in Respektierung der übergeordneten und unkündbaren Rechte der Sieger nach der bedingungslosen Kapitulation. Mit ihr ging die Souveränität des Reiches vollständig auf die Vier Mächte über. In der Realität haben die beiden Präsidenten, Georg Bush, der Ältere und Michael Gorbatschow die sicherheitspolitische Struktur für die Deutsche Einheit vereinbart und entschieden. Sie allein hatten die Macht, ohne Paris, London, Bonn und Berlin fragen zu müssen, nicht nur Kurz- und Mittelstreckenraketen zu beseitigen, die sie gegeneinander in Stellung gebracht hatten; sie schufen die Voraussetzungen für die bedeutendste Reduktion konventioneller Waffen in der Geschichte. Sie haben dabei nicht versucht, sich über Ideologie, Demokratie und Menschenrechte zu verständigen. So ist Europa zu einem Kontinent geworden, der für niemanden mehr bedrohlich ist, unfähig zur selbständigen Kriegsführung. Die Bereitschaft für Europa zu sterben wird von seinen Bewohnern nicht verlangt. Unser Kontinent ist in den Windschatten geraten und gestattet den beiden Großen, sich Asien zuzuwenden.

Dort bündeln sich nationale, religiöse, ethnische Probleme mit Rohstoffinteressen und einer Aufrüstung, die nur durch die jeweils finanziellen Grenzen gehemmt werden. Dazu haben sich aufstrebende Schwergewichte globaler Dimension entwickelt, die über Atomwaffen verfügen oder vielleicht anstreben. Diese Mischung ist hochexplosiv und ganz unvergleichbar kompliziert gegenüber der Situation, als zwei Supermächte verantwortungsbewusst ihren atomaren Schirm über Europa aufgespannt hatten und dafür sorgten, dass ihre Schutzbefohlenen folgsam blieben. Dieser Schirm zwischen Amerika, Europa und Russland mit seinem strategischen Gleichgewicht der gesicherten Zweitschlagsfähigkeit funktioniert noch immer.

Das war und ist auch das Resultat der ungeschriebenen Vereinbarung zwischen Chrustschow und Kennedy 1961, den Status quo des geteilten Berlin, des geteilten Deutschland und des geteilten Europas zu bewahren und jeder Versuchung zu widerstehen, das strategische Gleichgewicht durch Gewaltanwendung zu gefährden. Dieses gemeinsame Interesse, Frieden durch Stabilität, dominierte sogar in der Kuba-Krise. Seit Kennedys Wort „Ich bin ein Berliner“ gab es keine gefährliche Krise mehr in unserem Teil der Welt.

Nun hat Obama in Australien die Erklärung abgegeben: „Amerika ist hier, um hier zu bleiben.“ Man kann nur wünschen, dass dieses Wort die gleiche Stabilitätswirkung für Asien entfaltet. Das setzt voraus, dass Jeder der zahlreich Beteiligten seine unterschiedlichen Werte, seine ideologischen Überzeugungen, seine Vorstellung von Demokratie, Menschenrechten und Freiheit behalten kann, solange er gegen den Nachbarn keine Gewalt anwendet. Was für Europa galt, gilt erst recht für Asien: „Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist Alles nichts.“

Es hat in den letzten 500 Jahren mehrere weltpolitische Gewichtsverlagerungen gegeben. Wir erleben eine weitere. Das Zeitalter der Euro-Atlantischen Weltordnung ist vorbei. Sie hinterlässt einen Kontinent mit einer beispiellosen Erfolgsgeschichte und einer erstaunlichen Unfähigkeit, sein Versprechen zu erfüllen, mit einer Stimme zu sprechen und global handlungsfähig zu werden.

Martin Schulz hat kürzlich die Reihe der Reden zu Europa im Willy-Brandt-Haus eröffnet. Seiner ausgewogenen Analyse ist durchaus zuzustimmen. Das Parlament hat eine Reihe neuer Kompetenzen gewonnen, die in den Mitgliedsstaaten nur unzureichend in das öffentliche Bewusstsein gedrungen sind. Es gibt unbestritten mehr europäisches Recht, das die nationalen Parlamente auf die Gemeinschaft übertragen haben. Der Präsident des Europäischen Parlaments drängt und kämpft mit sichtbarem Erfolg für größere Beachtung und Ausweitung dieser Rechte und stößt dabei auf die Grenzen.

Zum einen gibt es keine europäische Öffentlichkeit. Die so genannte öffentliche Meinung ist ganz überwiegend auf die jeweilige Lage in den einzelnen Nationalstaaten orientiert. Zum anderen erinnern Bemühungen, das zu ändern, an die Arbeit des Sisyphos. In der Malaise seiner Struktur steht das Parlament nicht nur dem Europarat der Regierungschefs gegenüber, die politisch das entscheidende Wort haben, sondern auch dem riesigen Apparat in Brüssel, der zuweilen ein bürokratisches Eigengewicht gewonnen hat. In diesem Dreieck repräsentiert das Parlament heute die Situation des Mangels an Demokratie. Von einem voll entwickelten parlamentarisch-demokratischen System ist Europa noch weit entfernt. Zu der Undurchsichtigkeit, die seine Bürger abschreckt, kommt noch die Warnung unseres Bundesverfassungsgerichts, das die weitere Übertragung von Hoheitsrechten auf Europa nicht hinnehmen würde, wenn damit ein Stück demokratischer Kontrolle verloren ginge, die zurzeit beim Bundestag liegt.

Henry Kissinger hat vor Jahrzehnten moniert, dass er keine Telefonnummer für Europa hat. Er hat darunter nicht gelitten. Heute hat er wenigstens drei, die des belgischen Präsidenten, des portugiesischen Präsidenten der Behörde und die des deutschen Präsidenten des Parlamentes. Ich weiß, dass er mit den Regierungschefs oder einzelnen Persönlichkeiten telefoniert, wenn er sich über die Dinge in Europa informieren will. Höchstwahrscheinlich wird er auch nicht zum Hörer greifen, um mit der britischen Außenministerin der EU zu sprechen. Und wie werden sich die Botschafter verhalten bei den Vereinten Nationen oder anderen internationalen Organisationen? Werden sie Weisungen der Engländerin, des Belgiers oder des Portugiesen folgen? Der Deutsche kann gar keine erteilen. Im Zweifel wohl denen ihrer nationalen Regierungen. Soviel zum Zustand der europäischen Handlungsfähigkeit.

Ihre Vertiefung stößt auf Sorge, die Entwicklung könne zur Renationalisierung der Debatte führen. Die Nationalstaaten haben gewollt und ungewollt Kompetenzen verloren und werden sie weiter verlieren. Sie können der klassischen Pflicht nicht mehr genügen, ihren Bürgern Sicherheit und Wohlstand zu garantieren. Sie können sich der Globalisierung nicht verweigern, die übernationale Bündelungen erzwingt. Gleichzeitig mit ihrem Machtverlust sind die Nationalstaaten unentbehrlich geblieben. Sie stellen etwas dar „von der Vergangenheit, die nicht vergeht“. Die Geschichte hat sie zu Bastionen der Demokratie und zu Bewahrern von Menschen- und Bürgerrechten gemacht. Nur sie können dafür sorgen, dass bei der Übertragung von Kompetenzen auf die größere Gemeinschaft auch dort die Demokratie Platz greift. Nur sie können dafür eintreten, dass die Kommunen, Regionen, Länder einen überschaubaren Entscheidungsraum behalten. Nur sie haben die Kompetenz, welche Kompetenzen an ein übernationales Organ abgegeben werden. Nur sie entscheiden über die Stärke ihrer Streitkräfte und wann, wie lange und wo sie eingesetzt werden. Sie müssen klären, wie die unterschiedliche Dichte der Gemeinschaft zwischen der Eurozone und der Nichteurozone gehandhabt werden soll. Sie bleiben verantwortlich für Bildung und Ausbildung und ein gesellschaftliches Klima in ihren Ländern, in dem sich ihre Menschen zuhause und geborgen fühlen, also spüren, dass Lebensqualität mehr ist als materieller Wohlstand.

Vor knapp 50 Jahren (1966) hat Willy Brandt formuliert: „Kein Volk kann auf Dauer leben ohne sein inneres Gleichgewicht zu verlieren, …wenn es nicht ja sagen kann zum Vaterland. Die Nation bleibt eine primäre Schicksalsgemeinschaft. Sie bleibt die Hülle unserer inneren Ordnung, wahrscheinlich noch für lange Zeit, selbst im Zeitalter der Großraumverbände“. Die Völker Osteuropas, die Mitglieder der EU geworden sind, verdanken der erhaltenen Identität ihrer Nationen, dass sie die Erfahrungen Westeuropas bestätigen. Der Nationalstaat wird schwächer und bleibt unentbehrlich.

Stolz ohne Überheblichkeit, das kann die Haltung des vereinten Deutschland zu seinem nationalen Staat sein; nicht anders als unsere Nachbarn, die vorleben, dass Nation und Europa kein Widerspruch ist.

Deutschland ist hineingewachsen in eine Rolle, die es nicht erstrebt hat. Geographie und Wirtschaftskraft haben uns zur stärksten Nation gemacht, und zwar in einer Situation, in der die ungelöste Finanzkrise für eine noch nicht überschaubare Dauer Konzentration und Kraft verlangt und gleichzeitig innerhalb Europas zwischen Euro- und Nichteurozone auch Orientierung auch international gefragt ist. Jedes dieser Themen würde normalerweise eine Regierung voll beanspruchen. Aber die Geschichte präsentiert sie neben- und miteinander. Führung wird erwartet und gefürchtet.

Das Dilemma kann in zwei Sätzen ausgedrückt: Der des polnischen Außenministers Sikorski „Ich fürchte Deutschlands Macht weniger als deutsche Untätigkeit“ und der einer Erfahrung, die nicht noch einmal bewiesen werden muss: „Eine deutsche Dominanz könnte Europa nicht ertragen“. Das bedeutet, unserer Verantwortung entsprechend überzeugen zu müssen. Dazu ist Fingerspitzengefühl nötig. Das war im politischen Deutschland sehr oft Mangelware.

Wer führen will, weil er muss, darf sich nicht fürchten. Auch nicht vor Widersprüchen oder Verdächtigungen. Wer den Mut, nein zu sagen nicht aufbringt, kann nicht führen. Deutschland braucht keine Angst vor sich selbst zu haben. Das Ziel der Befreiung Europas kann nur erreicht werden, wenn es nicht eigennützig missbraucht wird und wenn es latentes Misstrauen abbaut.

Die Handlungsfähigkeit Europas setzt die Erkenntnis voraus, dass der deutsch-französische Motor nicht mehr reicht. Dieses Bild stammt aus einer überholten Ära des Ost-West-Denkens. Die Figur des Weimarer Dreiecks wird aber erst gestaltungsfähig werden, wenn Polen Mitglied von Euroland wird. Sein Beitritt wird auch garantieren, dass die Selbstbestimmung Europas nicht zum Antiamerikanismus wird.

Nachdem die Bedrohung aus dem Osten beendet war, hatte die NATO friedlich ihren Zweck erfüllt. Ihr deutscher Generalsekretär Wörner sorgte sich über ein mögliches Vakuum und wies den Weg zu neuen Aufgaben, nämlich der Erweiterung. Sie wurde trotz beruhigender westlicher Erklärungen in Moskau als konfrontativ empfunden, zumal sie plötzlich vor den Toren von Petersburg auftauchte und um Kiew warb. Schon 1997 analysierte Zbig Brzezinski in seinem Buch „Die einzige Weltmacht“ die neuen Faktoren, die Amerika in Asien, China, Indien, in Nahen und Mittleren Osten berücksichtigen müsse und könne, denn Westeuropa bleibe sicherheitspolitisch ein Protektorat. Das Instrument waren Stützpunkte und die NATO. Sie wurde und wird mit Amerika in einem multilateralen Mantel gleichgesetzt. Das ist ja nicht falsch. Selbständige supernationale Entscheidungsfähigkeit hat sie nicht bekommen.

Aber auch die NATO hat sich dem Wandel neuer geostrategischer Realitäten nicht entziehen können. Sie ist nicht nur international und weltweit tätig geworden, wobei Deutschland zahlenmäßig das zweitstärkste Kontingent von Streitkräften stellte. Sie hat die Probleme überwunden, die jede neue Mitgliedschaft politisch aufwarf. Mit ihrer neuen Doktrin hat Amerika durchgesetzt, dass die Allianz neue Kompetenzen für Energie, Internetmissbrauch und andere Zukunftsfelder ausbaut und weltweit, wie für die jeweilige Aufgabe erwünscht, „Willige und Fähige“ suchen kann. Sie konnte verkraften, dass schon bisher schon nicht alle Mitglieder an allen Aktionen teilgenommen haben. Aber sie verwässert ihre ursprüngliche Verteidigungsaufgabe weiter und wird zu einem Organ der Diskussion über sicherheitspolitische Probleme, in der jedes Mitglied entscheidet, ob und wie es sich an der Unterstützung oder Behauptung weltweiter amerikanischer Interessen beteiligt. Die NATO hat an Zusammenhalt und Geschlossenheit verloren.

Auch wenn das Bündnis heute keine Verteidigungsaufgaben für Deutschland hat, bleibt es unentbehrlich. Es stellt die völkerrechtliche Grundlage für das amerikanische Engagement in Europa dar. Während die Sowjetunion 1975 in Helsinki akzeptierte, dass man Sicherheitsfragen in und für Europa nicht ohne Amerika regeln kann, empfinden es heute fast alle Nachbarn als willkommene Garantie dafür, dass Deutschland nicht verrückt spielen kann. Das ist eine vorzügliche Grundlage für Stabilität, gegen deutsche Überheblichkeit und deckt gleichzeitig gewissermaßen außerdem die europäische Entwicklung zur Selbständigkeit ab.

Man muss ja nicht gleich so weit gehen, wie Frau Merkel, die kürzlich in Davos gefragt wurde, wie sie sich die EU in 30 Jahre vorstelle. Da sprach sie von der Kommission als Regierung, vom europäischen Parlament als erster Kammer und einer Runde der Regierungschefs als zweiter Kammer. Das wären die Vereinigten Staaten vom Europa. Das wäre Europa als Pol in der multipolaren Welt. Das amerikanische Interesse daran kann nicht groß sein. Aber wer der Führungsmacht nicht nein sagen will, kann nicht selbst bestimmt werden.

In der Logik liegt eine europäische Armee, die selbständig handlungsfähig und militärisch glaubwürdig unsere Interessen verteidigen kann, die über die Interessen im Weltmarkt hinausgehen. Diese Armee kann nur konventionell sein. Frankreich und England, werden die Entscheidung über ihre Atomwaffe behalten und ihre Zusammenarbeit auf der Basis ihres Vetorechts in den Vereinten Nationen pflegen. Eine europäische Atomwaffe wird es nicht geben. Die Feststellung de Gaulles gilt immer noch: „Kein Staat teilt die Entscheidung über den Einsatz einer Waffe, die das Schicksal der eigenen Nation betrifft.“ Sie gilt für Amerika wie Russland, China und Andere, sogar Israel. Alle Befürchtungen sind gegenstandslos, die französische und britische Atomwaffe verträgt sich nicht mit einer europäischen konventionellen Armee.

Sie kann nach Lage der Dinge wohl zunächst nur in der Gruppe der Euroländer entwickelt werden, verbunden mit der Erklärung, dass die Beteiligung anderer EU-Staaten erwünscht ist.

In Heiligendamm haben die Industriestaaten in der Formation G8 getagt und großzügig am Schluss die Vertreter der großen Schwellenländer dazu genommen. Das Treffen fand 2007 statt. Heute, nur fünf Jahre später sind Zusammenkünfte der Form der G20 selbstverständlich geworden. Nun mahnen mehrere Schwellenländer, Europa solle seine Schularbeiten machen. Die stellvertretende chinesische Außenministerin FU-YING stellt freundlich fest: „Europa muss das Lernen lernen“. Und BRIC überlegt, ob und unter welchen Bedingungen es sich an der Hilfe zur Lösung der Eurokrise beteiligt.

Europa weiß noch nicht einmal, ob Zusammenarbeit als Kern seiner Stärke soweit durchgesetzt werden kann, dass es das Schlüsselwort zur Bändigung der globalen Probleme wird. Wer kann mit Bestimmtheit sagen, ob Europa die Kraft finden würde, nein zu sagen, wenn ein republikanischer Präsident einen Kurs der Konfrontation gegen Russland einschlagen würde? Einen Rückfall in Konfrontation mitzumachen, würde die EU wahrscheinlich nicht geschlossen verweigern.

Bleibt Europa ein Protektorat, wenn die USA zwei Brigaden abziehen, England zwei Brigaden herbringen will, die Amerikaner sich künftig an der schnellen Eingreiftruppe der NATO beteiligen und dafür sorgen wollen, das Rammstein, ein unangefochtener amerikanischer Luftwaffenstützpunkt, nun zum zentralen Kommando der NATO umgewidmet wird, zuständig für die gesamte Raketenabwehr auch außerhalb Deutschlands, natürlich unter amerikanischem Kommando? Damit würde unser Land im Spannungsfall erstes Ziel eines atomaren Präventivschlages werden. Es fiele schwer, über strategische Partnerschaft mit Russland noch zu sprechen. Alle Bemühungen werden dann gegenstandslos, dem NATO-Russland-Rat auch Entscheidungsbefugnisse zu geben und endlich den unzeitgemäßen Zustand zu beenden, sich gegenseitig durch einen nuklearen Erstschlag zu bedrohen. Abschreckung unter Partnern der Gemeinsamen Sicherheit in Europa macht keinen Sinn. Welchen sachlichen Gehalt bekämen die Versicherungen Hillary Clintons noch, Europa bleibe für Amerika der Partner der ersten Wahl, während Washington und Moskau die Partner der strategischen Stabilität in Europa bleiben?

Ich bitte um Verständnis, wenn ich heute durch die begrenzte Zeit für viele Themen nur Überschriften gebe. Dazu gehört auch die Frage, wieweit unsere Jugend die Sorge der Alten überhaupt noch versteht. Wie weit die vierte Generation nach dem Krieg, für die Europa selbstverständlich geworden ist, ihr Leben auf ein globales Umfeld einstellt mit dem Irrglauben, dass Internet könne Orientierung geben. Das Alles wird vertieft zu diskutieren sein.

1981 habe ich als Bundesgeschäftsführer versucht, die Programmatik der SPD auf einen Satz einzudampfen. Das Ergebnis hieß: „ Wir wollen eine Gesellschaft, in der jeder Mensch seine Fähigkeiten in Würde voll entfalten kann“. Vor dreißig Jahren konnte das noch so formuliert werden. Heute nicht mehr. Dieses Ziel ist national nicht mehr erreichbar. Es kann nur in und mit Europa erstrebt werden.

Ein Kern des uneingelösten Versprechens Europas liegt in der Illusion, es erfüllen zu können mit seinen zurzeit 27 Mitgliedern. Wer 27 zur Bedingung macht, verhindert Fortschritte der Handlungsfähigkeit. Wer 27 zum magischen A und O erhebt, verdammt Europa zur Fortsetzung seines Mangels, nicht einmal seine Strukturprobleme zwischen Euro- und Nichteuroländern zu lösen. Der Fiskalpakt ist degradiert, nachdem er schon einmal als wichtige Vorstufe der finanzpolitischen Integration gedacht war.

Wenn es nur zu 27 geht, bestimmen nicht nur zwei oder drei Staaten, sondern eben auch Großbritannien die Richtung. Während der vergangenen 60 Jahre hat London erfolgreich und geschickt verstanden, die Erweiterung der EU vor ihrer Vertiefung zu betreiben. Alle Regierungen, konservativ und labourestimmt, haben ihre komfortable Lage erhalten, die Zahl der EU-Mitglieder bis zur Unregierbarkeit zu erweitern, aber die unwiderrufliche eigene institutionelle Bindung an den Kontinent zu vermeiden. London lehnt den Euro ab und ist nicht einmal dem Schengener Abkommen beigetreten.

Die letzten beiden Labour-Chefs haben in aller Form erklärt und bekräftigt, dass sie in außen- und sicherheitspolitischen Fragen souverän entscheiden werden und durch Beschlüsse der EU nicht zu binden sind. Der gegenwärtige Regierungschef geht einen Schritt weiter und hat seine Absicht unterstrichen, Kompetenzen in nationale Entscheidungsgewalt zurückzubringen, „ die zur EU abgetrieben seien“. Natürlich verzichtet er nicht auf den britischen Kommissar in Brüssel, der kontrolliert, dass die EU keine unerwünschten Beschlüsse fasst. Seine gar nicht falsche Diagnose, die EU leide an „Arterienverkalkung“, führt ihn zu der Folgerung, sein Land wolle in der EU bleiben, um „Freihandel und offene Märkte weiter Geltung zu verschaffen“. Seine Ablehnung der Integration nennt er „Flexibilisierung“. Die Sonderbeziehung zu den USA sind ihm unaufgebbar und die volle Integration an den Kontinent unannehmbar. Nach der eleganten Aufgabe der globalen Dominanz an die USA durch Churchill stellt Cameron die Modernisierung der traditionellen „balance of power“-Politik dar. Praktisch behauptet er diese Position, durch ein Veto die internationale Handlungsfähigkeit der EU zu verhindern. Man muss wohl davon ausgehen, dass England diese komfortable Lage auch weiterhin interessant findet, auf der einen Seite der EU internationale Handlungsfähigkeit zu verweigern und auf der anderen Seite die britische spezial relationship zu pflegen, was es für Amerika sogar noch wertvoller machen könnte. Meine vor einigen Jahren formulierte Auffassung muss ich korrigieren, die EU sollte die Kraft finden, England vor die Frage zu stellen, ob es sich unwiderrufbar an den Kontinent bindet. England hat entschieden und kein Nachfolger in der Downing Street Nr. 10 wird die Tradition der letzten 60 Jahre revidieren.

Wenn Europa sich befreien will, muss es handeln. Ohne England müssen die Staaten der EU, die den Weg beschreiten wollen, den Lissabon zur gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik gewiesen hat. Er führt zu einem selbstbestimmten europäischen Pol in der interpolaren Welt.

Gemessen am heutigen Zustand könnte dieser Standpunkt unzeitgemäß erscheinen. Es passt aber in eine Situation, in der wir die Wahlen in Frankreich und in den USA Ende dieses Jahres und in Deutschland im kommenden Herbst 2013 vor uns haben. Keiner der drei heutigen Amtsinhaber an der Spitze kann sicher sein, nach den nächsten 24 Monaten noch auf demselben Stuhl zu sitzen. Jeder Wechsel verändert das Gleichgewicht und die politische Landschaft. Deshalb sind alle drei Persönlichkeiten vorsichtig, konzentrieren sich auf ihre Wiederwahl und wollen keine Fehler machen. Also Entscheidendes für ihr Verhältnis und für Europa ist nicht zu erwarten. Also haben wir Zeit, die Perspektiven der EU über die Tagesprobleme hinaus zu erörtern, um ab 2014 zu entscheiden.

Rede am 16. 04. 2012 in Berlin bei der Friedrich-Ebert-Stiftung

 

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