von Siegfried Heimann

Am 29. November  2014 jährt sich zum zweiten Male der Todestag von Klaus Schütz. Ein Grund mehr, an einen Berliner Regierenden Bürgermeister zu erinnern, der – wie schon sein unmittelbarer Vorgänger Heinrich Albertz – stets und in mancher Hinsicht zu Unrecht, im Schatten von Willy Brandt stand.
Denn auch Klaus Schütz trieb ein Thema besonders um, seit er in Berlin auch politische Verantwortung trug. Hans Bräutigam, eine Zeitlang Ständiger Vertreter der Bundesregierung  in Ostberlin brachte es in seinen Erinnerungen auf den Punkt. Er schrieb, dass es immer eine enge Verquickung von Berlin-Fragen und Deutschlandpolitik gegeben habe. Deshalb sei für ihn der Berliner Senator für Bundesangelegenheiten in den siebziger Jahren stets ein wichtiger Partner bei der Koordinierung von Deutschlandpolitik gewesen.


Das freilich galt von Anfang an, vor allem aber seit Beginn der sechziger Jahre, als am 13. August 1961 die alten, liebgewordenen, meist an Sonntagen verbreiteten Vorstellungen über die Deutschlandpolitik der Nachkriegszeit an eine Mauer geraten waren. Neue Ideen waren damals gefragt und sie wurden gefunden: das 1. Passierscheinabkommen zu Weihnachten 1963 war ein Ergebnis davon. Der damalige Senator für Bundesangelegenheiten hatte seinen Anteil daran.   
Von Dezember 1961 bis November 1966 hieß der Berliner Senator für Bundesangelegenheiten Klaus Schütz. Er war in dieser Eigenschaft zugleich auch der Bevollmächtigte des Landes Berlin bei der Bundesregierung. Er war darüber hinaus ein wichtiges Mitglied einer „Vierer-Bande“, wie es bald hieß, um Willy Brandt, die diese neuen Ideen in der Deutschlandpolitik zu finden suchte. Neben Klaus Schütz gehörten ihr Dietrich Spangenberg an, seit 1966 als Nachfolger von Klaus Schütz Senator für Bundesangelegenheiten; Heinrich Albertz, 1967 als Nachfolger von Willy Brandt nur für ein Jahr Regierender Bürgermeister und Egon Bahr, 1960 bis 1966 Leiter des Presse-und Informationsamtes Berlin und 1967 Nachfolger von Klaus Schütz (mit einer etwas anderen Amtsbezeichnung) Leiter des Planungsstabes im Auswärtigen Amt beim Außenminister Willy Brandt.  
Wenn also über Deutschlandpolitik und über Berlinpolitik zu reden ist, dann ist auch über Klaus Schütz zu sprechen. Einige biographische Daten zu Klaus Schütz können helfen, auch den Politiker Schütz besser verstehen zu lernen:
In Heidelberg 1926 geboren, wuchs er seit 1936 in Berlin auf, genauer gesagt: in Friedenau. Er schrieb später: „Seitdem ist Berlin der Mittelpunkt meines Lebens, ganz gleich, wo ich sonst gelebt habe.“ Er besuchte das renommierte Paulsen-Realgymnasium in Berlin-Steglitz, war Pimpf und auch in der Hitlerjugend (ein biographisches Detail, an das er sich als Botschafter in Israel schmerzhaft erinnern musste). Die Schule konnte er nicht normal abschließen, nach dem sogenannten Notabitur mit „Reifevermerk“ verlangte der nazistische Eroberungskrieg seinen Tribut. Er musste Flakhelfer im Norden Berlins sein, kam zum Reichsarbeitsdienst bei Güstrow  und wurde  auch noch kurz vor Kriegsende Soldat. In Italien wurde er schwer verwundet, seine rechte Schulter war zerschossen, sein rechter Arm blieb gelähmt. Das führte später zu peinlich-dümmlicher Journalistenschelte: Warum er wohl den Bundespräsidenten mit der linken Hand begrüße und die rechte Hand sogar in der Tasche behalte.
Er kehrte nach Berlin zurück und  begann an der Humboldt Universität, später an der Freien Universität zu studieren. Dazwischen lag ein Studienaufenthalt an der Harvard Universität in den USA. Das Studienprogramm war übrigens gedacht für „Young Political Leader“.

Die "radikale Phase"

Er trat noch 1946 in Berlin in die SPD ein, am 28. April  - wenige Tage nach der durch Zwangsvereinigung gegründeten SED. Er machte schnell Karriere. Das war nicht schwer, wie er später sagte, denn in allen Parteien waren junge Menschen, die sich politisch engagieren wollten, Mangelware. Er war aber damals auch weit links engagiert, Mitglied einer kleinen trotzkistischen Gruppierung. In einem langen Gespräch mit Klaus Schütz, das ich mit ihm 1999 führte,  wollte er sich daran nicht mehr so Recht erinnern. Erst als ich ihm eine kleine Zeitschrift „Der Marxist“, Redakteur Klaus Schütz, zeigte, meinte er: „Ja, damals“. Oskar Hippe, sein politischer Mentor damals, Trotzkist schon seit den 20er Jahren und gefangen bei Hitler und Stalin, meinte später, Klaus Schütz sei 1949 als Trotzkist in die USA gefahren und als Sozialdemokrat zurückgekommen. Klaus Schütz kommentierte das trocken: „Das kann man auch als Lob verstehen“. Es war, wie er erklärte, „seine radikale Phase“ und die Bücher von Trotzki gehörten zur Pflichtlektüre.
Klaus Schütz wandte sich jedoch zunächst der Wissenschaft zu, der Wahl- und Parteienforschung und schrieb unter der strengen Aufsicht von Otto Stammer eine heute noch lesenswerte Studie übe die „Sozialdemokratie in Nachkriegsdeutschland“, die 1955 in einem Sammelband veröffentlicht wurde. Schütz kam damals zu dem Ergebnis, dass „der Kreis von Parteimitgliedern nicht sehr groß ist, der ohne jede traditionelle Bindung seinen Weg zur SPD gefunden hat“. Das galt auch für Schütz selbst. Er war ein “Quereinsteiger“, ein Sozialdemokrat ohne „Stallgeruch“ und hatte dennoch wenig Mühe, in der Berliner SPD politisch Fuß zu fassen.
Bereits 1951 war er Kreisvorsitzender der Wilmersdorfer Jungsozialisten und seit 1953 (bis 1962) Kreisvorsitzender der Wilmersdorfer SPD.  Seit 1954 war er Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses, zunächst nur bis 1957 (und dann wieder seit 1963 bis zu seinem Rücktritt als Regierender Bürgermeister im Jahre 1977) und von 1957 bis 1961 war er Mitglied des Bundestages (als Berliner Vertreter und damit ohne Stimmrecht im Plenum). Eine in der Tat erstaunlich schnelle politische Karriere, die mit ein Hinweis darauf ist, dass junge Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten damals ihre Chance bekamen und wahrnahmen, obwohl die Konkurrenz in der mitgliederstarken SPD groß war – die Berliner SPD hatte Mitte der fünfziger Jahre über 32 000 Mitglieder, davon  noch knapp 7 000 in Ostberlin.

Vertrauter Willy Brandts

Schütz  gehörte bald zum engen Vertrauten von Willy Brandt, den er schon 1950 näher kennenlernte. Er war bald nicht nur ein politischer Weggefährten Brandts, sondern er half sehr tatkräftig mit,  dass Brandt 1957 Regierender Bürgermeister werden konnte. Legendär war sein Einsatz beim „Kippen“ der Mehrheiten in den Abteilungen und in den Kreisen, bis im Januar 1958 zur großen Überraschung des langjährigen Landesvorsitzenden Franz Neumann auf einem Landesparteitag die Mehrheit der Delegierten Willy Brandt zum neuen Landesvorsitzenden der Berliner SPD wählte. Schütz war in den innerparteilichen Kämpfen stets –wie er sagte – „vorneweg und immer zur Stelle“, was ihm auch viel Kritik einbrachte – nicht in Wilmersdorf, wohl aber in meisten übrigen Kreisen der Berlin SPD. Bei der Kandidatur für ein Bundestagsmandat im Jahre 1957 brauchte er sieben Wahlgänge, um auf dem ersten Reserveplatz zu landen. Er rückte erst nach, als Brandt sein Bundestagsmandat wegen der Wahl zum Regierenden Bürgermeister niederlegte.
Ende 1961 wurde Schütz Senator für Bundesangelegenheiten und damit wie kein anderer mit dem ersten Probelauf einer neuen Ostpolitik befasst, nämlich mit den Verhandlungen über eine Passierscheinregelung für Westberliner zu Weihnachten 1963. Zuvor schon war Schütz nicht ganz unschuldig daran, dass Willy Brandt sich in der Partei als Kanzlerkandidat für die Bundestagswahl 1961 durchsetzte. Er schrieb dazu: „Ich kümmerte mich um das, was ich dazu beitragen konnte“. Das „Kümmern“ ist später als das „Wochenende in Barsinghausen“ und als „Demonstration für einen Wechsel in der Politik“ und der Personen in die Parteigeschichtsschreibung eingegangen.
Mit Willy Brandt ging Klaus Schütz Ende 1966 nach Bonn. Unter dem ersten sozialdemokratischen Außenminister Willy Brandt in einer Großen Koalition wurde er Staatsekretär im Auswärtigen Amt. Leider, wie er später oft sagte, nur für ein knappes Jahr. Die Urkunde seiner Ernennung erhielt er am 16. Dezember 1966 in Paris, da Brandt und er sofort zu einem deutsch-französischen Gipfeltreffen reisen mussten. Er war vom ersten Tage an mit den großen Fragen der internationalen Politik befasst und er ging auf in seiner Arbeit. Er schrieb: „Die zehn Monate an der Spitze des Auswärtigen Amtes waren für mich außergewöhnlich interessant und wichtig“.
Und dann kam doch wieder Berlin in sein Blickfeld, überraschend und auch wenig gewollt.  Berlins Regierender Bürgermeister Heinrich Albertz, der Nachfolger Brandts, trat im Herbst 1967 zurück. Angeblich gab es in Berlin keinen Bewerber um das Amt, in Wahrheit waren es eher zu viele. Klaus Schütz wurde von Willy Brandt – gegen den Willen von Herbert Wehner - in die Pflicht genommen. An dieser berlinpolitisch und deutschlandpolitisch wichtigen Schaltstelle wollte Brandt einen engen Vertrauten sehen.
Fast zehn Jahre lang von 1967 bis 1977 war Schütz Regierender Bürgermeister von Berlin, in einer Zeit, in der wichtige Vertragsverhandlungen mit der Sowjetunion, mit anderen Regierungen des Ostblocks und schließlich auch mit der DDR zu einem Abschluss kamen.
Wieder saß er auf einem „Logenplatz“ der Berlin-Politik, musste aber seit Mitte der 70er Jahre merken, dass das auch ein „Schleudersitz“ war. Zumindest hat er seinen Erinnerungen diesen Titel gegeben: „Logenplatz und Schleudersitz“. Seine Zeit als „ Regierender“ war, wie er im Rückblick resümierte, „aufregend und interessant“, aber auch voller schleppender, öder und leerer Phasen. „Sie war hoffnungsvoll und vielversprechend, zumeist aber begleitet von pessimistischen Prognosen und schmerzhaften Rückschlägen. Ich kann nicht sagen, daß ich meine Amtszeit genossen habe. Aber ich möchte sie nicht missen, keinen Augenblick.“ Alles in allem aber ein doch sehr zwiespältiger Rückblick auf seine Berliner Regierungszeit.

Arbeit für Berlin

Viele Probleme hatte Schütz gleich zu Beginn seiner Amtszeit zu bewältigen. Es war die Hochzeit der Studentenbewegung auch in Berlin. Einer Demonstration folgte die nächste. Die Studenten gingen wenig freundlich mit dem neuen Regierenden Bürgermeister um. „Brecht dem Schütz die Gräten, alle Macht den Räten“ war einer der dümmsten Sprüche, die kursierten. Gegendemonstrationen wurden organisiert, Studenten wegen ihrer langen Haare gejagt und mussten von der Polizei geschützt werden. Dabei kam auch aus dem Munde von Schütz ein Spruch, den er später sehr bedauert hat: „Schaut euch diese Typen an ...“ –oft zitiert seither. Er hat ihn bedauert, weil der Spruch in dieser aufgeregten Zeit wenig zum Abbau der Erregungen beitrug, noch mehr aber hat er ihn bedauert, weil er damals und später stets überzeugt war, dass Menschen nicht nach ihrem Äußeren beurteilt und in Schubladen gepackt werden dürfen.
Klar war dennoch, dass Schütz die Auseinandersetzung nicht scheute und dabei auch Mut bewies. Denkwürdig bleibt sein Auftreten im Audimax der Freien Universität. Inmitten von tausenden Studierenden stand er allein hinter dem Rednerpult und erklärte denen, die zuhören wollten, die von ihm geplante Hochschulpolitik. Davon zeugen nicht wenige Fotos aus jener Zeit. Vergessen wird freilich, dass Schütz auch an anderen Orten großen Mut bewies. Vor einer großen Versammlung der Vertriebenen erklärte er ohne Wenn und Aber, dass Oder und Neiße die Westgrenze Polens bilden – er wurde niedergeschrien und konnte seine Rede nur mühsam beenden.
In der Mehrheit der Berliner Partei, die ihn gewählt hatte, konnte er sich nur durchsetzen, weil er manche politische Entscheidungen mittrug, die er für falsch hielt. So stimmte er schließlich nach längerem Zögern dem Ausschluss von Harry Ristock und Erwin Beck aus der Partei zu – und wurde prompt dafür auf dem Nürnberger Parteitag von der Bundespartei abgestraft. Bei der Wahl zum Parteivorstand fiel er durch. Erst nachdem er 1970 auch Berliner Landesvorsitzender geworden war, wurde er auch Mitglied des Parteivorstandes.
Es gab in den folgenden Jahren Höhen und Tiefen in seiner politischen Arbeit für Berlin. Der Höhepunkt war ohne Zweifel der Abschluss der verschiedenen Verträge und Abkommen, die –wie es nüchtern hieß- den Status der Stadt Berlin betrafen und die in Wahrheit die Lebensqualität der Berliner verbesserten –freilich nur der Westberliner. Der Transit von und nach Westberlin war nun immer noch nicht ohne Probleme möglich, aber verglichen mit den Schikanen und der Willkür auf Straßen und Autobahnen zuvor eine deutliche Erleichterung, für die die Berliner ihm immer dankbar blieben.
Tiefpunkte in seinem politischen Leben erlebte Schütz dann in der Zeit nach den Wahlen im Frühjahr 1975. Die sogenannte „Konzentration der Kräfte“, KdK, verlangte ihren Preis. Es begann mit der Entführung von Peter Lorenz am 27. Februar 1975. Richtschnur bei seinem Handeln in dieser Situation war, dass -so Schütz - das „Lebensrecht des einzelnen zu keiner Zeit und in keiner Lage disponibel“ sein darf. Bei den wenige Tage später erfolgenden Wahlen verlor die SPD nicht nur erneut, wie schon 1971 Stimmen, sie wurde auch erstmals in der Nachkriegszeit nur zweitstärkste Partei hinter der CDU.  Die Zahl der Mandate erzwang die  Koalition mit der FDP. Die Niederlage war offensichtlich und: Schütz war schuld, so hieß es nicht nur in der Presse, sondern auch – hinter vorgehaltener Hand – in der Partei.
Es gab mächtige innerparteiliche Gegner, die sich freilich nicht offen bekannten. Im Munzinger Archiv heißt es: Eine „anonyme SPD-Gruppe“ habe seinen Rücktritt gefordert. Die „Filzokratie“ ging um, Skandale und Affären unter SPD-Beteiligung waren Tagesgespräch, lieferten Schlagzeilen für die Presse und Schütz gab man die Schuld. Er schaffte die Wiederwahl zum Landesvorsitzenden im Jahre 1976 nur mit einer denkbar knappen Mehrheit. Nach seinem Rücktritt zeigte es sich, dass es nicht besser wurde. Sein Nachfolger Dietrich Stobbe konnte ein Lied davon singen. Und: Es konnte offenbar nicht an Schütz gelegen haben, dass die Zeiten der absoluten Mehrheiten für die SPD in Berlin vorbei waren, die mit einer kleinen Unterbrechung seit1948 (64%!) solange und vor allem in den sechziger Jahren angehalten hatten. Immerhin hat Schütz damals eingestanden, dass die Zeiten von absoluten Mehrheiten für die Berlin SPD schon seit längerem vorbei seien, realistisch seien höchstens Ergebnisse um die 40% -  wohlgemerkt: er sprach von 1975. Am 2. Mai 1977 trat Klaus Schütz vom Amt des Regierenden Bürgermeisters zurück, er hat sich, wie er zurückschauend weder deprimiert noch traurig sagte, „an diesem Tag von der praktischen Politik überhaupt verabschiedet“. Die Aufgabe seines Mandats im Abgeordnetenhaus und der Rücktritt als Landesvorsitzender war nur noch logische Konsequenz aus dieser Einsicht.
Aber Schütz hat auch nach seinem Rücktritt noch wichtige politische Aufgaben übernommen. Von August 1977 war er bis 1981 Botschafter in Israel.  Seine Zeit in Israel war für Schütz besonders wichtig, zumal er – der Pimpf und  Hitlerjunge - dort auch gute Freunde fand. Einer davon war Teddy Kollek, der legendäre Bürgermeister von Jerusalem.
Seit 1981 war Klaus Schütz Intendant der Deutschen Welle und danach bis 1993 Direktor der Landesanstalt für Rundfunk in Nordrhein-Westfalen. Seit 1994 lebte und arbeitete er wieder in Berlin. Obwohl in Heidelberg geboren, und oft für längere Zeit in viele Ecken der Welt unterwegs, sah er in Berlin immer seine Heimatstadt. Oder wie er es ausdrückte: „Ich bin also ein Berliner, ohne Wenn und Aber“. Und hier in Berlin ist er vor zwei Jahren gestorben. Er war und bleibt ein Berliner.

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