von Lutz Götze

Günter Grass ist tot. Er war ein Glücksfall für die Deutschen, die deutsche Literatur und die Welt. Grass zeigte, dass in der Sprache, die die Unmenschen vergewaltigt hatten, wieder gedichtet werden konnte: Gedichte waren, trotz Auschwitz, wieder möglich; Romane und Stücke ebenso.

Grassens Stil war einzigartig. Sein Erstlingsroman Blechtrommel war ein Paukenschlag im literarischen Kosmos: Aus dem sprachlichen Reichtum des Schelmenromans Grimmelshausens und der realistischen Schreibweise Döblins schöpfend, schuf er eine gleichermaßen konkret-plastische, rauschhafte wie obendrein fiktionale Prosa, die im Nachkriegsdeutschland, im doppelten Wortsinne, unerhört war. Die Geschichte um den nicht wachsen wollenden Oskar Matzerath war nicht nur Zeitgeschichte, sondern ein vehementer Angriff auf die Heuchelei der jungen Bundesrepublik, in der Nazi-Verbrecher ungestört weitermachen konnten.

Der Roman wurde über Nacht Teil der Weltliteratur, und es ist nur richtig, dass der vor Jahresfrist verstorbene Kolumbianer Gabriel Garcia Marquez unter jenen Dichtern, die ihn zum ›Magischen Realismus‹ angeregt hatten, Grass an vorderster Stelle nannte.

Grass war ein Multitalent: Als er 1958 nach Paris ging, um die Blechtrommel zu schreiben, war er sich nicht sicher, ob er Maler oder Dichter werden sollte. Er ist beides geworden und geblieben: Die graphischen und bildhauerischen Arbeiten waren ihm nie nur Beiwerk oder Arabeske, sondern häufig der erste Einstieg in das literarische Opus, es dabei inspirierend und bereichernd. Beim Butt und dem faszinierenden Jahrhundertbuch mit der wunderbaren Geschichte zum Jahr des Mauerfalls 1989 wird das unmittelbar evident.

Günter Grass war ein politischer Dichter, der – auch als Ergebnis seiner verführten Jugend – seinen Beitrag für die reformerischen Kräfte links von der Mitte und für die Errichtung einer demokratischen Gesellschaft leisten wollte, die die richtigen Lehren aus dem Terror der Nazidiktatur gezogen hatte. Der in das Exil verjagte Willy Brandt erschien ihm als Inkarnation eines besseren Deutschland: Für ihn und die Espede trommelte Grass und machte sich frühere linke Freunde und ewiggestrige Konservative zum Gegner. Wortgewaltig, häufig auch schroff und belehrend, zugleich aber voll tiefgründigem Humor, zog er durch deutsche Lande. Kritiker bemängelten, das politische Engagement habe seine dichterische Potenz geschwächt. Mit dem Treffen in Telgte und Die Rättin bewies er das Gegenteil, vor allem aber, dass seine Kritiker gern einen Poeten hätten, der weitab vom Weltgeschehen seine Verse schmiedete. Das war Grassens Sache mitnichten. Sein Eintreten wider die Atomkraft, für eine Aussöhnung mit Polen und damit den Verlust seiner Heimatstadt Danzig, für die Rechte von Sinti und Roma, für die Anerkennung von Lesben und Schwulen und für eine Gewerkschaft der Schriftsteller schlugen Pfähle in die bundesdeutsche Landschaft und begeisterten viele der Jungen, sich selbst zu engagieren. Er wurde zum Leitbild des engagierten Dichters. Sein Tod hinterlässt gerade auf diesem Feld eine gewaltige Leere.

Grass war, von vielen unbemerkt, ein eminent sozial denkender Intellektueller: Seine Stiftungen haben vielen jungen Schriftstellern und anderen Menschen geholfen, die Nöte des Alltags besser ertragen zu können.

Sein spätes Bekenntnis, als Siebzehnjähriger in die Waffen-SS eingetreten zu sein und an der Westfront wenige Monate bis zum Kriegsende gekämpft zu haben, hat ihm hämische Kritik der mutierten Moralisten eingetragen. Der Vorwurf, er habe damit so lange gewartet, bis ihm -1999- der Nobelpreis für Literatur zuerkannt wurde, ist schäbig. Grass wollte diesen Schritt eines von der NS-Propaganda verführten Jugendlichen im Rahmen seines literarischen Gesamtwerks und seines unermüdlichen Einsatzes für die junge bundesdeutsche Demokratie gewürdigt wissen: eine vollkommen richtige Entscheidung! Die Springer- Presse und andere Teile der konservativen Öffentlichkeit waren dazu nicht bereit, was ihn mit Bitterkeit erfüllte. Ebenso geschah es mit seinem streitbaren Israel-Gedicht Was gesagt werden muss, das freilich auch Freunde verstörte.

Am Ende seines Lebens trat er noch einmal mit einer Liebeserklärung an die deutsche Sprache vor die Öffentlichkeit. Mit Grimms Wörter zeigte er, wie poetisch, tiefschürfend und wortgewaltig unsere Sprache sein kann, wenn sie der Meister formt: im schroffen Gegensatz zu den Leerformeln und dem Wortgeklingel der Sprache der Politiker und Werbestrategen. Auch dafür gebührt ihm Dank.

Grass war, wie die ihm geistig verwandte Christa Wolf, der Dichter eines geteilten Landes, der in der Schaffung einer Kulturnation die Aufgabe seines Lebens sah. Er hat den Weg dahin bereitet, gefolgt sind ihm Wenige. Bitterkeit hat ihn deshalb gleichwohl nicht erfasst; er blieb auch im Alter Optimist. Sein Abschiedsgedicht über die Nüsse, die der Tote unter der Erde knackt, beweist es.

Die Lücke, die Grass hinterlässt, ist nicht zu schließen.

 

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