Am 29. August 1988 stoßen Friedrich Magirius und Christian Führer die Leipziger Basisgruppen in den öffentlichen Raum – der Nikolaikirchhof wird zur Brennkammer der Friedlichen Revolution

von Gunter Weißgerber

Freiheitsbewegungen bedürfen des öffentlichen Raumes. Bekommen sie diesen nicht, ärgern sie zwar die autoritär Herrschenden und alles Kontrollierenden, werden jenen jedoch nicht wirklich gefährlich. Dies galt besonders für die Epochen der Vormobilfunkzeiten.

Ausgerechnet in der Messestadt Leipzig, die damals jeweils im Frühjahr und im Herbst ein Stück Weltöffentlichkeit bieten musste, expedierte die Kirchenleitung der Nikolaikirche oppositionelle Basisgruppen vor die Tür – und dies kurz vor der Herbstmesse 1988. Im Zwiespalt, den eigenen Gemeindemitgliedern den Gottesdienst zu schützen und den Basisgruppen Obdach und Schutz zu gewähren, entschied der Kirchenvorstand zugunsten des Schutzes seiner Gemeinde und zu Ungunsten der Basisgruppen. Sicher war das eine schwere Entscheidung. Mutmaßen lässt sich nur über den Zeitpunkt kurz vor der Messe. Ich denke, die Nikolaikirche sollte gerade in der Messezeit nicht zum Politikum der Weltmedien werden. Doch genauso sollte es kommen. Die jungen Leute standen vor der Tür im Nikolaikirchhof und wurden mit ihrem Mut plötzlich viel bekannter und erreichten genauso plötzlich die Weltöffentlichkeit.

Wurden die Leipziger Montagsdemonstrationen 1989/90 auf dem Opernplatz zu einem wichtigen Motor zu Freiheit, Einheit und Sicherheit, so barg der Nikolaikirchhof die Zündkammer dieses Motors.

Mit den Worten »Das sind keine Leute von uns!« wies Christian Führer die Aufmüpfigen am 29. August 1988 aus der Nikolaikirche – nicht ahnend, damit den endgültigen Treibsatz an die Erosion des SED-Staates, vor dem er seine Kirche schützen wollte, zu legen. Bereits eine Woche vorher entzog Superindent Magirius den oppositionellen Basisgruppen per Brief die eigenständige Gestaltung der Friedensgebete.

Die Nikolaikirche bot seit 1982 ein schützendes Dach für Christen, aber auch für Ausreisewillige unabhängig eines Glaubensbekenntnisses und für junge, kritische Leute – eine ernste Herausforderung für SED und MfS. Zwischen dem staatlichen Druck einerseits und dem jugendlichen Aufbruch andererseits wurden die Handlungsspielräume für die Kirchenleitung eng, sehr eng. In der Abwägung, Schutz für eine (vermeintliche) Minderheit zulasten der eigenen Verantwortung für die Gläubigen und die provokativen Ausreisewilligen, fiel die – sicher mühsam getroffene – Entscheidung, einen Teil der jungen und nicht mehr zu reglementierenden Leute der Kirche zu verweisen. Ein Rauswurf mit Folgen. Wenig später sollte es die Freiheit geben und die DDR nicht mehr existieren.

Dieser Rauswurf war es, der eine Kommunikation zwischen den jungen Oppositionellen und der Bevölkerung erzwang. ›Die da draußen‹ warteten nämlich von nun an montags auf ›Die da drinnen‹, die nach dem Gottesdienst aus der Kirche kamen. Das erzwang die Aufmerksamkeit des Staates, initiierte jedoch auch die Aufmerksamkeit der Leipziger Mitbürger und der internationalen Medien. Diese aufmüpfigen Leute wurden ›zum Hingucker‹ im Nikolaikirchhof. Zumal sie diese Öffentlichkeit zu nutzen begannen. Sie artikulierten ihre Kritik, ihre Wünsche und Hoffnungen. Der Motor der friedlichen Revolution begann langsam, aber stetig zu laufen!

Von Montag zu Montag wurden es mehr, die auf das Forum der Mutigen schauen, die mitmachen wollten und es kamen auch mehr von denen, die beobachten und zersetzen mussten. Genutzt wurden die Messemontage für die Weltöffentlichkeit, genutzt wurde die Straße für Straßenmusik, thematisiert wurde die Umweltverschmutzung. Alles in allem eine Mixtur, die Dank der besseren außenpolitischen Rahmenbedingungen wie Neue Ostpolitik, KSZE-Prozess, polnischem Papst (Johannes Paul II.), Nato-Doppelbeschluss und dessen Folge Gorbatschows Glasnost und Perestroika, Charta `77, Solidarność und ungarischer Grenzöffnung ab 2. Mai 1989 den Ostblock hinwegfegte. Wichtig war die Oppositionsbewegung in der ganzen DDR. Die Initiative Frieden und Menschenrechte (Anfang 1986), die Ostberliner Umweltbibliothek (2. September 1986) genauso wie später die Ereignisse in der Gethsemanekirche, die oppositionelle Nutzung der Luxemburg-Liebknechtdemonstrationen im Januar 1988 in Ostberlin wie die vielen, vielen einzelnen Initiativen in der gesamten DDR (z. B. 24. 8. 1989 Initiativgruppe zur Gründung einer Sozialdemokratischen Partei, 10. 9. Gründungsaufruf des Neuen Forums, 12. 9. Aufruf zur Einmischung in die eigene Sache – Demokratie Jetzt, Oktober 1989 Demokratischer Aufbruch, 5. 11. 1989 Grüne Partei).

Wichtige moralische Hilfe waren ebenso öffentliche Auftritte aus der DDR ausgewiesener und geflüchteter Oppositioneller in den Westmedien. Waren es anfänglich wenige, später Dutzende, Hunderte auf dem Nikolai-Kirchhof (die im Juni 1989 mit dem Internierungslagergeruch verbreitendem LVZ-Artikel »Was trieb Frau A. K. ins Stadtzentrum« und der »chinesischen Lösung« deutlich gewarnt wurden), so wurden es auf dem Wege zum Augustusplatz und um den Ring Tausende, Zehntausende und Hunderttausende, die ihre eigenen Dinge in die eigenen Hände nahmen. Aus dem Ruf ›Wir bleiben hier!‹ wurde ›Wir sind das Volk!‹, ein Volk, dem es rasant nicht mehr genügte, ein Geteiltes zu sein. Bereits vor dem Mauerfall gab es die ersten Rufe, die dem »Wir sind ein Volk!‹ des Spätherbstes 1989 den Boden bereiteten.

Holprig wurde der Weg um die Jahreswende 1989/90. Der Runde Tisch verschaffte der SED und ihrem Propagandaapparat mit der stillen und von Lichterketten erfüllten Montagsdemonstration am 18. Dezember 1989 eine Atempause bis ins neue Jahr hinein. Plötzlich sahen sich die Menschen in der skurrilen Situation, nicht nur wie bisher gegen den alten Staatsapparat zu demonstrieren, sondern mittels der Demonstrationen und Kundgebungen dem Runden Tisch auf die Sprünge helfen zu müssen. Stillstand hätte Umkehr bedeutet, was die meisten Menschen spürten und so nicht wollten. Die Hurra-Stimmung auf Seiten der alten Eliten wuchs in der Demopause beträchtlich, mehr noch gesundete deren Optimismus. Anfang Januar schien dies vielen innerhalb der Demonstrationsbewegung genug, es musste wieder demonstriert werden und vor allem bedurfte es der politischen Kundgebungen vor diesen Demonstrationen. Die Menschen wussten, das kann noch nicht alles gewesen sein. Noch war die SED, jetzt SED-PDS, fest im Sattel, aus dem MfS wurde das AfNS und das medial massenhaft eingespielte Lied hieß ›Für unser Land‹ und meinte den Erhalt des SED-Staates.

Die Menschen erzwangen den Weitergang der Montagsdemonstrationen, ebenso erzwangen sie die erneute Veranstaltung von Kundgebungen gerade auch vor dem Hintergrund aufkommender Putschgerüchte gegen Gorbatschow (was im August 1991 – wir waren bereits in der Sicherheit des westlichen Bündnisses – tatsächlich eintrat). Diesem allgemeinen Wunsch folgend verständigten sich verschiedene oppositionelle Gruppen in der zweiten Kalenderwoche 1990 auf folgende Erklärung:

Entgegen den Absprachen am Runden Tisch des Bezirkes vom 2.1.90 künftig zur traditionellen Montagsdemonstration auf eine Kundgebung zu verzichten, haben sich die oppositionellen Gruppen Initiative Frieden und Menschenrechte, Neues Forum und SDP entschieden, so schnell wie möglich wieder Ansprachen auf dem Karl-Marx-Platz zu organisieren und selbst zu gestalten.
Der Grund für diese gewandelte Entscheidung ist die Kampagne der SED, vor allem im Neuen Deutschland und in der Aktuellen Kamera, die oppositionellen Gruppen durch eine nachteilige Berichterstattung zu verunglimpfen und sich selbst unangemessen breit und einseitig in den Vordergrund zu schieben. Wir waren der Ansicht, dass die Demonstration am Montag nicht der geeignete Ort für den Wahlkampf ist, die SED zwingt uns aber durch ihr Vorgehen zum Handeln.
Wir appellieren an dieser Stelle noch einmal eindringlich an alle, den zu erwartenden Wahlkampf ausschließlich mit friedlichen, gewaltfreien Mitteln zu führen. Angriffe gegen Minderheiten auf der Demonstration halten wir für sehr bedenklich und dem gemeinsamen Ziel einer demokratischen, pluralistischen Gesellschaft für abträglich. Wir werden unser Ziel, das Machtmonopol der SED zu brechen, nur erreichen, wenn die Montagsdemonstration ihren ausschließlich friedlichen Charakter behält und alle Panikmache der SED gegen eine rechte Gefahr, die die Restauration des Sicherheitsapparates rechtfertigen soll, ins Leere greift.

Die Ziele wurden erreicht. Zum einen musste Dienstags in Ostberlin das erledigt werden, was am Montag vorher in Leipzig (und anderswo) gefordert wurde und zum anderen kamen die Menschen, wenn auch zum Wahltag hin in geringer werdender Zahl, bis zum 18. März 1990 jeden Montag in beeindruckender Menge und sicherten so auf ihre Weise die ersten freien Wahlen in der DDR ab.

So gut wie alle Ostdeutschen (Wahlbeteiligung 93,8 Prozent) nutzten ihr jungfräuliches Wahlrecht und stimmten mit 75,2 Prozent für die Parteien, die die Deutsche Einheit klar wollten – ein eindeutiger Auftrag an die erste freigewählte Volkskammer.

Die Ostdeutschen und hier die Leipziger schufen sich auf dem Augustusplatz ihr klassisches Forum, auf dem sie bestimmten, wo es lang gehen sollte. Insgesamt waren es zwischen dem Herbst 1989 und den Volkskammerwahlen 1990 in 540 Orten mehr als 3.200 Demonstrationen und Kundgebungen, die des Volkes Wille nach tiefgreifender Veränderung und immer stärker nach Einheit bekundeten. Lag der Fokus der Welt anfänglich besonders auf Leipzig, von hier ging über die mediale Wahrnehmung die größte Motivation für die Demonstrationen in der DDR aus, so nahmen die Demonstrationen besonders nach dem 9. Oktober 1989 überall ihren eigenständigen und vielfach doch ähnlichen Verlauf.

Mein Fazit: Ohne ›Die nach draußen gewiesenen‹ auf dem Nikolaikirchhof würden ›Die da drinnen‹ vielleicht noch immer in der Nikolaikirche beisammen sitzend, Fürbittgottesdienste und Friedensgebete innerhalb der DDR abhalten. Und keiner kann zu unser aller Glück wissen, wie viele Menschen nach Chris Gueffroy an der innerdeutschen Grenze ihr Leben bis heute hätten lassen müssen, wie niedrig unsere Lebenserwartung infolge der inzwischen wesentlich schlechteren Umweltbedingungen wäre und wieviel Leid die politisch motivierte Justiz seit 1989 weiter über die Menschen gebracht hätte.

Es wären heute Putins Truppen, die gut auf uns aufpassen würden. Deshalb ist faktisch jede ehemalige Sowjetkaserne in Ostdeutschland ein wahres Freiheits- und Einheitsdenkmal!

Seien wir stolz auf unseren 89er Mut und dankbar für die damaligen außenpolitischen Rahmenbedingungen. Ein Putin käme heute mit grünen Männern, Bombern und Panzern: ›Nix da mit friedlicher Revolution. Das ist alles faschistisch und CIA-EU-gesteuert!‹

Geschrieben von: Weißgerber Gunter
Rubrik: Geschichte