von Hanna Behrend

 Am 19. Dezember 2005 teilte der Historiker Manfred Behrend einem Freund mit, dass ihm bei der Operation am 29. November der von einem weit entwickelten Krebstumor befallene linke Lungenoberlappen entfernt worden sei: »Alles in allen bin ich angeknackst, aber noch vorhanden und streitbar. Letzteres erwies sich, wie ich hoffe, beim Fertigstellen der letzten Teile des PDS-Buchs für den Neuen ISP Verlag«. In diesem Brief legte er auch seine Pläne für das nächste Jahr vor: »Nach dem Buchprojekt habe ich für 2006 Kleineres vor. Wesentlich sind mir a) die Vorgänge an der Humboldt-Universität vor 50 Jahren, nach dem XX. Parteitag der KPdSU; vorstellbar wäre wie zum 17. Juni 1953 ein Erlebnisbericht, diesmal etwas länger, da sowohl die historische Konstellation gravierender war, als auch der Autor aktiver, b) die Vorgänge in Spanien ab 1936. Hier schwebt mir einesteils eine Darstellung der Hauptaktionen an der Bürgerkriegsfront (bei gleichzeitiger Auseinandersetzung mit stalinistischen Versionen), andernteils die Würdigung der antistalinistischen Opposition und ihrer Niederschlagung vor. An einem bestimmten Punkt dürften beide Hauptthemen ineinander übergehen.«

Über Weihnachten war er nach Hause entlassen und zum 9. Januar 2006 zur Strahlen- und Chemotherapie wieder in die Robert Rössle-Klinik in Berlin-Buch einbestellt worden. Ungeachtet seines miserablen Gesundheitszustandes arbeitete er unermüdlich an der Chronik, die sein letztes Buch: Eine Geschichte der PDS. Von der zerbröckelnden Staatspartei zur Linkspartei (Neuer ISP-Verlag 2006) abrunden sollte; in der Zeit zwischen den beiden Krankenhausaufenthalten verließen ihn nie sein trockener Humor, sein Optimismus und seine Zuversicht.

Selbstmitleid war ihm fremd. Seine Krankheiten und Beschwerden waren für ihn zweitrangig gegenüber der geliebten Arbeit, aber sein unglaublicher Fleiß war kein Wert an sich, sondern die Folge der Faszination seines Gegenstandes, der Geschichte der Unterdrückten und Ausgebeuteten. Die handwerkliche Sauberkeit und intellektuelle Redlichkeit haben seine Vorgesetzten am IPW (Institut für Internationale Politik und Wirtschaft) kaum bemerkt, da er immer zu verbergen bemüht war, was er alles machte, um nicht daran gehindert zu werden. Weil ihm kühne Analysen nicht lagen, denn er stellte Zusammenhänge eher durch mosaikförmiges Zusammenfügen solider Informationsbausteinchen her, unterschätzte man seine theoretischen Fähigkeiten. Er inszenierte sich nie, und erst wenn man sich länger mit ihm unterhielt, merkte man, wie gescheit und engagiert er war. In vollem Umfang habe ich erst gemerkt, was für ein kompetenter, gescheiter und geistreicher Historiker er war, als ich zu seinem 75. Geburtstag eine Auswahl seiner Arbeiten herausgab (Zeiten der Hoffnung – Zeiten des Zorns. In der Sicht eines DDR-Chronisten, Verlag am Park 2005).

Als das Buch über die PDS pünktlich im März 2006 erschien, lebte sein Autor nicht mehr. Er war, noch ehe er sich weiteren Krebstherapien unterziehen konnte, am 14. Januar 2006 in der Klinik an einem Herzinfarkt verstorben. Am 9. April dieses Jahres wäre er 80 Jahre alt geworden.

Seine Publikationspläne zu den Vorgängen von 1956 hatte er immerhin so weit vorbereitet, dass ich imstande war, seine übersichtlich geordneten Unterlagen zu nutzen. Auf einem Kolloquium der Rosa-Luxemburg-Stiftung und der Hellen Panke in Potsdam im Sommer 2006 trug ich einen Materialbericht vor, der in dem von Siegfried Prokop herausgegebenen Sammelband Zwischen Aufbruch und Abbruch. Die DDR im Jahre 1956 (Kai-Homilius-Verlag 2006) und in den Kölner Sozialistischen Heften, Heft 11, September 2006, veröffentlicht wurde.

Der Beitrag wies nach, dass sich sechs Historikerstudenten an der Humboldt-Universität, unter ihnen Manfred Behrend, nach dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 für mehr Demokratie vor allem in der FDJ und in der SED einsetzten und scheiterten. Die von ihnen in ehrlichster Absicht verfassten und von der Parteiführung der SED in der SED-Funktionärszeitung Neuer Weg 5/1957 als »zersetzend« bewerteten »Wege zur Belebung der Jugendarbeit« waren der Hoffnung geschuldet, dass nun, nach der Chruschtschow-Rede, der Zeitpunkt für die dringend notwendigen demokratischen Reformen endlich gekommen sei. In dem Dokument beklagten die Studenten den Verfall der FDJ, die wachsende Bürokratisierung, »die die Eigeninitiative erstickt und viele Freunde zu bloßen Gehaltsempfängern gemacht hat, andere zu Zynikern«. Sie forderten, dass der hauptamtliche Apparat reduziert werde und sich aus einem Befehlsgeber in einen Helfer des Verbandes verwandle. Die Wahl der FDJ-Leitungen müsse demokratisiert werden, ungeeignete Leitungsmitglieder sollten auf Antrag der Basis ersetzt werden. Leitungssitzungen sollten in Zukunft öffentlich stattfinden. Diese und weitere Vorschläge orientierten auf die Demokratisierung der Organisation.

Führende FDJ-Funktionäre und die Zeitschrift Forum hatten sich mit den Demokratisierungsforderungen der Studierenden solidarisiert. Diese sahen sich damals auch durch die Rehabilitierung von Gomulka und Spychalski in Polen und des ›Rechtsabweichlers‹ Imre Nagy in Ungarn ermutigt. Dennoch betrachteten es die Parteioberen nicht als opportun, die involvierten Studierenden mit gewaltigen Keulen wie »feindliche Plattform« niederzuknüppeln, wie das bei anderen Gelegenheiten der Fall war. Die Verfasser der Vorschläge mussten einige ihrer Formulierungen zurücknehmen, hielten aber den größten Teil aufrecht.

Auch innerhalb des Ministeriums für Staatssicherheit gab es damals offenbar Repräsentanten der ›weichen Linie‹ den Studierenden gegenüber. Über Manfred Behrends politische Korrespondenz mit einem Studienfreund in Schwerin und über die Gespräche der beiden bei Zusammenkünften in dessen Wohnung heißt es in der MfS-Akte des Freundes, dass mit Hilfe einer »feindlichen Gruppe an der Humboldt-Universität« »parteifeindliches Material« aus Westberlin unter den Studierenden vertrieben wurde und dass Studierende der philosophischen, geisteswissenschaftlichen und anderer Fakultäten sich über die DDR-Nachrichtenagentur ADN westliche Nachrichten beschafft hätten. Einem dieser Spitzelberichte zufolge sollen Manfred und sein Studienfreund »eine sehr überhebliche und arrogante Einstellung zum gesellschaftlichen Leben, besonders gegen unsere Partei, gegen die Sowjetunion und die Theorie des Marxismus-Leninismus« zum Ausdruck gebracht haben. Die Berichte landeten auf dem Schreibtisch des Leiters der Kreisdienststelle Schwerin des MfS, eines Oberstleutnant Köhn, der daraus keine Feindtätigkeit ableitete und den Vorgang archivierte. Somit entging Manfred weiterer ›Zuwendung‹ durch das Ministerium für Staatssicherheit.

Er war immer ein politisch zutiefst engagierter Mensch, der nach unauffälligen, unspektakulären Wegen suchte, ohne Krawall seinen Widerstand gegen die Dummen und Bornierten zu leben, und der nie sagte: »Wer weiß, vielleicht haben die da oben recht«, denn sein wacher Verstand ließ keinen Autoritätsglauben gelten. Er setzte sich, wo er nur konnte, mit Zivilcourage für Menschen ein, die wegen nach seiner Meinung gerechter Anliegen diskriminiert oder verfolgt wurden. So führte Manfreds Solidarität mit Eberhard Czichon, dem vom SED-Parteiapparat im Stich gelassenen Autor von Der Bankier und die Macht, gegen den Hermann Josef Abs erfolgreich prozessierte, und seine Weigerung, das von seiner Parteileitung ausgesprochene Publikationsverbot zu diesem Gegenstand einzuhalten, zu seiner Strafversetzung in eine weniger angesehene Abteilung. Auch wurde er kein ›Reisekader‹ (d.h. er durfte nicht in den Westen reisen) und stieg nie über die Gruppenebene hinaus zu höheren politischen Funktionen auf. Diese Haltung zeichnete ihn bis in seine letzten Tage aus, und sie spiegelt sich in allen seinen Publikationen wider, insbesondere in denen aus der Nachwendezeit.

Bereits im Februar 1949 forderte der damals 19-jährige FDJ'ler in der Verbandszeitung Start die geheime Wahl der Leitungen in seiner Organisation. Aus seiner Studentenzeit sind zwei Beiträge erhalten, die er nur unter Pseudonym in linken Zeitschriften in der Bundesrepublik veröffentlichen konnte. Darin berichtet er, wie er und seine Studienfreunde den 17. Juni 1953 erlebten und reflektierten. In diesen wie in allen seinen Veröffentlichungen ging es ihm dabei um demokratisch-sozialistische Reformen, nie um die Aufgabe des sozialistischen Projekts.

Wie er in seinem Buch über die Geschichte der PDS schreibt, war er durch seine Familientradition vorgeprägt: sein Vater und dessen zwei Brüder waren »sozialdemokratisch bzw. KPD-orientiert«. Der Vater »fand den Weg von der stalinistisch gewordenen KPD zur KPD-O Heinrich Brandlers und August Thalheimers, die der Linie Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts folgten«. Es prägte ihn ferner sein Studium an der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät in Berlin, wo er lebenslange Freunde fand, die gemeinsam mit ihm »über die Jahrzehnte hinweg mal mehr, mal weniger mit der SED verbunden waren und wiederholt, besonders in den Fragen ›Personenkult‹, Stalinismus, wahrheitsgetreue und verlogene Parteigeschichtsschreibung, wider den Stachel löckten«.

Er war zu langjähriger Freundschaft fähig. Seit seinen Studienjahren und bis zu seinem Tode verbanden ihn enge freundschaftliche Beziehungen mit einer Anzahl seiner Studienfreunde, mit denen er politische und wissenschaftliche Korrespondenzen führte, in denen er sich stets ebenso solidarisch wie bei Bedarf freimütig kritisch auch über deren Meinungen und Publikationen äußerte. So hat er diesen Freunden auch viel bedeutet.

Der Geschichtslehrer Charly Mahnke schickte mit seinem Kondolenzbrief ein Foto aus dem Jahre 1953, das ihn und Manfred vor dem Thomas Müntzer-Denkmal zeigt und auf dem Manfred die linke Hand zur Faust geballt erhoben hat, »denn dort in Stolberg wurde während eines 14-tägigen gemeinsamen FDGB-Urlaubs jener Grundstein gelegt, auf dem unsere Freundschaft so dauerhaft gegründet war. In einem inzwischen langen Leben hat und hatte man viele Freunde, auch wirklich gute Freunde. Manfred aber war für mich mehr. Denn mit keinem sonst bestand eine so tief wurzelnde Gemeinsamkeit in allem, was die Welt im Innersten zusammenhält.«

Manfred prüfte die Aussagen anderer Leute und nahm nur an, was ihm logisch und als richtigere, wahrhaftigere Sicht als seine eigene erschien. Er war kein Held, der tollkühn seine und die Existenz seiner Familie aufs Spiel setzte. Aber wo ein wenig List oder Zivilcourage es ihm ermöglichten, die Betonköpfe unserer Elite auszutricksen, da tat er es, ohne Rücksicht auf Verluste. Er repräsentierte die Generation junger Deutscher, die in den letzten Kriegsjahren um ihre Kindheit und frühe Jugend geprellt worden waren. Es waren diejenigen, die nach 1945 meinten, es könne nur besser werden, wenn es grundlegend anders würde. Dass nur ein anderes Gesellschaftssystem dies gewährleisten könnte, schien den meisten von ihnen folgerichtig. Was sie einte, war die Überzeugung, sie selbst müssten aktiv werden und dafür sorgen, dass es nie wieder Faschismus und Krieg gebe. Ihre Irrtümer wie ihre Leistungen dürfen nicht vergessen werden. Sie gehören unauslöschlich zum Erfahrungsschatz derer, die sich für eine bessere Welt engagieren.

 

 

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