von Florian Mausbach

 1972. Ein China-Restaurant in Bad Godesberg. Journalisten aus Maos China erläutern den Zweijahresvertrag – ein Lektorat im Fremdsprachen-Verlag Peking. Der Ältere von beiden, später langjähriger Botschafter in Deutschland, besorgt: »Und was ist mit Schwierigkeiten bei Ihrer Rückkehr?« »Ich will doch kein Beamter werden!«

2002. Flughafen Peking. Im Pass fehlt das Visum. Eine Einladung des deutschen Botschafters liegt vor. An den Präsidenten des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung zur Einweihung der Deutschen Schule in Peking. Und ein Foto liegt bei von Deng Xiaoping mit dessen persönlicher Widmung und Danksagung. Aus dem Jahr 1977. Es wird als Visum akzeptiert.

Ein letztes Geleit für Zhou Enlai

Als wir aus dem wärmeren Kanton kommend mit dem Flugzeug in Peking eintrafen, war es bitterkalt. Es war Anfang Januar 1976. Von dem einsamen Flughafen ging es in einem Taxi Marke Schanghai in langer Fahrt über eine von Pappeln begleitete zweispurige Landstraße. Eselskarren, Radfahrer und Armeelastwagen kamen uns entgegen. Sie transportierten auf offenen Ladeflächen Wintergemüse und Menschen, die wattierte Jacken, ohrenschützende Mützen und weißen Mundschutz trugen. Es ging vorbei an Feldern und dörflichen Ortschaften aus grauen Ziegelhäusern, einzelnen unverputzten Wohnblocks und Fabriken mit Losungen in chinesischen Schriftzeichen. Fahrtziel war das Youyi Binguan, das Friendship Hotel im Westen Pekings. Dieser weitläufige Hotelkomplex mit Apartmenthäusern, Restaurant, Gaststätte, Läden, Wäscherei, Friseur, Hospital, Schwimmbecken, Tennisplätzen, Kino und Grünanlagen, wurde noch in der Zeit sowjetisch-chinesischer Freundschaft für ausländische Experten als Hotel Druschba im russisch-chinesischen Stil errichtet. Er sollte für fast zwei Jahre unser Zuhause werden.

Wir, das waren meine Frau Ursula, ich selbst und ein Dritter im Bunde, mit dem ich an der Technischen Universität Berlin Architektur und Städtebau studiert hatte. Den Beruf als Sekretärin und als Stadtplaner hatten wir vorübergehend an den Nagel gehängt, um mit der chinesischen Regierung als ›Sprachexperten‹ einen Zwei-Jahresvertrag zu schließen. Uns lockte außer Abenteuerlust und Fernweh das politische Interesse an China, das seinerzeit mit der Kulturrevolution, einem eigenen Weg der Entwicklung und einer sich öffnenden Weltpolitik die Neugier weckte.

Das Youyi Binguan empfing uns mit schwerer klagender Trauermusik, die aus Lautsprechern erschallte. Bereits in Hongkong beim Grenzübertritt hatten wir auf der schwarz umrandeten Titelseite der Pekinger Volkszeitung die Nachricht vom Tode Zhou Enlais erhalten.
Die Trauer um den Tod des Ministerpräsidenten beherrschte die ersten Wochen und Monate unseres Aufenthalts in China, eine Trauer um den Verlust eines großen Staatsmannes, aber auch einer vom Volke verehrten und geliebten Persönlichkeit.
[...]

In diese tiefe Trauer aber mischte sich mehr und mehr Ungewissheit und Sorge um die Zukunft.
Was sollte aus China werden, jetzt wo Zhou Enlai nicht mehr da war, der Mann, der in all den von Mao Zedong dem Land zugemuteten Unruhen und Experimenten mit ihren schrecklichen Folgen immer mäßigend gewirkt hatte? Um die gewaltsamen Wirren der Kulturrevolution zu beenden, hatte Zhou 1973 mit Maos Billigung den Pragmatiker und Reformer Deng Xiaoping aus der Verbannung zurückgeholt und zu seinem Stellvertreter ernannt. Gegen heftigen Widerstand hatten sie gemeinsam im Innern die »Vier Modernisierungen« von Industrie, Landwirtschaft, Verteidigung, Wissenschaft und Technik auf den Weg gebracht und nach Außen damit begonnen, China zum Westen und zur Welt zu öffnen.

Das Fernsehen zeigte in ständigen Wiederholungen, untermalt von immer gleichen Trauerklängen, das Porträt des Verstorbenen, die Urne mit seiner Asche und die letzten Ehrerweisungen der Führung und verschiedener politischer Organisationen des Landes. Deng Xiaoping hielt die Trauerrede. Die Kondolenz entgegen nahmen die Witwe Deng Yingqiao und ein bis dahin Unbekannter namens Hua Guofeng. Mit Sorge wurde beobachtet, dass als erster Wang Hungwen kondolierte, und peinlich registriert die auffällige Trauerbezeigung Zhang Chunqiaos, der die Witwe heftig umarmte. Beide, Wang und Zhang waren Widersacher Zhou Enlais und wurden später gemeinsam mit Djang Tjing und Yao Wenyuan als »Viererbande« weltbekannt.
[...]

Dreizehn Mäuse für Deng

Am Tag zuvor [vor dem letzten öffentlichen Geleit Zhou Enlais; Anm. d. Red.] war Ex-Präsident Nixon zu den Wandzeitungen in der Peking-Universität geführt worden. Heute aber, am 26. Februar 1976, wurde Deng Xiaoping zum ersten Mal namentlich angegriffen. Im abgeschlossenen Hof der Universität waren auf Schilfrohrmatten große handgepinselte Wandzeitungen in chinesischen Schriftzeichen angeschlagen worden, auf diesen Dazibaos »150 konterrevolutionäre revisionistische Zitate von Deng Xiaoping, dem größten, den kapitalistischen Weg gehenden Machthaber in der Partei«.
[...]

Um uns herum drängten sich Hunderte mit Notizblocks bewaffnete Menschen – Kader in dicken Wattemänteln und warmen Mützen, die aus der ganzen Stadt in Bussen und Lastwagen herangefahren worden waren, dazwischen ausländische Journalisten, Diplomaten und Sprachexperten. »Leute, die fachlich gut und nützlich für China sind, sind besser als solche, die die Toiletten besetzt halten, aber nicht sch... . Sie sind auch besser als solche, die Cliquenwirtschaft betreiben.« Eine Spitze gegen Maos Frau Jiang Qing und ihre in der Kulturrevolution nach oben gespülten Anhänger. »Bei uns sieht die allgemeine Lage so aus: die Landwirtschaft hemmt die Industrie; Wissenschaft und Technik sind rückständig, auch das hemmt die Industrie. Wir haben gesagt, wir wollen die Gipfel der Welt erstürmen, aber wir haben erst niedrige bis mittlere Gipfel erstürmt.« Man drängte und schob, schrieb und las vor, aber Kommentare oder Diskussionen gab es nicht. »In allen Landesteilen kann man beobachten, dass nicht die Menschen, sondern die Mäuse die ausländischen Fachzeitschriften lesen.«
[...]

Die Kampagne gegen den ›Wind von rechts‹ hatte einen neuen Höhepunkt erreicht. Scheinbar harmlos hatte sie im Sommer 1975 begonnen, verharrte lange Zeit im Larvenzustand, um sich erst nach dem Tode Zhou Enlais im Januar 1976, ab da aber in rasch aufeinander folgenden Etappen zu entpuppen.
Nach den Erschütterungen des Landes durch die Kulturrevolution hatten Mao Zedong und Zhou Enlai Anfang der siebziger Jahre den Kurs des Staatsschiffes neu bestimmt: Einheit und Stabilität im Innern, Modernisierung von Landwirtschaft und Technik bis zum Jahre 2000; Öffnung des Landes nach außen, enge Zusammenarbeit Chinas mit der Dritten Welt und dem Westen, Durchkreuzen sowjetischer Hegemoniebestrebungen.
Das spektakuläre Ende der politischen Karriere des kulturrevolutionären Aufsteigers Lin Biao – nach einem Staatsstreichversuch stürzte der Verteidigungsminister und designierte Mao-Nachfolger auf der Flucht in die Sowjetunion 1971 mit dem Flugzeug ab – und die Reise des amerikanischen Präsidenten Nixon nach China im Jahre 1972 waren die Wendemarke.
1973 kehrte Deng Xiaoping aus der kulturrevolutionären Verbannung ins Zentrum der Macht zurück. Mao Zedong rehabilitierte ihn in einem Brief an das chinesische Volk: »Genosse Deng Xiaoping ist ein Talent, wie man es selten findet. Er hat Verdienste auf dem Schlachtfeld erworben und ist ein harter Kämpfer gegen den sowjetischen Revisionismus.«
Seit der Verschlechterung des Gesundheitszustands des Ministerpräsidenten Zhou Enlai leitete Deng faktisch die Staatsgeschäfte. Doch der Widerstand seiner Gegner war mit dem Sturz Lin Biaos zwar geschwächt, aber nicht gebrochen. Von ihren in der Kulturrevolution eroberten Machtstellungen in Medien, Kultur und Erziehungswesen aus stellten sie sich der neuen Politik in den Weg. Nach dem Tode Zhou Enlais, der wegen seiner Popularität und Integrität nahezu unangreifbar gewesen war, gingen sie zum Gegenangriff über.

[...]

Am Tag nach der Besichtigung der Wandzeitungen in der Peking-Universität brachte ich über meinem Arbeitsplatz ein Foto von Deng an, das ich aus einer deutschen Zeitung ausgeschnitten hatte, mit Dengs berühmt gewordenem Satz: »Ob schwarz oder weiß – Hauptsache, die Katze fängt Mäuse.«
Daneben hing das jüngste Foto von Mao Zedong, der von Alter und Krankheit gezeichnete Vorsitzende im freundlichen Händedruck mit Richard Nixon.

Das kleine Foto verursachte einen Kälteeinbruch in unserem Büro. Die sonst immer freundlichen Kollegen gingen uns ängstlich aus dem Weg. Keiner wagte ein Wort mit uns zu wechseln.
Ich wurde zur Abteilungsleitung bestellt. Die Atmosphäre war nervös und gespannt. Der stellvertretende Leiter der Peking Rundschau eröffnete die Sitzung mit einem langen Vortrag über die Kritikbewegung an Deng Xiaoping, deren kurzer Sinn war: Ich als Ausländer sei nicht imstande, diese innerchinesischen Dinge richtig zu verstehen. Er forderte mich dringend auf, das Deng-Foto von meinem Arbeitsplatz zu entfernen. Er sprach, obwohl des Deutschen sehr gut mächtig, Chinesisch, um den Ernst der Lage zu unterstreichen. Der Dolmetscher übersetzte Satz für Satz und protokollierte meine Antwort: Man habe uns als Ausländer zu den Wandzeitungen gegen Deng geführt und könne nun nicht von uns erwarten, dass wir alles stumm herunterschluckten. In Wirklichkeit sei die Kritik an Deng ebenso gegen die Modernisierungspolitik des verstorbenen Ministerpräsidenten Zhou Enlai gerichtet wie gegen die neue Außenpolitik Mao Zedongs der Öffnung zum Westen und zur Eindämmung des sowjetischen Hegemoniestrebens. Dass unter linksradikalen Phrasen sich prosowjetische Kräfte breitmachten, sei eine Erscheinung, die keineswegs auf China beschränkt sei und daher für mich als Ausländer durchaus verständlich.
[...]

Das Foto blieb einige Tage hängen, bis ich es selbst abnahm, um nicht als Enfant terrible zu erscheinen. Meine Frau allerdings konnte es sich nicht verkneifen, über ihren Arbeitsplatz ein Foto vom Empfang des Bundeskanzlers Helmut Schmidt beim Vorsitzenden des nationalen Volkskongresses Zhu De aufzuhängen. »Es lebe die deutsch-chinesische Freundschaft!« hatte sie darunter geschrieben [...].

Die »demokratische Debatte«, von der Hua gegenüber Nixon wohl mehr zur Beschwichtigung ausländischer Gemüter in Sachen Deng gesprochen hatte, nahm ihren Verlauf.
»Eine ›Debatte‹ findet zur Zeit gar nicht statt«, schilderten wir Mitte März 1976 die Situation in einem Brief. »Es handelt sich vielmehr um eine Verurteilungskampagne, bei der der Angeklagte noch nicht einmal zu Wort gekommen ist. Es wird bzw. soll kurzer Prozess gemacht werden. Das Hauptmittel dazu ist nicht Überzeugung, sondern Suggestion und Überrumpelung: die Vorweg-Abstempelung Dengs als ›Verbrecher‹, als jemand, der ›unverbesserlich den kapitalistischen Weg geht‹ und die Beschwörung einer ›historischen Strömung‹, gegen die sich zu stemmen aussichtslos ist. Wo aber steht das Volk? [...]«

Auch in unserem Verlag wurde zwangsmobilisiert. Jeder musste seine Unterstützung bekunden. An ihren Tischen saßen unsere chinesischen Kollegen über den jüngsten Artikel der Pekinger Volkszeitung, um daraus ihre Hsiaozibaos (Wandzeitungen im Kleinformat) zusammenzustellen. Es war ein beschämendes Bild. Sie hatten Angst. Und so ging einer nach dem anderen in den Flur, tat was von ihm verlangt wurde, und hängte seinen Zettel auf, mit Unterschrift. [...] War das nun Chinas kulturrevolutionäre Demokratie? Sahen so die vielgepriesenen Massenbewegungen aus?
Ich setzte mich an meinen Arbeitsplatz, um auch ein Hsiaozibao zu schreiben. Mao zu zitieren dürfte wohl nicht verboten sein:
»Sich zusammenschließen und nicht Spaltertätigkeit betreiben; offen und ehrlich sein und sich nicht mit Verschwörungen und Ränken befassen. Mao Zedong.«

Dieses Zitat, das ein halbes Jahr später in vollständiger Fassung weltberühmt werden sollte, entnahm ich aus der Rede Zhou Enlais auf dem IV. Volkskongress 1975, in der er die Forderung nach den Vier Modernisierungen aufgestellt hatte.
In Anspielung auf die schwarzweiße Katze, mit der die Deng-Gegner ihre Wandzeitungen illustrierten, zierte ich mein kleines Plakat mit einer Anzahl huschender Wühlmäuse. Passt auf, dass euch die schwarzweiße Katze nicht am Ende frisst! So hängte ich es, ungeachtet der beschwörenden Versuche eines Kollegen, mich von meinem Vorhaben abzubringen, neben die anderen. Es schlug ein. [...] Warum es denn genau dreizehn Mäuse seien, wurde ich leise gefragt. »Dreizehn?« Ich hatte sie nicht gezählt. »Dreizehn ist eine Unglückszahl.« [...]
Durfte ich das? Wie ich später erfahren sollte, war die Geschichte bis ganz nach oben gegangen, zum ZK-Mitglied, Vizeleiter der Abteilung Internationale Verbindungen beim ZK und Verlagsleiter Feng Xuan. Er war Gegner der ›Viererbande‹ – im Oktober 1976 leitete er die Besetzung von Radio Peking und die Festnahme des dortigen Gefolgsmannes der Vier. Er gab Anweisung nur mit Überzeugung, nicht aber mit Zwang vorzugehen. So hing das Plakat mit den dreizehn Mäusen eine Woche lang zusammen mit den anderen, bis es mit diesen verschwand.

[...]

Alltag in Peking

[...]
Mit den chinesischen Kollegen des Fremdsprachenverlags gab es außerhalb der Arbeitszeit keinen privaten Kontakt. Er war den Chinesen strikt untersagt. Eine Ausnahme war das jährliche Frühlingsfest. Da luden die Kollegen uns auf eigene Kosten zum Jiaodsi-Essen in eine ihrer kleinen Wohnungen. Unter viel Gelächter über die ungeschickten Gäste wurde gemeinsam der Teig gerollt, in kleinen Teilen mit Schweinefleisch und Gemüse gefüllt, zu Täschchen geformt und diese in heißem Wasser gebrüht. Die fertigen Jiaodsi wurden dann mit Stäbchen in Sojasoße und Essig getaucht und so gegessen, während draußen das chinesische Neujahr mit Krachern und Böllern gefeiert wurde.

Der Alltag begann um sieben Uhr. Da weckte uns in unserem Hotel-Apartment – zwei Zimmer, Küche, Bad – laut plärrend die Hymne »Der Osten ist rot« aus der benachbarten Fabrik. Gefrühstückt wurde mit Kaffee, French Toast oder Rührei im Restaurant des Youi Binguan. Um acht ging es dann mit dem Bus in den Westen der erweiterten Innenstadt zum Wei Wenyu, einer Anlage aus vierstöckigen grauen unverputzten Ziegelbauten mit Büros und einigen Wohnungen, in den Höfen einstöckige Bauten für Kantine und Küche sowie andere Zweckbauten. Vor einem Heizgebäude lagerten Kohlenberge.

»Die Luft ist hier sehr trocken«, schrieb Ursula Ende Januar nach Hause, »und in den letzten Tagen war 15° minus die Regel. Dafür ist der Himmel ständig blau. In unseren dicken wattierten Mänteln sehen wir aus wie Tanzbären. Darunter haben wir meist noch ein bis zwei Pullover an und noch eine wattierte Jacke. Wir müssen uns warm anziehen, denn die Büros sind wenig geheizt.« Die Fenster an unserem Arbeitsplatz waren undicht, es zog und selten wurde es wärmer als 14°. Wir Ausländer hatten zum Schutz gegen den kalten Betonfußboden einen kleinen Teppich für die Füße. Auf dem Kopf trugen wir wie unsere Kollegen blaue, graue oder grüne Mao-Mützen. In allen Büros standen große bunte Thermoskannen mit heißem Wasser. Tee war Luxus. Jeder von uns ›Sprachexperten‹ hatte einen chinesischen Betreuer, der uns half, dolmetschte und uns auf Reisen und Besichtigungen begleitete.

[...]

Worin bestand unsere Arbeit als ›Sprachexperten‹? Wir erhielten Texte, die aus dem Englischen ins Deutsche zu übersetzen waren, sowie Übersetzungen unserer chinesischen Kollegen, die wir korrigierten. Deren Qualität war sehr unterschiedlich. Manche der Kollegen hatten in der DDR studiert und konnten ausgezeichnet Deutsch und stellten Fragen wie: Was sind in Heinrich Heines Wintermärchen die »Zuckerbsen für jedermann«? Oder: Wann wird in zusammengesetzten Wörtern ein Fugen-S eingeschoben? Andere kamen vom Lande aus armen Bauernfamilien und taten sich sehr schwer. Ursula gab ihnen Deutsch-Unterricht.
Ein Beispiel unserer Übersetzungskunst: Der Satz »Die Afrikaner sprechen die Schlägerei von Elefanten erleidet die Wiese« war umzuwandeln in »Ein afrikanisches Sprichwort lautet: Wo Elefanten kämpfen, leidet die Steppe.« [...]
In der längeren Mittagspause wurde von den chinesischen Kollegen nach dem Essen in der Betriebskantine Shushi gemacht, ein Nickerchen, oder auf der Dachterrasse nach Lautsprechermusik Gymnastik geübt oder im Doppel Tischtennis gespielt. Wir fuhren zum Essen und zur Mittagsruhe ins Hotel.
An manchen Tagen gab es für uns und andere Experten Exkursionen in verschiedene Fabriken, landwirtschaftliche Kommunen, Schulen, Wohnquartiere und Garnisonen (mit Schießübung!). Auf der ersten Strecke der in Bau befindlichen Untergrundbahn durften wir eine Probefahrt machen. Ein besonderes Erlebnis war die Besichtigung eines Netzes unterirdischer Tunnelanlagen, das zum Schutz vor Luftangriffen gegraben wurde. Seit es 1969 am Grenzfluss Ussuri zu bewaffneten Zusammenstößen mit sowjetischen Truppen gekommen war, wurden jede Woche Mitarbeiter für zwei Tage zum Tunnelgraben abkommandiert.
In unserer Freizeit gingen wir auf Entdeckungstour. [...]
Außer dem Fahrrad nutzten wir Bus und Taxi. In den Bussen bot man uns Ausländern auch gegen unseren Willen Platz an, in den Geschäften wurden wir bevorzugt bedient. Wir waren privilegiert, aber auch ausgegrenzt.

Totengedenktag

In den ersten Monaten erlebten wir eine sich verschärfende Kampagne gegen Deng Xiaoping, immer häufigere offene und versteckte Angriffe auf den verstorbenen Ministerpräsidenten Zhou Enlai und seine Politik. Dies führte zu wachsendem Unmut und Widerstand in der Bevölkerung; Anfang April, am chinesischen Volkstrauertag, kam es in Peking und anderen Landesteilen zu mehrtägigen Trauerkundgebungen, die schließlich blutig unterdrückt wurden. Deng Xiaoping wurde als angeblicher Drahtzieher aller seiner Ämter enthoben.

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Mit der Absetzung Dengs war die »Viererbande« auf dem Höhepunkt ihrer Macht und ließ es die Bevölkerung spüren: Verhaftungen und Hausdurchsuchungen, bei denen in Peking vor allem nach den beim Qingming-Fest veröffentlichten ›schwarzen‹ Gedichten gefahndet wurde, Pflichtdemonstrationen zur Begrüßung der offiziellen Beschlüsse, öffentliche Belobigung der Miliz für ihr hartes Durchgreifen bei den Unruhen, Begrüßungs- und Verurteilungsversammlungen in allen Betrieben, Instituten, Schulen, bei denen ›Unruhestifter‹ wie Verbrecher vorgeführt wurden – als ›Düsenjäger‹, Kopf und Rumpf nach vorn gebeugt, die Arme nach hinten gestreckt, bespuckt und dirigierten Massenbeschimpfungen ausgesetzt.

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Auch persönlich bekamen wir etwas von den Auswirkungen des Terrors zu spüren. Meine Frau hatte schon im Februar zu Beginn der Anti-Deng-Kampagne einen Druck mit dem Porträt von Deng Xiaoping angefertigt. Jetzt vernichtete sie die Platte und verbrannte die Abzüge sicherheitshalber in der Toilette. Das war keine Übervorsicht. Denn tatsächlich – so eine Hausgehilfin – wurde unser Hotelapartment Ende Mai, als wir auf einer Reise im Südosten Chinas unterwegs waren, von der Geheimpolizei durchsucht. Eine Leiterin der Peking Rundschau stattete uns im Hotel einen offiziellen Besuch ab, um uns in aller Schärfe zu verwarnen. Wir sollten »solche Dinge« in Zukunft unterlassen! Was für eine Ermutigung die Haltung des dolmetschenden Kollegen! Beim Abschied verharrte er noch einen Augenblick zwischen Tür und Angel, um uns wortlos, fest und lange beide Hände zu drücken.

[...]

Der Sturz der »Viererbande«

Das halbe Jahr von April bis Oktober 1976 war für China eine schwere Zeit. Die Unterdrückung der April-Unruhen hatte das Land in tiefe politische Depression gestürzt. Zhou Enlai war tot. Deng Xiaoping entmachtet. Dem todkranken Führer des Landes, Mao Zedong, scheinbar allgegenwärtig in Bildern und Zitaten, waren die Zügel aus der Hand geglitten. Am 6. Juli starb Zu De, zusammen mit Zhou Enlai und Mao Zedong einer der Männer des legendären Dreiergestirns des Langen Marsches. Bis zuletzt war er als einer der verhassten »bürgerlichen Demokraten« den linken Radikalen in den Weg getreten.
Am 28. Juli 1976 wurde Nordchina von einem furchtbaren Erdbeben heimgesucht, eines der größten Beben in der Geschichte der Menschheit und die schlimmste Naturkatastrophe des 20. Jahrhunderts. Die Millionenstadt Tangshan wurde dem Erdboden gleichgemacht. Hunderttausende sollen allein in dieser Stadt ums Leben gekommen sein. Der Hafen von Tianjin wurde schwer in Mitleidenschaft gezogen und auch die Hauptstadt Peking wurde getroffen.
Uns selbst riss das Beben tief in der Nacht aus dem Schlaf. Die Wände wackelten, Koffer stürzten vom Schrank, begleitet von einem fürchterlichen Ächzen des sich bewegenden Hauses. [...]
In den nächsten Wochen verwandelten sich die Straßen Pekings in eine Hüttenlandschaft. Die Menschen zogen aus ihren Häusern auf die Straße, bauten, um Nachbeben zu entgehen, aus Brettern und Hölzern aller Art Behelfsunterkünfte, aus Bambusstäben, Seilen, Decken, Betttüchern, Schirmen, Strohmatten, Planen, Plastikfolien, Schränken und Tischen. Mit der Zeit wurden diese Hütten immer weiter und besser eingerichtet. Es war Sommer, man kochte und aß draußen, man spielte Karten oder Brettspiele, und die Stadt glich bald einem einzigen Flüchtlingslager. [...]
Auch wir verbrachten die nächsten sechs Wochen – es gab einige leichtere Nachbeben – in Armeezelten auf dem Hof. In dieser turbulenten Zeit rückten wir, die Sprachexperten, die sich aus aller Welt im Yui Binguan eingefunden hatten, alle zusammen. Wir lernten uns näher und besser kennen [...]. Als Ursula vor dem Zelt sitzend sich von Mastidia das Haar in afrikanische Löckchen flechten ließ, kam eine englische Familie hinzu und fragte: »Don't you know what some people are talking about you? They call you Rightists and German rassists.« Some people, das waren deutschsprachige Kollegen, Anhänger der Viererbande.

Die Arbeit, täglich aus dem Wei Wenyu vorbeigebracht, wurde an einem kleinen Tisch sitzend vor dem Zelt erledigt, darunter auch der Leitartikel der Renmin Ribao vom 24. August 1976: Vertiefung der Kritik an Deng Xiaoping im Kampf gegen die Folgen des Erdbebens.

[...]

Am 9. September 1976 starb Mao Zedong, der Gründer und Lenker des neuen China. Ein dunkler Trauerschleier legte sich über das riesige Land. Doch lange konnte er nicht die Spannung überdecken, die China erfasst hatte. Die politische Krise drängte zur Entscheidung. Mit ängstlicher Sorge betrachtete Chinas Volk die Bilder von den Trauerfeierlichkeiten. Eines der offiziellen Fotos zeigte Jiang Qing als »Kaiserinwitwe«, einen Schritt hervorgetreten in der Mitte des Bildes, neben ihr die Drei aus Schanghai – Propagandachef Yao Wenyuan, der ehrgeizige Vizepremier Zang Chunqiao und der junge Aufsteiger Wang Hungwen! Hua Guofeng, der Erste Stellvertetende Parteivorsitzende und Ministerpräsident, schien an die Seite gedrängt. Doch der Schein trog.
Auch wir nahmen teil an den siebentägigen offiziellen Trauerfeierlichkeiten. In der großen Halle des Volkes am Platz des Himmlischen Friedens zogen wir in einer unendlichen Reihe von Trauergästen vorbei am Leichnam Mao Zedongs, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. [...]
Am einem Sonntag im Oktober 1976 klingelte um 10 Uhr morgens in unserem Apartment das Telefon. »Maozebahe, kommen Sie bitte sofort in die Druckerei des Wei Wenyu! Es gibt einen wichtigen Artikel zu übersetzen.« Ein Taxi fuhr mich zur Druckerei, wo ich in geschäftiger Aufregung erwartet wurde. Es war ein Leitartikel zu übersetzen, der am Montag in allen Zeitungen des Landes veröffentlicht werden sollte. Unter der Überschrift »Ein großer Sieg von historischer Bedeutung« wurden zwei Beschlüsse bekannt gegeben. Zwei Mao-Zitate, die diese Beschlüsse untermauern sollten und im Mittelpunkt des Artikels standen, wurden mir in englischer Fassung zum Übersetzen ins Deutsche vorgelegt. Um sicher zu gehen, ließ ich mir auch die chinesischen Schriftzeichen des Originals einzeln übersetzen. Immer wieder wurde erläutert und nachgefragt, bis man offenbar zufrieden war.
»Hast Du die Sache in der Hand, ist mir wohl ums Herz.«
Dieses Mao-Wort stammte vom April 1976 aus einem Schreiben an Hua Guofeng. Es sollte jetzt dessen Ernennung zum Parteivorsitzenden absegnen. Noch wichtiger aber war ein zweites Mao-Wort, das bisher nur unvollständig bekannt war:
»Sich zusammenschließen und nicht Spaltertätigkeit betreiben; offen und ehrlich sein und sich nicht mit Verschwörungen und Ränken befassen.«
Es wurde jetzt um die Sätze vervollständigt:
»Ihr sollt keine Viererbande bilden, lasst das sein. Warum macht ihr in dieser Weise weiter?«
Da war es, das Wort, das jetzt nicht nur in China die Runde machen und in der ganzen Welt sprichwörtlich werden sollte – auf Chinesisch »Si ren bang« (»Vier-Mensch-Bande«), auf Englisch »gang of four« und »Viererbande« auf Deutsch. Es war das Wort, mit dem die Vier gestürzt, die Kulturrevolution beendet und ein neues Kapitel der chinesischen Geschichte aufgeschlagen wurde.

Deng Xiaoping kehrt zurück

22. Oktober 1976

Lieber R. Peking,

die Volksmeinung kommt in einem Spruch über die vier letzten großen Kampagnen zum Ausdruck, der zur Zeit im Lande umgeht:
Nieder mit Liu Shaoqi – alle machen mit.
Nieder mit Lin Biao – alle sind perplex.
Nieder mit Deng Xiaoping – keiner versteht`s.
Nieder mit Jiang Qing – alle applaudieren.

Gestern Nachmittag haben auch in Peking große Freudendemonstrationen begonnen. Es war einer der schönsten Tage unseres Lebens, sicher der schönste unseres Aufenthalts in China. Eine Million Menschen zog durch die Hauptstadt zum Tienanmen-Platz, wo ein unbeschreiblicher Jubel und Trubel herrschte. Ein riesiger politischer Karneval. Auf die Riesenpauken (z.T. zu 2 oder 3 m Durchmesser) wurde eingehauen, als seien es die Hinterteile der vier Verhafteten, Musikkapellen, Gongs, Pauken, Geballer von Knallkörpern, Jubelrufe, Sprechchöre, Einheiten der Volksarmee mit umjubelten Armeeführern an ihrer Spitze, Matrosen, Arbeiter, Verkäuferinnen, Angestellte, tanzende Minderheitengruppen in ihren Nationaltrachten – ein Bild breiter Volkseinheit unter einem Meer von Fahnen und bunten Flaggen, Transparenten und großen Karikaturen der Jiang-Qing-Clique, – eine revolutionäre Oper mit einem breiten Applaus, wie ihn selbst die gewaltigen Demonstrationen der Kulturrevolution nicht gekannt haben. Diesmal durften seit der Kulturrevolution zum ersten Mal auch Ausländer wieder teilnehmen. Wir zogen in der Marschkolonne unseres Amtes mit. Die Demonstrationen sollen drei Tage dauern und am Sonntag mit einer gewaltigen Kundgebung auf dem Tienanmen-Platz, an der auch wir teilnehmen werden, ihren Abschluss finden.

Herzlichst Florian und Ursula

[...]

1973 hatte Zhou Enlai im Zuge der neuen Öffnung des Landes Künstler aus der Zeit vor der Kulturrevolution aufgefordert, Räume des Peking Hotels mit Gemälden chinesischer Tradition auszustatten: »Ausländische Gäste schlafen schlecht unter roten Fahnen.« Jiang Tjing ließ daraufhin ausgesucht düstere Werke dieser Künstler öffentlich als ›Schwarze Kunst‹ anprangern: Acht Lotusblüten auf dunklem Blättergrund galten als Angriff auf ihre ›Acht Musteropern‹. Mao nahm die Künstler in Schutz: »Jiang Tjing soll froh sein, wenn man ihre Musteropern mit Lotusblüten vergleicht.«
In den offiziellen Verlautbarungen über den Sturz der Viererbande war zwar weiterhin, wenn auch beiläufig und formelhaft, von der Kritik an Deng Xiaoping die Rede, die Stimmung in der Bevölkerung aber war eine andere. Als auf der Demonstration, an der wir mit den Mitarbeitern des Fremdsprachenverlags teilnahmen, unsere Freundin Aysha aus Daressalam ein Bild von Deng Xiaoping hochhielt und herumreichte, gab es großen Beifall. Es war ein neuer Holzschnitt meiner Frau: Deng als Steuermann, die Hand als Wegweiser erhoben, darunter in chinesischen Schriftzeichen und auf Englisch »Against the tide« – ein ironisches Zitat der Viererbande.

[...]

Von nun an wendete sich die Lage rasch zum Besseren. Kaum waren die neuen Nachrichten in unserem Verlag bekannt geworden, versammelte sich die deutschsprachige Abteilung zu einer spontanen Feier, bei der kräftig und fröhlich angestoßen wurde. (Auch die eifernden Anhänger der Vier aus Frankfurt am Main und Wien griffen prompt zum Sektglas!) Die Atmosphäre im Büro entkrampfte sich. Die Beziehungen zu unseren chinesischen Kollegen wurden freundschaftlich, ja herzlich, und auch das politische Gespräch mit ihnen wurde für chinesische Verhältnisse geradezu freizügig. Dass nun sogar politische Witze kursierten und auch wir Ausländer mitlachen durften, zeigte am besten, wie sehr sich das Blatt gewendet hatte:
Deng besucht mit seinem Enkelkind den Vorsitzenden Mao. Der tätschelt dem Kind die Wange und sagt: »Du kannst ruhig Mao Shushu zu mir sagen – Onkel Mao.« Das Kind aber schüttelt schweigend den Kopf. Da nimmt Mao einen Apfel aus der Schale neben sich und reicht ihn dem Kind. Das Kind nimmt den Apfel und sagt: »Xiexie, Mao Shushu – Dankeschön, Onkel Mao!« »Da siehst Du, Vorsitzender,« bemerkt Deng, »was so ein kleiner materieller Anreiz alles bewirken kann.«

Wie in den Witzen und Anekdoten drehte sich damals alles um Deng Xiaoping und seine erhoffte Rückkehr. Im Januar kam es am ersten Todestag von Zhou Enlai zu Gedenkkundgebungen und in einer Flut von Wandzeitungen zur Forderung nach der Rehabilitierung Dengs und des »Tienanmen-Zwischenfalls«, verbunden mit scharfen Angriffen gegen die Bremser in der Führung. [...]

Mitte Juli wurde Deng offiziell rehabilitiert und in alle seine Funktionen wieder eingesetzt. Über meinem Arbeitsplatz hing wieder ein Bild von ihm, diesmal unangefochten – der Holzschnitt meiner Frau, mit der Aufschrift »Gegen die Strömung«.
In einem Brief, der auch von anderen Experten im Youyi Binguan mit unterzeichnet wurde, wünschten wir Deng Xiaoping Glück und Erfolg: »Durch Ihren Mut, ihre Zähigkeit und Unbeugsamkeit und Ihren unerschrockenen Witz sind Sie zu einer Symbolfigur im Kampf gegen die ›Viererbande‹ geworden.« Auf einer kleinen Versammlung wurde den Unterzeichnern feierlich der Dank Deng Xiaopings übermittelt. Bei dieser Gelegenheit wurden wir vom Leiter des Expertenbüros rehabilitiert:
»Einige von euch haben, als die Viererbande ihr Unwesen trieb, ihre Sympathie für Genossen Deng Xiaoping zum Ausdruck gebracht und dem Einfluss der Viererbande trotzend einen festen Standpunkt bezogen. Wir drücken unsere Hochachtung aus und wünschen von euch zu lernen.«
»Ende gut, alles gut!«. Unter diesem Motto hatten wir zum Abschied unsere Kollegen ins Hotel eingeladen. Es wurde eine fröhliche, ausgelassene Feier. Nachdem westlicher Gesellschaftstanz in der Kulturrevolution als ›bürgerlich dekadent‹ verboten war, forderte ich zum guten Schluss unsere älteste Kollegin zum Tanz auf. Lao Yang war aus Schanghai und hatte, wie sich zeigte, das Tanzen nicht verlernt. Es war wohl der erste Wiener Walzer in China nach der Kulturrevolution.

[...]

Freiheit für Ai Weiwei!

 

Von der Redaktion stark gekürzte Version.

 

 

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