von Hans Erler

1923 schreibt der deutsche Rabbiner und Religionsphilosoph Leo Baeck in einem Beitrag für die Wochenzeitung Die Tat über die »Bedeutung der jüdischen Mystik für unsere Zeit« und unterscheidet dabei eine jüdische »Mystik des Lebens« von allen anderen Mystiken, die er als »Mystiken des Sterbens« kennzeichnet:

»In der Entwicklung der Mystik hat die jüdische ihren besonderen Weg. Alle Mystik sonst will in ihrem wesentlichen die Erlösung vom Willen aufzeigen, von ihm und darum von allem, was ihn bestimmt, was ihn verpflichtet oder führt, ihn fordert oder versucht, von allem, worin er sein Gebiet findet, sei es die Welt mit ihren Gestaltungen und Ordnungen, sei es das Leben mit seinen Richtungen und Zielen, sei es schließlich die Gottheit mit ihren Schöpfungen, ihren Gedanken und ihren Geboten. Sie will von allen Motiven entbinden. All diese Erlösungsmystik ist darum Erlösung vom Ich; denn als wollendes Wesen wird der Mensch ein Ich, eine Persönlichkeit. Und sie wird an ihrem letzten Ende nihilistisch, ihr Ziel ist das Nichts; denn jeder Wille bedeutet ein Ja, und nur das Nein und das Nichts können ganz von ihm befreien. Ihr Lieblingswort ist daher das vom Aufhören und Sterben, vom Ertrinken und Versinken, vom Vergehen und Erlöschen, vom Nichtsein und vom Nirwana; ›in Gott ein froher Untergang‹. Ihre äußerste Sehnsucht ist, wann immer sie bis zum äußersten hin träumte und sann, die Erlösung der Menschheit von sich selbst, der Tod von allem was lebt. Ob die Mystik von der ›Vergottung‹ spricht, wie die christliche, oder ob sie, wie der Buddhismus, auch in der Gottheit ein Hemmnis der Erlösung sieht und die Gottheit auch ins Nichts auflöst, es ist immer dasselbe; immer ist diese unio mystica eine Verdampfung des Persönlichen, eine Verwandlung von Gott und Welt und Leben und Ich in den einen und gleichen Aggregatzustand, in den einen Ozean, in dem alles ineinander geworden, um in ihm nur das ganz Unmittelbare, diese Einigung, in der alles eins ist und aller Wille dadurch von sich selber erlöst worden, zu besitzen. [...]
Es ist das Besondere der jüdischen Mystik, dass sie gegenüber dieser Mystik des Sterbens, dieser passiven Erlösungsmystik, eine Mystik des Lebens sein will.« (Baeck 1997: 86f.)

In der »Mystik des Sterbens« ist der Mensch außerhalb der jüdischen Religion groß geworden. Sie hat er in sich aufgesogen. Sie macht ihn blind für das Leben und blind für den Tod. Die Mystik des Sterbens »kennt keine eigentliche Liebe« und damit auch keine eigentliche Verantwortung. In ihrem Bannkreis »wird Leben nach Auschwitz so fortgesetzt, als habe sich das Ereignis nicht zugetragen« (Diner 1988: 8). Die Welt, die wir – Juden und Nichtjuden – erfahren, ist das Produkt eines Handelns aus dem Geist einer »Mystik des Sterbens« – jedenfalls soweit, als es der Mystik des Lebens nicht gelungen ist, Strebepfeiler in das Gewölbe der Welt einzuziehen.
Erst die Französische Revolution hat die Tore der Ghettos aufgesprengt, mit denen die nichtjüdische Welt den Geist des Judentums von der Konkurrenz in der Gestaltung der Welt ausschloss. Die Französische Revolution brach das Monopol der Mystiken des Sterbens. Das »Besondere der jüdischen Mystik«, dass sie »eine Mystik des Lebens sein will«, konnte nun versuchen, sich Gehör und Einfluss auf die Gestaltung der Welt zu verschaffen. Ihr Werk war die Geburt der Sozialdemokratie – aus dem Geist des Judentums.

Die Erinnerung an vier die Sozialdemokratie in unverwechselbarer Weise bestimmende Gestalten – Moses Hess, Karl Marx, Ferdinand Lassalle und Eduard Bernstein – kann in diesem Kontext nicht mehr als eine Anmerkung zur Erfolgsgeschichte des politischen Judentums des 19. Jahrhunderts und der Karriere des von ihm formulierten Begriffs der politischen Gerechtigkeit sein. Die fast vollständige Vernichtung des europäischen geistig-politischen Judentums in der Mitte des 20. Jahrhunderts war der Preis, den der Kernbezirk des christlichen Abendlandes, Deutschland, durch seine Ermächtigung des Nationalsozialismus Juden für dieses Mitgestaltenwollen der Welt aus dem Geist einer Mystik des Lebens abverlangt hat. Dieser Preis – Auschwitz – zeigt an, welches weltliche Vernichtungspotential in den »Mystiken des Sterbens« aufbewahrt ist und wozu sie zu führen und zu verführen imstande sind. Es kann also nur ein theoretisches und praktisches politisches Ziel geben: die »Mystiken des Sterbens« in »Mystiken des Lebens« zu verkehren. Jüdischer Geist hat dies im 20. Jahrhundert vor Auschwitz und – herausgefordert durch Auschwitz – im Zeichen auch der »Kritischen Theorie« (vgl. Erler u.a. 1997) unternommen.

Die folgenden Anmerkungen zu Hess, Marx, Lassalle und Bernstein beschränken sich auf den Aspekt des spezifisch Jüdischen in Korrelation zur Idee der Sozialdemokratie im Ansatz ihres Denkens. Nur soweit wir diesen Aspekt in seiner grundsätzlichen Unterschiedenheit von der christlichen und, wie Baeck ausführte, allen anderen Glaubensphilosophien, allen anderen Mystiken erkennen, verstehen wir den einzigartigen universalistischen Beitrag des jüdischen Geistes zur Humanisierung der sozialen und politischen Geschichte der Menschheit in den vergangenen 200 Jahren.

Ernst Ludwig Ehrlich äußerte dazu 1990 in einem Vortrag:

»Das Judentum besitzt von der Zeit seiner Propheten her den Gedanken der Verpflichtung gegenüber dem Mitmenschen und zugleich die Verantwortung für ihn. Vom Judentum ist dieser Gedanke in die Welt gegangen … Der andere ist derselbe wie ich, er ist Wesen von meinem Wesen; … ›Du sollst deinen nächsten lieben, denn er ist wie du.‹ Daraus hat das Judentum ganz konkrete Folgerungen gezogen, die sich etwa in einem Begriffe zusammenfassen lassen … ›Gerechtigkeit‹. Mit seiner Erfüllung haben wir das getan, was uns als Menschen aufgegeben ist. [...]«

Ehrlich schloss seinen Vortrag mit dem Satz: »Judentum ist die Verwirklichung des Sozialismus, Sozialismus ist die Verwirklichung des Judentums.« (Ehrlich 1990). Was unter dem Geist, dem Wesen des Judentums zu verstehen ist, ist auch fast hundert Jahre nach dem Erscheinen von Leo Baecks Antwort Das Wesen des Judentums auf die 1900 erschienene Vorlesungsreihe Adolf von Harnacks Das Wesen des Christentums (Harnack 1999) unstrittig.

Judentum – Leo Baeck (*1873 Lissa – 1956 London)

»Es ist das Besondere der jüdischen Mystik, dass sie eine Mystik des Lebens sein will« Leo Baeck

Es sind nur Tupfer aus dem Denken des Religionsphilosophen und Rabbiners Leo Baeck, die hier genügen müssen, die Weite des Horizonts und die Verwurzelung im Menschlichen anzudeuten, die wohl alle Facetten emanzipierten Judentums im 19. und 20. Jahrhundert auszeichnen. Sie mögen eine Ahnung davon vermitteln, welche Dimensionen die »Mystik des Lebens« anklingen lässt und warum gerade sie dazu angetan war, in den hier erinnerten Protagonisten der Sozialdemokratie der Kultur der Demokratie einen unauslöschlichen Platz im politischen Bewusstsein der Menschheit zu erobern. Seine Überlegungen zum Wesen des Judentums gliedert Baeck in den »Charakter des Judentums«, die »Ideen des Judentums« und die »Erhaltung des Judentums«. [...]

Die jüdische Religion will Religion im Leben sein, sie soll »gelebt werden, sie soll nicht eine bloße Erfahrung des Lebens sein, sei es auch seine tiefste, sondern seine Erfüllung« (Baeck 1925 [1998]: 84). Das ist die Mystik des Lebens. Zu ihr öffnet sich kein Zugang, solange das »Bild vom Fortleben nach dem Tode, diese Welt der Phantastik«, spricht. »Das Gebot des Menschen, das Gebot: du sollst leben, tritt … vor alle Fragen des Jenseits.« Die Mystik des Lebens steht im Bann der Schöpfungsgeschichte: »Gott sah, dass es gut sei.« (ebd.: 69). Wenn das, was ist, gut ist, ist kein Tod am Kreuz und keine Auferstehung, kein Christus von Nöten. Die Herausforderung für den Menschen besteht dann nur in der unendlichen Vertiefung in die Erkenntnis und die Aufgabe, mit den Augen Gottes auf das zu schauen, was ist, und all das zu tun und dafür zu sorgen, dass es gut sei. Deshalb kennt das Judentum nicht den »Zwiespalt zwischen Glauben und Leben« und nicht den »Kampf zwischen Glauben und Wissen«, vielmehr sucht es seine Bewährung im Leben (vgl. ebd.: 71). Es kennt daher auch keine »exklusive(n) Frömmigkeit« (ebd.: 76). Deshalb »fehlt« ihm die »Kirche«, und deshalb kennt Judentum nur die »Gemeinde« (ebd.: 274) und nichts sonst.

Statt sich in die Phantasiewelten zu verlieren, die das Bild vom Fortleben nach dem Tode suggerieren, sich dort zu verausgaben und der Welt zu entziehen, ist die Zukunft im Jüdischen konkret und ethisch erfüllt. Den ersten Abschnitt seiner Religionsphilosophie, »Charakter des Judentums«, fasst Baeck deshalb folgendermaßen zusammen: »Wenn die Hoffnungen auf die Zukunft der Menschheit … dargestellt wurden, so war dieses Ideal immer ein Ideal des rechten Handelns, der sittlichen Vervollkommnung, der Verwirklichung des Guten: die messianische Zeit wird gekommen sein, wenn alle Menschen das Böse meiden und das Gute tun« (ebd.: 86). Zu den »Ideen des Judentums« zählt Baeck lediglich zwei: »Glaube an Gott« (ebd.: 111) und »Glaube an den Menschen« (ebd.: 178). Vom Christentum unablösbar sind drei Ideen, die sich in der Lehre von der Trinität zusammenfassen; in ihr kommt der Mensch allerdings nicht vor. Auf dieses Festhalten, nicht Überschreiten von zwei Ideen bzw. Glaubenskategorien – Gott und Mensch in exklusiver Korrelation – führt Baeck zurück, »dass in allen großen, entscheidenden geistigen Bewegungen seit zwei Jahrtausenden Israels religiöse Ideen gewirkt haben, – es sei nur auf die religiöse Erneuerung in der Zeit der Renaissance und auf den Sozialismus hingewiesen« (ebd.: 82).

Wie Baeck zwischen der jüdischen Mystik des Lebens und den Mystiken des Sterbens (vom Christentum bis zum Buddhismus) unterscheidet, so sieht er jede Religion »auf das Grundproblem von Optimismus und Pessimismus« zurückgehen, »auf die Grundfrage, ob das Dasein einen Sinn hat, ob es eine Weltordnung gibt, die zum Guten ist, oder nicht« (ebd.: 111ff.). Und das Judentum ist in dieser Betrachtungsweise die Religion der »sittlichen Bejahung der Welt, die Welt des sittlichen Optimismus«, des »wollenden Glauben(s) an das Gute«. Weil es der jüdischen Religion um das Konkrete, Innerweltliche des Menschen und die ihn einschließende Schöpfung geht, ist sie die »einzige unter den Religionen«, die »keine … Mythologie geschaffen« (ebd.: 117ff.) hat. Aus dem Glauben an Gott und den Menschen ergibt sich im Judentum eine dem Christentum entgegengesetzte, besser: vor-gesetzte Trinität: der »Glaube an uns« (ebd.: 178), der »Glaube an den Nebenmenschen« (ebd.: 215), der »Glaube an die Menschheit« (ebd.: 249). In dieser, dem Christentum vor-gesetzten Trinität »wohnt die Gewissheit, dass das Gute verwirklicht werden wird, dass ihm die Zukunft gehört«.

Vor »der christlichen Religion«, so Baeck daher, »darf das Judentum die Eigenart seiner messianischen Idee betonen: die Bestimmtheit, mit der in ihm das Gottesreich nicht als ein Gewordenes, sondern als ein Werdendes, nicht als ein Glaubensbesitz der Erkorenen, sondern als die sittliche Aufgabe aller erkannt worden ist … Die ganze Menschheit ist auserwählt … Des Menschen Glaube ist, dass er an Gott glaubt und darum an die Menschheit, nicht aber, dass er an einen Glauben glaubt.« (ebd.: 275)

Leo Baeck hat das Jüdische am Judentum und an der jüdischen Religiosität idealtypisch reflektiert und festgehalten: So ist sie jedem Juden wohl mehr oder weniger bewusst; sie bestimmt ihn, leitet sein Urteilen und Handeln – hinter ihm, unter ihm erstreckt sich die Mystik des Lebens, lebt er aus der Mystik des Lebens, die ihn umgibt und durchtränkt. In einem derart ausgelegten Universum wächst jeder Jude auf, wird jeder Jude erwachsen: Die Versöhnung ist ihm keine vollbrachte, sondern »jede Zeit ist (ihm; H. E.) eine Zeit für die kommenden Tage, sie soll das Gottesreich gestalten, Einheit herstellen und Zukunft verwirklichen. Das ist die Bedeutung der Weltgeschichte. Der Glaube an die Menschheit spricht darin.« (ebd.: 276) Genauso selbstverständlich, mehr oder weniger reflektiert, leben Nichtjuden in ihren Mystiken des Sterbens, leben bewusst eine Geschichte, die sich im Nichts verläuft.

Der kurze Blick in Baecks Wesen des Judentums hat die zentralen geistigen und ethischen Triebkäfte und Lebenserfüllungsmuster jüdischer Befindlichkeit, wie sie das im Zuge der Französischen Revolution emanzipierte Judentum bestimmen konnten, erkennen lassen. Sie seien hier, losgelöst von dem Kontext, in dem Baeck sie formuliert hat, der Einprägsamkeit halber zusammengefasst.

Jüdischer Geist ist: Das Rechte sehen, das Gute erkennen, sich nicht dem Tag und Jahrhundert unterwerfen, Kraft des Widerspruchs gegen alle Gewalten, gegen alles, was herrschen und niederzwingen will, stetes Suchen, nie am Ende, nie fertig, stetes Fordern, der sich nicht abfindet, sich nicht zufrieden gibt, dieser nie ermüdende Wille zum Ideal, Gabe, die Zukunft zu sehen, zu ihr hinzurufen, eine Religiosität, die gelebt werden will, eine Religion der Erfüllung des Lebens, im Zeichen des Gebots: du sollst leben, ohne Zwiespalt zwischen Glauben und Leben, ohne Kampf zwischen Glauben und Wissen, seine Bewährung im Leben zu suchen, ohne exklusive Frömmigkeit, ohne Kirche, nur Gemeinde, Hoffnung immer als Ideal des rechten Handelns, der sittlichen Vervollkommnung, der Verwirklichung des Guten, Hoffnung auf eine Zukunft, in der alle Menschen das Böse meiden und das Gute tun, hat nur zwei Grundideen: den Glauben an Gott und den Glauben an den Menschen, in allen entscheidenden geistigen Bewegungen die Ideen Israels zur Wirkung gebracht zu haben, so u. a. in der Renaissance und im Sozialismus, Religion des sittlichen Optimismus, der wollende Glaube an das Gute, eine Religion ohne Mythologie, der Glaube an den Menschen, als Glaube an uns, den Nebenmenschen, die Menschheit, die Gewissheit, dass das Gute verwirklicht werden wird, ihm die Zukunft gehört.

Dieses Bündel von Motiven, Kräften und Strebungen kennzeichnet die jüdische Religiosität als »Mystik des Lebens«. Als diese findet sie sich auch im politischen und revolutionären Elan von Hess, Marx, Lassalle und Bernstein. Ohne sie wäre vermutlich die Sozialdemokratie nicht zu einer Weltbewegung in Konkurrenz mit dem Konservativismus geworden. Deshalb lässt sich mit einigem Recht von der jüdischen Sozialdemokratie sprechen. Die Statements zu Hess, Marx, Lassalle und Bernstein skizzieren die »Mystik des Lebens« der hier verhandelten Sache gemäß nur in den politisch-sozialen Dimensionen ihres Denkens.

Zweierlei bestätigt der Katalog jüdischer Lebensmotive:
1.    Es gibt, bei aller Bandbreite jüdischer Frömmigkeit eine jüdische Religionsphilosophie, die rein innerweltlich, aber ethisch als bewusster – gewollter – Glaube an das in der Welt zu verwirklichende Gute gemeinsam mit allen Menschen dem Christentum vor-gesetzt ist und vom Christentum weder glaubensmäßig noch erkenntnistheoretisch abgelöst, überwunden, aufgehoben oder überboten worden wäre (vgl. Erler 1999: 246-354).

2.    Diese Religionsphilosophie lässt sich im sozialdemokratischen Handeln aufspüren, einer Sozialdemokratie, die von Hess, Marx, Lassalle und Bernstein ganz wesentlich aus dem Geist des Judentums entwickelt, konkretisiert, aktualisiert und zu politischer Macht im Zeichen der Demokratie als der Ordnungsform politischer Gerechtigkeit geführt wurde. Gerade der Gedanke der Gerechtigkeit ist zentral im jüdischen Denken verankert.

3.    Warum die Sozialdemokratie die jüdische Religionsphilosophie als ihr Dossier nicht explizit reklamiert hat, muss hier undiskutiert bleiben. Festhalten lässt sich jedoch, dass sie auf die Betonung dieses sie tragenden Traditionsstroms keinen Wert gelegt hat. Eher lässt sich der Eindruck gewinnen, dass sie sich dieser Wurzeln kaum mehr bewusst ist. Heute aber, mehr als ein halbes Jahrhundert nach Auschwitz und nach der Implosion des Sowjetsystems, gibt es Gründe, dieses Dossier zu reklamieren, damit sich der demokratischen politischen Kultur ihre Substanz erschließt.

Moses Hess (*1812 Bonn – 1875 Paris)

»Der Geist des Judentums ist ein sozialdemokratischer von Haus aus« Moses Hess

Am 6. April 1875 starb Moses Hess in Paris. Auf eigenen Wunsch wurde er in Köln auf dem jüdischen Friedhof im Stadtteil Deutz zwischen den Gräbern seiner Familie am 8. April 1875 beerdigt. Die hebräische Grabinschrift schließt mit dem Satz: »Möge seine Seele festgebunden sein in den Lebensbund.« 1903 fügten die Kölner Sozialdemokraten die Inschrift »Vater der deutschen Sozialdemokratie« (Silberner 1966: 650) hinzu. Über seine Herkunft schreibt Barbara Happe-Nolden: »Seine Eltern sind jüdische Kaufleute, die ihn, als sie 1816 oder 17 nach Köln übersiedeln …, in Bonn bei seinen Großeltern zurücklassen, damit er dort eine orthodoxe jüdische Erziehung genieße.« (Happe-Nolden 1983: 7).

Seit »seinem Erstlingswerk Die heilige Familie der Menschheit (1837) lebt Hess in einer einheitlich konzipierten Welt …, deren Grundlage das Jerusalem der mosaischen Gemeinschaft war und deren Ziel das Neue Jerusalem des sozialen Menschen ist« (Na’aman 1982: 7). Eine solche zeitliche Ausdehnung hatte die jüdische Herkunft als Konstituens seines Fühlens, Denkens und Wirkens, und mit dieser Ausstattung wurde er »... unbestritten der erste philosophische und publizistische Vertreter des gesellschaftskritischen und gesellschaftsreformerischen Kommunismus in Deutschland. Als solcher hat er Friedrich Engels gewonnen und sind von ihm Impulse ausgegangen, die Karl Marx erreicht haben ... Hess hat bei der Umbildung des reformerischen Kommunismus in den historisch orientierten revolutionären Fortschrittskommunismus, der bald Marxismus getauft wurde ... aktiv teilgenommen. Dabei endete er als das intellektuelle Haupt eines Oppositionskommunismus, der sich zwar der Marxschen Geschichtsauffassung, wie sie das Kommunistische Manifest vertrat, verhaftet fühlte, aber gegen die Revolutionsauffassung von Marx und Engels Einspruch erhob« (ebd.: 5).

1862 erscheint von Moses Hess die fiktive Briefsammlung Rom und Jerusalem, die ihn auch zum Vater des Zionismus werden lässt. Am 9. Oktober 1961 wurden auf Initiative der Allgemeinen Jüdischen Arbeiterorganisation in Israel »seine und seiner Eltern Gebeine« (Silberner 1966: 650) nach Israel überführt. Hess hat in Rom und Jerusalem die Wurzeln eines primitiven deutschen Judenhasses freigelegt, der die nationalsozialistische Vernichtungspolitik nicht ausschloss: »Der deutsche Jude ist wegen des ihn von allen Seiten umgebenden Judenhasses stets geneigt, alles Jüdische von sich abzustreifen und seine Rasse zu verleugnen ... Selbst die Taufe erlöst ihn nicht von dem Alpdruck des deutschen Judenhasses. Die Deutschen hassen weniger die Religion der Juden, als ihre Rasse, weniger ihren eigentümlichen Glauben, als ihre eigentümlichen Nasen.« (Hess 1935: 25). Heute, fast 150 Jahre später – und nach der Vernichtungspolitik des Nationalsozialismus – müssen wir feststellen: Juden in Europa wurden Opfer eines dreifachen Hasses – als »Rasse«, als hartnäckige Verteidiger der Religion des Judentums und als offensive Vertreter sozialdemokratischer Gesellschaftsordnungskonzepte.

In dem Text Mein Messiasglaube schreibt Hess: »Religion, Philosophie und Politik lassen mich kalt, wenn sie die Lage der arbeitenden Klasse nicht durch Institutionen verbessern helfen, welche jedem Kastengeiste, jeder Klassenherrschaft ein Ende machen. Das Judentum kennt aber keinen Kastengeist und keine Klassenherrschaft. Der Geist des Judentums ist ein sozialdemokratischer von Haus aus.« (Hess 1905: 6).

Edmund Silberner schließt seine Hess-Biographie mit den Worten: »Hess glaubte, dass in einer demokratischen Republik alle sozialen Reformen allmählich und ohne Bürgerkrieg durchgeführt werden könnten. Als Voraussetzung dafür betrachtete er eine gutorganisierte Arbeiterbewegung ... Würde Hess heute auferstehen, so würde ihn der soziale Wohlfahrtsstaat im Westen gar nicht verwundern. Er hat ihn vorausgesehen ... Er würde aber die sozialistische Gesellschaft, für die er lebte und kämpfte, aufs bitterste vermissen.« (Silberner 1966: 660). Die Geburt der Sozialdemokratie aus dem Geist des Judentums – Hess’ Psychogramm und Vita belegen das. Aber wie wäre zu erklären, was Silberner unterstellt, dass für Hess nicht der heutige westliche Wohlfahrtsstaat als solcher das Ziel gewesen sein könnte, sondern er in ihm »aufs bitterste« die sozialistische Gesellschaft vermisst hätte?

Hess’ politische Schriften stehen in einem Horizont – ohne Bürgerkrieg und Revolution –, der von dem Ausstehen eines allgemeinen Freiheitsverständnisses zeugt, das so nur aus einem Geist wie dem des Judentums erfahren und grundgelegt werden kann. Hess hat dem einen Titel gegeben: Philosophie der Tat, oder: Die eine und ganze Freiheit. Hier formuliert er 1843, was sich als politische Gerechtigkeit bestimmen lässt. [...]

Politik aus der Idee der Sozialdemokratie kann für Hess nur sein, die Gesellschaft mit solchen Institutionen auszustatten, dass die eine und ganze Freiheit jedem Menschen Lebenswirklichkeit wird. Das ist die auch im Wohlfahrtsstaat noch »aufs bitterste« vermisste sozialistische Gesellschaft. Aspekte der Mystiken des Sterbens sind auch mit dem Wohlfahrtsstaat verträglich. Es gilt, über ihn noch hinauszugehen. [...]

Bereits 1846 trennt sich Hess von dem »Revolutionär« Marx, mit dem er seit Anfang der vierziger Jahre zusammengearbeitet hat, und seiner »Partei«, weil Marx – wie Hess später schreibt – kein »organisatorisches Talent« (zit. n. ebd.: 508) besitze: »Gehab Dich wohl! Mit Dir persönlich möchte ich noch recht viel verkehren; mit Deiner Partei will ich nichts mehr zu tun haben.« (zit. n. ebd.: 258). Damit war der intellektuelle Oppositionskommunist in die Arena gestiegen. Hess wollte nicht nur kritisieren – »Die Revolution als Zweck, die Kritik als Mittel, das ist Marx« (ebd.: 619) –, sondern die eine und ganze Freiheit erfolgreich organisieren. Am 23. Mai 1863 wird er auf der konstituierenden Sitzung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV) unter der Präsidentschaft Ferdinand Lassalles, der gerade zu dessen erstem Präsidenten gewählt worden war, zum Bevollmächtigten für Köln ernannt. Am 18. Juni 1863 hält er in Köln eine Rede, die er unter das Thema Rechte der Arbeit stellt. Sie wird als Broschüre gedruckt und an alle Vereinsmitglieder verteilt. 15 Jahre nach Erscheinen des Kommunistischen Manifests, das die Revolution prognostizierte, sie für notwendig erklärte und die »Diktatur des Proletariats« einforderte, erklärt Hess kategorisch (womit er bereits die von Eduard Bernstein erst fast 40 Jahre später ausgearbeitete Revison des Marxschen historisch-dialektischen Entwicklungskonzepts vorweggenommen und in die politische Alltagsarbeit eingebracht hat): »Die Bedürfnisse der Arbeit und der Arbeiter können nur durch eine Umgestaltung unserer heutigen Produktionsweise befriedigt werden, für welche die Diktatur der besitzlosen Klasse die definitive politische Form nicht ist.« Er fährt fort: »wenn das Recht auf Arbeit eine Umgestaltung unserer ganzen Produktionsweise zuwege bringt, so kann das weder eine plötzliche noch eine gewaltsame sein. … Revolutionen können nur das allmählich Gewordene zur politischen Geltung bringen« und endet die Kritik an Marx’ (und Engels’) Revolutionsauffassung:

»Soziale Revolutionen in dem Sinne, den ihnen kommunistische Fanatiker beigelegt haben, sind Phantasien, welche ins Irrenhaus gehören. Man kann durch keinen gewaltsamen Eingriff in die Produktionsweise eine bessere Verteilung der Güter bewirken, weil ein solcher Eingriff ... die Quelle der Gütererzeugung selbst verstopfen, die Produktion lähmen und die ganze Existenz der Gesellschaft bedrohen würde.« (Hess o.J.: 356) Zu dieser dann gedruckten Rede schreibt Lassalle an Hess am 28. August 1863: »Mit wahrhaftem und großem Vergnügen habe ich Ihre treffliche Schrift ›Rechte der Arbeit‹ gelesen und kann nicht umhin, Ihnen mein besonderes Kompliment für dieselbe zu machen. Es ist mir jede Zeile darin aus der Seele geschrieben, und die Prägnanz des Ausdrucks und der Darstellung macht die Lektüre zu einem Genuss« (Hess 1959: 434 f.).

Die einzige Konsequenz für eine Politik aus der Idee der Sozialdemokratie war nach dieser luziden Ablehnung von gewaltsamer Revolution die konsequente »Staatsintervention«, aber nur da, »wo sie allen produktiven Klassen von unzweifelbarem Nutzen ist« (ebd.: 357).

Karl Marx (*1818 Trier – 1883 London)

»Wenn du nach der Schöpfung der Natur und des Menschen fragst, so abstrahierst du also vom Menschen und der Natur … Denke nicht, frage mich nicht, denn sobald du denkst und fragst, hat deine Abstraktion von dem Sein der Natur und des Menschen keinen Sinn. Oder bist du ein solcher Egoist, dass du alles als Nichts setzen und selbst sein willst?« Karl Marx

Nach Hess’ Rede Rechte der Arbeit wirkte Karl Marx fremd in der Reihe der Väter der Sozialdemokratie. Schließlich hat Hess den Weg vorgezeichnet, den Lassalle, Bernstein und die Sozialdemokratische Partei Deutschlands bis heute gegangen sind: Staatsintervention, nicht Diktatur des Proletariats, Aufhebung des Privateigentums und Zentralverwaltungs-/ Planwirtschaft. An drei Begriffen kann dennoch die jüdische Tradition und ihre Korrelation mit der Idee der Sozialdemokratie deutlich gemacht werden: Schöpfung, Entfremdung, Kommunismus.

Im Mai 1875, vier Wochen nach dem Tod ihres Mannes, schreibt Sibylle Hess an das Ehepaar Jenny und Karl Marx: »Sie, werter Herr Marx, sind, wie mein Mann, ein im Dienst der Revolution ergrauter Kämpfer; möge Ihnen die Gesundheit ... noch lange erhalten bleiben, damit Sie der Sache (weiter dienen können), welcher Sie von frühester Jugend mit Hintansetzung aller Ihrer persönlichen Angelegenheiten geistig so genützt haben, dass niemand Ihnen den ersten Platz unter den Denkern der Sozialdemokratie streitig machen kann« (ebd.: 639).

Leo Baecks Ausführungen zum Wesen des Judentums haben die Distanz deutlich gemacht, die zwischen jüdischer und aller anderen Religiosität besteht, was das sie auszeichnende ist: Sie will Mystik des Lebens sein. Deshalb darf »nicht … von der Verwandtschaft Marxschen Denkens mit der großen abendländischen Philosophiegeschichte« ausgegangen werden, sondern »von deren Grundverschiedenheit« (Massiczek 1968: 24). Albert Massiczek, der m. E. den überzeugendsten Versuch unternommen hat, die (aus seiner Sicht Marx zwar unbewusste) jüdische Tradition im Denken von Marx offen zu legen, besteht darauf: »Marx war Jude und ist nur als Jude zu verstehen.« (ebd.: 25, vgl. Brumlik 2000: 316). Das bedeutet mit Blick auf die Marxforschung, dass »fast alle die bisherigen Wege in der Marx-Interpretation christlich-abendländische, daher praktisch antijüdische Binnenwege« sind, denn es sei unmöglich, »Marx’ Impulsen, damit aber Form und Inhalt seines Denkens nahe zu kommen ..., ohne dem Judentum und der jüdischen Art zu denken und zu handeln nahegekommen zu sein« (Massiczek 1968: 26). Dasselbe gilt dann auch, so lässt sich anfügen, von der Idee der Sozialdemokratie, sofern nicht soziale Empathie die Anhänglichkeit an die Sozialdemokratie verursacht.

Schöpfung

Auf die rhetorische Frage nach der Schöpfung antwortet Marx:

»Wenn Du nach der Schöpfung der Natur und des Menschen fragst, so abstrahierst du also vom Menschen und der Natur. Du setzest sie als nichtseiend und willst doch, dass ich sie als seiend dir beweise. Ich sage dir nun: Gib deine Abstraktion auf, so gibst du auch deine Frage auf, oder willst du an deiner Abstraktion festhalten, so sei konsequent, und wenn du den Menschen und die Natur als nichtseiend denkend denkst, so denke dich selbst als nichtseiend, der du doch auch Natur und Mensch bist. Denke nicht, frage nicht, denn sobald du denkst und fragst, hat deine Abstraktion von dem Sein der Natur und des Menschen keinen Sinn. Oder bist du ein solcher Egoist, dass du alles als Nichts setzen und selbst sein willst?« (Hillmann 1966: 85).

Marx hat in dieser Beantwortung der Frage nach der Schöpfung auf das Bestimmteste die jüdische Mystik des Lebens zur Geltung gebracht: Es gibt für den Menschen nur die Aufgabe des Lebens; Religion ist dann – wie Baeck sagte – Erfüllung des Lebens, und weil es jenseits des Lebens nichts gibt, ist Judentum die einzige unter den Religionen, die keine Mythologie geschaffen hat. Der jüdischen Erfahrung des Lebens als Aufgabe, die darin ihre Religion hat, entspricht, wie der protestantische Theologe Paul Tillich bemerkt hat, der »Gott der Zeit« (Tillich, zit. n. Massiczek 1968: 559-565). Alle anderen Religionen verfügen demgegenüber über »Raumgötter« (ebd.: 559). Die Raumgötter aber sind Produkte der von Marx beschriebenen unsinnigen Abstraktion und eines Egoismus, der Mythologien produziert und sich über die Mystiken des Sterbens identifiziert, wie Baeck sagt.

Kommunismus und Entfremdung

Der für das kritische Bewusstsein von Marx konstitutive Begriff der Entfremdung lässt sich nur im Kontext einer Mystik des Lebens verstehen, die ihre Verwirklichung im Kommunismus findet. Marx fasst die Aufgabe des Lebens als Arbeit, die ihre unentfremdete gesellschaftliche Wirklichkeit in einer Gesellschaft mit Institutionen, wie Hess sagte, ohne Kastengeist und ohne Klassenherrschaft findet, in der ›jeder tut, was er nicht lassen kann, und jeder unterlässt, was er nicht tun kann‹. [...]

Wie schon jüdischer Glaube sich fremd fühlt in Umwelten, die sich aus Mystiken des Sterbens aufbauen, um wie viel fremder muss Marx sich gefühlt und gedacht haben, da er doch das »aufgelöste Rätsel der Geschichte« vor sich auf dem Schreibtisch ausgebreitet hatte? Das Wissen um das Neue Jerusalem war ihm das Skalpell, mit dem er Geschichte und Gegenwart sezierte, um die sie durchziehenden Entfremdungsmomente und Entfremdungsstrukturen zu kritisieren. Allerdings: Nicht der Wohlfahrtsstaat als Produkt der Staatsintervention war ihm ein Etappenziel dorthin, sondern die Diktatur des Proletariats. In diesem Punkt hat sich Hess frühzeitig von Marx getrennt. In seiner Streitschrift gegen Proudhon erklärt Marx das politische und ökonomische System der Diktatur des Proletariats:

»Nimmt man die Arbeitsteilung in einer modernen Fabrik als Beispiel, um sie auf eine ganze Gesellschaft anzuwenden, so wäre unzweifelhaft diejenige Gesellschaft am besten für die Organisation ihres Reichtums organisiert, welche nur einen einzigen Unternehmer als Führer hätte, der nach einer im voraus festgesetzten Ordnung die Funktionen unter die verschiedenen Mitglieder der Gemeinschaft verteilt« (Marx 1960: 154f.)

Dieses ökonomisch-politische Gesellschaftsmodell hat Lenin mit der Russischen Revolution durchgesetzt, es ist als Sowjetsystem in sich zusammengebrochen. Marx hat dieses Konzept sein Leben lang nie wirklich in Frage gestellt, von Hess, Lassalle und Bernstein war es dagegen immer abgelehnt worden.

Im Kapital (1867), zwanzig Jahre nach der Abrechnung mit Proudhon, erklärt Marx mit Bezug auf die Robinsonwirtschaft: »Alle Bestimmungen von Robinsons Arbeit wiederholen sich hier, nur gesellschaftlich statt individuell. ... Alle Produkte Robinsons waren sein ausschließlich persönliches Produkt und damit unmittelbar Gebrauchsgegenstände für ihn.« Ebenso gilt für »einen Verein freier Menschen..., die mit gesellschaftlichen Produktionsmitteln arbeiten und ihre vielen individuellen Arbeitskräfte selbstbewusst als eine gesellschaftliche Arbeitskraft verausgaben«, dass das »Gesamtprodukt des Vereins ein gesellschaftliches Produkt« ist, und die »gesellschaftlich planmäßige Verteilung« der Arbeitszeit »regelt die richtigen Proportionen der verschiedenen Arbeitsfunktionen zu den verschiedenen Bedürfnissen« (Marx 1964: 92f.). Eine solche offensichtliche Zentralverwaltungswirtschaft, wie Walter Eucken diese Wirtschaftsordnung 1940 bezeichnen wird (vgl. Eucken 1944), hat nichts mit Hess’ Noch-Utopie aus dem Jahr 1843 zu tun, wonach Arbeit und Gesellschaft gar nicht organisiert werden sollen, sondern sich von selbst organisieren. Sie hat auch nichts mit einem Kommunismus zu tun, der die »wahrhafte Auflösung des Streits zwischen Freiheit und Notwendigkeit und das aufgelöste Rätsel der Geschichte« sein soll.

Bernstein wird dieses Gesellschaftsmodell im Hintergrund des Denkens von Marx als Reste von Utopismus, wie er die klassischen Utopiemodelle kennzeichnet, bestimmen (vgl. Bernstein 1921 [1964]: 13) – einen Aspekt, den Friedrich Engels mit seiner frühen Arbeit Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie (1843/44) (vgl. Engels 1964: 517) und später mit seiner Schrift Der Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft (vgl. Engels 1966: 105) popularisiert hat. So besteht nun erst recht auch zwischen dem »Glauben an uns, den Nebenmenschen und die Menschheit« und der Zentralverwaltungswirtschaft keinerlei logischer Bezug, da in dieser an die Stelle des Glaubens an die eigene Vernunft sowie die des Nebenmenschen und der Menschheit, das Misstrauen in den Menschen, repräsentiert durch den Plan, gesetzt ist. Marx ist in dieser Hinsicht tatsächlich ein Opfer der abendländischen-christlichen Utopietradition, die keine liberalen Utopien geboren hat (vgl. Freyer 1936).

Ferdinand Lassalle (*1825 Breslau 1864 Genf)

»Ich könnte mein Leben wagen …, die Juden aus ihrer jetzigen drückenden Lage zu reißen« Ferdinand Lassalle

Ferdinand Lassalle sei »zeitlebens seinem Judentum ausgewichen« – zu diesem Ergebnis kommt Shlomo Na’aman in seiner sozialgeschichtlichen Studie Ferdinand Lassalle – Deutscher und Jude (Na’aman 1968: 93). Lassalle wurde auf dem jüdischen Friedhof seiner Geburtsstadt Breslau beerdigt, allerdings »nicht, weil er es so wünschte« (ebd.: 95). Dagegen war es der Wunsch von Moses Hess gewesen, »bei den Gräbern seiner Familie« (Silberner 1966: 646) beigesetzt zu werden. So war bei Lasalles Begräbnis der Rabbiner »wegen der hohlen Phrasen, mit denen er Lassalles Judentum und Judesein aus dem Nichts hervorzaubern musste, nicht zu beneiden« (ebd.: 96).

Und dennoch: Lassalle wächst in einem Elternhaus auf, in dem »man einem aufgeklärten, feinsinnigen Judentum« anhängt, »dem jeglicher Fanatismus fremd ist. Man achtet die Traditionen und die Zeremonien, ohne ihnen allzu gewichtige Bedeutung beizumessen.« (Bleuel 1979: 32) Ein Jahr später, im Februar 1840, notiert er aus Anlass von Judenverfolgungen in Damaskus und anderen Städten des Vorderen Orients in sein Tagebuch: »Ein Volk, das dies erträgt, ist schrecklich ... es räche oder dulde die Behandlung. Gab es je eine Revolution, welche gerechter wäre als die, wenn die Juden in jener Stadt aufständen, sie an allen Ecken anzündeten, den Pulverturm in die Luft sprengten und sich mit ihren Peinigern töten? Feiges Volk, du verdienst kein besseres Los. Du bist zum Knecht geboren.« (ebd.: 34) Na’aman kommentiert diesen Eintrag immerhin so: »Die letzten Worte Lassalles über Widerstand gegen die Peiniger ... sollte man nicht leicht nehmen«, denn hier entdecke Lassalle »Paris und die französische Revolution« (Na’aman 1968: 25), wobei »der Liebe zur französischen Freiheit ... der Hass deutscher Untertänigkeit und jüdischer Feigheit« entspreche; dieser »Hass der deutschen Untertänigkeit lässt sich in Tätigkeit umsetzen ... Der Hass der jüdischen Feigheit bleibt in der Luft hängen.« (ebd.: 26) Nun liegen Untertänigkeit und Feigheit aber nah beieinander. Konnte Lassalle auch das Judentum »nichts mehr bieten«, so wollte er die Juden aber doch der »europäischen Freiheit zuführen«, denn wie ihm die »deutsche Freiheit ... kein deutsches Problem ist, sondern ein europäisches, denn alle Völker werden mit einem Schlag frei werden« (ebd.: 27), so würde auch das jüdische Volk frei werden.

Nachdem sich Lassalle 1842 Hegels Denksystem angeeignet und zu eigen gemacht hatte, waren ihm sowohl »sein Deutschtum wie sein Judentum« »klar und abgeschlossen« (ebd.: 31). Mit seiner Aneignung Hegels meinte Lassalle, sich auch den Standpunkt des Christentums zu eigen gemacht zu haben, in der Weise, in der Hegel das Christentum als absolute Religion, das Judentum aber als mindere Religion bewiesen zu haben glaubte. So schreibt Lassalle am 30. Juli 1844 in einem Brief an seine Mutter: »Die unendliche Tiefe liegt darin, dass in dem Christentum die Entfremdung des Geistes von sich selbst bis ins äußerste Extrem zugespitzt ist und noch weit hinausgegangen wird über den Riss des Judentums, dass aber zugleich andererseits und eben darum, weil dieser Zwiespalt seinen Gipfel erreicht, bereits die Versöhnung des Geistes mit sich selbst vorhanden ist« (ebd.: 124). Hegel hatte in seiner Philosophie des Rechts aus seiner Konzeption der Versöhnung des Geistes mit sich selbst auf die Versöhntheit der bürgerlichen Gesellschaft mit sich selbst durch ihr Rechtssystem geschlossen. Nur einige Zeilen weiter konstatiert hingegen Lassalle: »In unserer Zeit haben die Widersprüche in allen Sphären, religiösen, staatlichen, sozialen die höchstmögliche erstiegen, zur feinsten Spitze zugespitzt; und zugleich ist die Lösung aller dieser Widersprüche schon vorhanden.« (ebd.: 125) Mit Versöhntheit des Geistes und der Gesellschaft mit sich selbst hat das allerdings wenig zu tun. Die Lösung dieser Widersprüche war für Lassalle eine politische Aufgabe, denn »Politik ist die Praxis der Idee« (Bleuel 1979: 226), und die Idee der Lösung aller dieser Widersprüche sei schon vorhanden.

Am 3. Mai 1849 hat Lassalle sich vor einem Düsseldorfer Gericht gegen den Vorwurf zu verteidigen, im Zusammenhang der Revolution im November 1848 in Neuss die »Bürger gegen die Königliche Gewalt aufgereizt zu haben« (Lassalle, Bd. 3, o.J.: 369). Gleich zu Beginn seiner Rede stellt er klar, dass er »ein entschiedener Anhänger der sozialdemokratischen Republik« (ebd.: 370) sei. Zu Beginn der 1850er Jahre hält er dann vor Arbeitern in seinem Haus regelmäßig Vorträge zur Geschichte der sozialen Entwicklung. 1848 begann übrigens die Bekanntschaft und problematische Freundschaft mit Marx, die bis 1862 andauerte.

In seinen Vorlesungen variiert er die Idee der Sozialdemokratie:
»Die einzelnen werden in verschiedenen, günstigen oder ungünstigen Lebenslagen geboren. Sollten sie wirklich frei und unabhängig, gleich sein, so müsste diese Lage eine gleiche sein. Der einzelne ist nach dem Prinzip und unter der Herrschaft der Bourgeoisie zwar »frei« und nur von seinen individuellen Kräften abhängig. Allein um diese zu erzeugen, gehört Bildung, und diese selbst kann nur der erlangen, der mit Kapital, der von begüterten Eltern geboren wird. Gehören ferner Arbeitsinstrumente, also wieder Kapital, um das Erlernte zu verwirklichen und im Kampf der freien Konkurrenz seine Unabhängigkeit zu erkämpfen und zu bewahren.

Für die unbegütert Geborenen, für den, der weder Bildung noch Arbeitsinstrumente vorfinden und erlangen kann, ist also die Unabhängigkeit und Freiheit nicht vorhanden. Er ist vielmehr absolut abhängig … Diese Freiheit selbst (die die Französische Revolution versprach; H.E.), welche die Aufhebung aller Privilegien zu sein vorgibt ..., ist selbst nichts als die Errichtung eines neuen und zwar des härtesten Privilegs, des Kapitalbesitzes.« (zit. n. Bleuel 1979: 179)

Die Idee der Sozialdemokratie bedeutet die Aufhebung des härtesten Privilegs: das des Kapitalbesitzes. Es ist das neue und letzte Privileg, das der dritte Stand mit der Französischen Revolution durchgesetzt hat. Der vierte Stand, zur politischen Macht gelangt, wird dies Privileg aufheben.

Zehn Jahre später, am 12. April 1862, spricht Lassalle im Berliner Handwerker-Verein und erläutert sein Arbeiterprogramm: »Dieser vierte Stand, in dessen Herzfalten ... kein Keim einer neuen Bevorrechtung mehr enthalten ist, ist eben deshalb gleichbedeutend mit der gesamten Menschheit, seine Freiheit ist die Freiheit der Menschheit selbst, seine Herrschaft ist die Herrschaft aller. Wer also die Idee des Arbeiterstandes als das herrschende Prinzip der Gesellschaft anruft ..., der stößt nicht einen die Klassen der Gesellschaft spaltenden und trennenden Schrei aus; er stößt vielmehr einen Schrei der Versöhnung aus, einen Schrei, der die ganze Gesellschaft umfasst, einen Schrei der Ausgleichung für alle Gegensätze in den gesellschaftlichen Kreisen, einen Schrei der Einigung, in den(en) alle einstimmen sollten, welche Bevorrechtung und Unterdrückung des Volkes durch privilegierte Stände nicht wollen, einen Schrei der Liebe, der ... für immer der wahre Schrei des Volkes bleiben ... wird.« (Lassalle, Bd. 1, o.J.: 187f.)

Hieraus folgt die Staatsidee der Sozialdemokratie:

»Der Zweck des Staates ist somit der, das menschliche Wesen zur positiven Entfaltung und fortschreitenden Entwicklung zu bringen, mit anderen Worten, die menschliche Bestimmung – d. h. die Kultur, deren das Menschengeschlecht fähig ist – zum wirklichen Dasein zu gestalten; er ist die Erziehung und Entwicklung des Menschengeschlechts zur Freiheit ... Ein Staat also, welcher unter der Herrschaft der Idee des Arbeiterstandes gesetzt wird ..., würde mit höchster Klarheit und völligem Bewusstsein diese sittliche Natur des Staates zu seiner Aufgabe machen.« (ebd.: 196f.)

Der vierte Stand, der Arbeiterstand, ist für Lassalle »der Fels, auf welchem die Kirche der Gegenwart gebaut werden soll« (ebd.: 198)!

Am 1. März 1863 – zur Diskussion steht die Einberufung eines Arbeiterkongresses – meldet sich Lassalle erneut zu Wort: »Offenes Antwortschreiben an das Zentral-Komitee zur Berufung eines Allgemeinen Deutschen Arbeiter-Kongresses zu Leipzig«. Nun entwickelt Lassalle sein Konzept der Arbeiterbewegung. Dabei geht es ihm um ein Programm, »die normale Lage des gesamten Arbeiterstandes selbst zu verbessern« (Lassalle, Bd. 1, o.J.: 9). Wie Moses Hess bereits 1844 fordert Lassalle die Intervention des Staates, denn der Staat sei »überhaupt gar nichts anderes als die große Association der Arbeitenden Klasse«, und somit die Staatsintervention nichts anderes, »als die vollkommen natur- und rechtmäßige, vollkommen legitime soziale Selbsthilfe, welche die arbeitenden Klassen als große Association sich selbst, ihren Mitgliedern als vereinzelte Individuen, erweisen« (ebd.: 36).

Damit der Staat endlich diese Funktion wahrnehmen könne, fordert Lassalle als ersten Programmpunkt das allgemeine und direkte Wahlrecht, und zu seiner politischen Durchsetzung appelliert er: »Organisieren Sie sich als einen allgemeinen deutschen Arbeiterverein«, denn das allgemeine und direkte Wahlrecht sei nicht nur das politische, sondern auch das »soziale(s) Grundprinzip, die Grundbedingung aller sozialen Hilfe« und einziges Mittel, um die materielle »Lage des Arbeiterstandes zu verbessern« (ebd.: 37).

Am 23. Mai 1863 wird Lassalle für fünf Jahre zum ersten Präsidenten des ADAV gewählt. [...] Lassalle als Theoretiker und Politiker der Sozialdemokratie – dem Wesen seines Judentums ist er jedenfalls nicht ausgewichen.

Eduard Bernstein (*1850 Berlin – 1932 Berlin)

»Wir haben die Demokratie erkämpft, das Recht, von dem Lassalle den Arbeitern zurief: Es ist euer soziales Prinzip. Habt Vertrauen in die schöpferische Kraft dieses Rechtes, es wird euch sicherer zur sozialen Befreiung führen, als alle etwaigen brutalen Eingriffe in den so empfindlichen Organismus der modernen, hochentwickelten Volkswirtschaft.«

»In einem guten Fabrikgesetz kann mehr Sozialismus stecken als in der Verstaatlichung von etlichen hundert Unternehmungen und Betrieben.« Eduard Bernstein

»Die sozialdemokratischen Arbeiterbewegungen Westeuropas sind alle in größerem oder geringerem Ausmaß Vollstrecker des Erbes von Eduard Bernstein. Er war der erste bedeutende sozialistische Denker, der die fundamentalen sozioökonomischen Annahmen in Frage stellte, auf denen das Marxsche Revolutionsmodell basierte. ... Bernsteins credo ... sollte sich als ebenso einflussreich bei der Formung des Charakters der deutschen Sozialdemokratie erweisen wie die Lehren von Marx und Lassalle. [...]«

Bernstein war ein »Einzelgänger« unter den vielen »prominenten jüdischen Sozialisten seiner Generation«, der auffällt »durch seine Weigerung, sein Judentum zu tilgen, zu leugnen oder von sich zu weisen« (Wistrich 1978: 151). Dem entsprach, dass er »seine Glaubensgenossen« zu keiner Zeit aufforderte, »ihr Judentum aufzugeben«. Bernsteins »Hinneigung zum Sozialismus«  (ebd.: 153) erklärt Wistrich folgendermaßen: »Wie viele andere jüdische Intellektuelle, die sich der Arbeiterbewegung anschlossen oder in ihr während der Zeit des Verbots Bedeutung erlangten, fühlte er, dass es für die, die selbst verfolgt worden waren, ein moralischer Imperativ war, sich auf die Seite der Unterdrückten zu stellen.«  (ebd.: 155)

Und wie begreift Bernstein selbst das Wesen des Judentums, um hier die Formulierung Baecks aufzugreifen? Er äußerte sich dazu in der 1917 erschienenen Schrift Von den Aufgaben der Juden im Weltkriege. Dort, so erläutert Wistrich, »versuchte Bernstein zum ersten Mal, die jüdische Rolle in der Weltgeschichte ... von einer authentischen jüdischen Perspektive aus zu definieren« (ebd.: 162). Bernstein unterscheidet drei welthistorische Aufgaben, die sich aus Lage und Selbstverständnis des Judentums ableiten: (Der Rückblick auf den Zweiten Weltkrieg und Auschwitz bezeugen, wie schwach letztlich diese drei Ideen des Judentums – Monotheismus, politische Freiheit und Pazifismus – in der Welt tatsächlich waren.)

1.    Vor dem »Zeitgeist« seien »die Juden als religiöse Mittler (zurück zum reinen Monotheismus; H. E.) nun überflüssig geworden«, denn »in der ganzen Kulturwelt« hätten die »Gegensätzlichkeiten« zwischen den Religionen »doch an Schroffheit abgenommen ... und die Masse der Menschen« fasse die »konfessionellen Unterscheidungen viel leidenschaftsloser« auf »als in früheren Zeitaltern« (Bernstein 1917: 14f.). Bernstein weiß es, aber er verkennt die Folgen davon, dass die wirkliche Mittlerrolle des Judentums in der Neuzeit gar nicht stattgefunden hat: Die »Abschleifung und Abwerfung religiöser Dogmen ging einen anderen Weg und machte außerdem bei radikalen Denkern auch vor der Gottesidee nicht halt« (ebd.: 14).

2.    Als die »Ideen der großen französischen Revolution ihren Siegesmarsch durch die Welt nahmen«, ergriffen die jüdischen Intellektuellen begeistert »die Ideen der politischen Freiheit und des Weltbürgertums ..., von denen sie die politische Emanzipation und die soziale und geistige Hebung der großen Masse ihrer Stammesangehörigen erhoffen zu können glaubten. ... Sie mussten infolge ihrer ganzen Lage mit den Befreiungsbewegungen sympathisieren.« (ebd.: 22f.)

3. Da aber das »Judentum als Einheit begriffen durch die ihm von der Geschichte zugewiesenen Lage (als ›Gast vieler Völker‹, ebd.: 32) tatsächlich Weltbürgertum ist, so ist das weltbürgerliche Bewusstsein ... dem Juden ... ein Stück Erbe, das ihm stets gegenwärtig sein sollte« (ebd.: 46f.). Auf »Grund der Geschichte ihres Volkes sind die Juden die geborenen Pazifisten« (ebd.: 49) und so politisch die »Mittler der Nationen« (ebd.: 50).

[...]

Was fügt Bernstein nun der Idee der Sozialdemokratie hinzu, was nicht schon von Hess und Lassalle in sie eingebracht wurde? Beide waren sie gegen die gewaltsame Revolution, gegen den Klassenkampf und für die Staatsintervention. Als Voraussetzung dafür hatte Lassalle das allgemeine und direkte Wahlrecht gefordert. Wistrich schreibt, Bernstein war »auf seine stille, bescheidene, anspruchslose Art« dennoch »ein Häretiker und ein Bilderstürmer in seinem Umgang mit den heiligen Kühen des historischen Materialismus und dem Primat des Klassenkampfes« (Wistrich 1978: 151).

Leitmotiv für Bernsteins politisches Engagement war das kategorische Pflichtgebot, sich für die sozialen Befreiungsbewegungen einzusetzen. Marx war 1883, Engels 1895 gestorben. 1899 erschien Bernsteins Schrift Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie. Worum es ihm geht, sagt er im Vorwort: »durch Bekämpfung der Reste utopistischer Denkweise in der sozialistischen Theorie das realistische wie das idealistische Element in der sozialistischen Bewegung gleichmäßig zu stärken« (Bernstein 1921 [1964]: 13). Diese Symbiose aus Realismus und Idealismus ist die Konsequenz aus der jüdischen Mystik des Lebens, wie sie sich auch im Denken und Handeln von Moses Hess und Lassalle zeigte. Ihr ärgster Gegensatz ist die gewaltsame Revolution (und natürlich der Krieg), die Idealismus und Realismus auf dem Altar der Gewalt opfern und damit den Hauptzweck, der in der Idee der Sozialdemokratie beschlossen liegt, verfehlen.

21 Jahre später, 1920, nach den Erfahrungen mit der Revolution in Deutschland und der bolschewistischen Revolution unter Lenins Führung in Russland, sagt Bernstein über die Idee der Sozialdemokratie und ihre Politik: »Sie ist in der Politik wie in der Wirtschaft ... die Schule der organisch schaffenden Revolution.« (ebd.: 273) Die unorganische Revolution geht auf die Reste utopistischer Denkweise zurück. Deren Kritik im Denken von Marx und Engels machen den Kern seiner Schrift aus. In dem bewussten, gezielten, theoretischen Angriff auf diesen Rest lag die Häresie Bernsteins. Indem er diesen Rest aus der »Idee der Sozialdemokratie« herausschneidet, provoziert er den Streit um »Endziel und Bewegung«, dem er im Schlusskapitel den Boden entzieht. Gibt es das Endziel der als »Fabrik organisierten Gesellschaft, der gesellschaftlichen Robinsonwirtschaft«, dann ist die Idee der Sozialdemokratie nicht vor dem revolutionären Handeln gefeit. Bernstein legt daher gerade auf diese sich als richtig bestätigten Einsichten in seinem Vorwort von 1920 besonderen Wert. Er sieht Marx und Engels in einer utopistischen Tradition stehen, die »ganz einfach die Theorie von der unermesslichen schöpferischen Kraft der revolutionären politischen und ihrer Äußerung, der revolutionären Expropriation« (ebd.: 62), der gewaltsamen Enteignung und Verstaatlichung der Produktionsmittel, ist, einer Tradition, die die »Bedürfnisse des modernen Wirtschaftslebens … vollständig ignoriert« (ebd.: 63).101 Bernstein erkennt darin bei Marx und Engels nicht das »Produkt einer Augenblicksstimmung«, sondern das »Produkt eines intellektuellen Fehlers, eines Dualismus in ihrer Theorie« (ebd.: 64). [...]

Realismus und Idealismus sollten im politischen Urteilen und Handeln eine Symbiose eingehen. In der Zurückweisung der Kritik von Karl Kautsky und Rosa Luxemburg kommt Bernstein zurück auf das der angestrebten Symbiose zugrundeliegende Motiv der Versöhnung von Idealismus und Realismus, was für den Sieg des »Sozialismus« bedeutet, dass Bernstein für ihn eine »rein materialistische Begründung ... weder für möglich, noch für nötig« (ebd.: 246) hält. Die Symbiose von Realismus und Idealismus, die die Mystik des Lebens grundlegt, findet politisch für Bernstein ihre Wirklichkeit und Verwirklichung in der »verfassungsmäßigen Gesetzgebung ..., die da die größeren Vorzüge bietet, wo es sich um die Schaffung dauernd lebensfähiger ökonomischer Einrichtungen handelt, mit anderen Worten für die positive sozialpolitische Arbeit« (ebd.: 251). Bernstein lakonisch: »Und das Endziel? Nun, das bleibt eben das Endziel.« (ebd.: 236) Wichtig sei lediglich, dass die Ziele der Sozialdemokratie »erfüllt sind von einem bestimmten Prinzip, das eine höhere Stufe der Wirtschaft und des ganzen gesellschaftlichen Lebens ausdrückt, dass sie durchdrungen sind von einer sozialen Auffassung, die in der Entwicklung der Kultur einen Fortschritt, eine höhere Moral und Rechtsauffassung bezeichnet« (ebd.: 256). Der Beitrag Bernsteins zur Idee der Sozialdemokratie besteht also

1.    in der Zurückweisung des Geltungsanspruchs der utopistischen Doktrin im Werk von Marx und Engels,

2.    im Festhalten am Liberalismus der Französischen Revolution, der »tatsächlich ein sehr viel weiter reichendes allgemeines Gesellschaftsprinzip ausdrückt, dessen Vollendung der Sozialismus sein wird«. Dieses weiterreichende allgemeine Gesellschaftsprinzip beschreibt Bernstein so: »Das Individuum soll frei sein …, frei von jedem ökonomischen Zwange in seiner Bewegung und Berufswahl. Solche Freiheit ist für alle nur möglich durch das Mittel der Organisation. In diesem Sinne könnte man den Sozialismus auch organisatorischen Liberalismus nennen.« (ebd.: 187f.)

3. Im Begriff von Liberalismus/Sozialismus erscheint auch die sozialdemokratische Grundidee wieder auf, die Moses Hess formuliert hat: »Jeder tut, was er nicht lassen kann, und unterlässt, was er nicht tun kann.« (Hess o.J.: 188)

[...]

In einer ausführlichen Würdigung in der Ausgabe vom 20. Dezember 1932 konstatiert Oskar Stark:

»Eduard Bernstein, der am Sonntag, wenige Wochen vor Vollendung des 83. Geburtstages gestorben ist, war einer der letzten aus der alten Schule der Sozialdemokratie, aus der Reihe der Männer, die noch unmittelbare Berührung mit Marx und Engels gehabt hatten und als erste Apostel in der deutschen Arbeiterbewegung wirkten. Wer den Mann mit dem Kopfe eines gütigen Rabbi in den letzten Jahren seiner parlamentarischen Tätigkeit sah, konnte kaum glauben, dass dieser Patriarch, der aus einer anderen Zeit in die Gegenwart hineinragte, ein sehr aktiver Kämpfer gewesen war, der um seines politischen Bekenntnisses willen Verfolgung und Ausweisung auf sich genommen hatte. Aber hinter dem Kämpfer …, stand immer ein Philosoph mit einem offenen Kopf, der über die Schranken der Tagespolitik und des eigenen Schicksals hinaus die ganze Aufgabe überblickte, die ihm gestellt war. Aus dieser Anlage zur universalen Betrachtungen der Dinge stammte wohl der innere Ruf Bernsteins zur Führung der revisionistischen Bewegung, als deren klassischer Vertreter er in die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie eingegangen ist. … Er verkörperte in seiner Person eine klassische Periode in der Geschichte seiner Partei und der deutschen Geschichte überhaupt, die Periode, in der der erste Versuch gemacht wurde, die Arbeiterklasse an den Staat heranzubringen mit den Mitteln der Demokratie. Ein Demokrat von Ueberzeugung blieb Bernstein bis zu seinem Ende.« (Berliner Tageblatt, v. 19.12.1932)

[...]

 

Literatur:

Leo Baeck, Werke, Bd. 1, hg. von Albert Friedländer und Berthold Klappert, Nachdruck der 4. Auflage von 1925, Gütersloh 1998.

Leo Baeck, Werke, Bd. 3, hg. von Werner Licharz, Gütersloh 1997.

Berliner Tageblatt, Abend-Ausgabe, Montag 19.12.1932, Landesarchiv Berlin.

Eduard Bernstein, Von den Aufgaben der Juden im Weltkriege, Berlin 1917.

Eduard Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Stuttgart 1921, Nachdruck: Hannover 1964.

Hans Peter Bleuel, Ferdinand Lassalle oder der Kampf wider die verdammte Bedürfnislosigkeit, München 1979.

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Friedrich Engels, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, Berlin 1966.

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Hans Erler, »Philosophischer Antijudaismus. Hegel«, in: Hans Erler/Ansgar Koschel (Hg.), Der Dialog zwischen Juden und Christen. Versuche des Gesprächs nach Auschwitz, Frankfurt/New York 1999.

Walter Eucken, Grundlagen der Nationalökonomie, Jena 1944.

Hans Freyer, Die politische Insel. Eine Geschichte der Utopien von Plato bis zur Gegenwart, Leipzig 1936.

Adolf von Harnack, Das Wesen des Christentums, hg. und kommentiert von Trutz Rendtorff, Gütersloh 1999.

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Moses Hess, »Sozialismus und Kommunismus«, in: ders., Ausgewählte Schriften, Wiesbaden o. J.

Moses Hess, »Kommunistisches Bekenntnis in Fragen und Antworten«, in: ders., Ausgewählte Schriften, Wiesbaden o. J.

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Shlomo Na’aman, Emanzipation und Messianismus. Leben und Werk des Moses Hess, Frankfurt/M. 1982.

Edmund Silberner, Moses Hess. Geschichte seines Lebens, Leiden 1966.

Robert S. Wistrich, »Eduard Bernstein und das Judentum«, in: Horst Heimann, Thomas Meyer (Hg.), Bernstein und der demokratische Sozialismus, Berlin 1978.

 

Mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag geringfügig gekürzter Beitrag aus dem Band: Hans Erler, Zur Aktualität des Judentums - Vorträge 1997 bis 2010, Würzburg 2011.

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