Ulrich Siebgeber - ©LG
Ulrich Siebgeber
Vergessen hilft. Aber nicht wirklich.
 

 

Siebgebers Kolumne entstand in den späten Jahren der Merkel-Herrschaft, die geprägt wurden durch ein Klima des politischen Konformismus und der Zuspitzung gesellschaftlicher Differenzen nach dem Motto Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich und muss aus der öffentlichen Debatte entfernt, zumindest unsanft an den Rand gedrängt werden. Gleichzeitig wurden politische Entscheidungen getroffen, deren Brisanz für jeden Einsichtigen offenlag und deren verheerende Auswirkungen das Land gegenwärtig nach und nach zu spüren beginnt.
Siebgebers Aufzeichnungen enden am 8. Mai 2020. Zusammengefasst und nach Themen geordnet lassen sie sich nachlesen in dem Buch Macht ohne Souverän. Die Demontage des Bürgers im Gesinnungsstaat, das 2019 erschien und nebenher das Pseudonym, besser, die literarische Maske des Autors aufdeckte. Im Land der Masken wirkt dergleichen Mummenschanz ohnehin wie aus der Zeit gefallen. Was nicht gegen ihn sprechen sollte.
Ulrich Schödlbauer

Sagen wir, ein Land hat, neben Kriminalitätsrate, Obdachlosenrate, Alkoholismus, Verkehrstoten, Drogenabhängigkeit, Altersarmut, Kinderarmut, Fettsucht und so fort, ein Bevölkerungsproblem, das heißt, es werden dort soundsoviel Prozent weniger Kinder geboren, als nötig wären, um die Einwohnerzahl zu erhalten. Was fürs erste wenig besagt, da die Zahl der, sagen wir, während eines Jahres in einem Landstrich geborenen Kinder eine komplexe, aus Lust und Laune, Bedürfnis und Vermögen, Gelegenheit und Zufall sowie einer weiteren, nur schwer zu ermittelnden Zahl mehr oder minder unbekannter Faktoren gebildete, naturgemäß schwankende Größe darstellt, auf die sogleich eine Reihe exogener Größen wie Zahl der Fehlgeburten, Kindersterblichkeit, Kinderhandel einstürzt, bevor das Zahlenmaterial sich für eine relativ kurze Zeitspanne einigermaßen stabilisiert. Unter den mehr oder minder unbekannten Faktoren, die bereits vor der Empfängnis wirksam werden, sei der Faktor ›Bewusstsein‹ besonders erwähnt, weil er, jedenfalls bei einer funktionierenden Praxis der Empfängnisverhütung und Empfängnisfolgenkorrektur, das Zünglein an der Waage zu bilden scheint.

Warum unbekannt, werden sich viele wundern, im Gegensatz zu anderen, schwerer zu erforschenden Gegebenheiten lässt sich Bewusstsein befragen. Leider erweist sich gerade das in der Praxis als trügerisch. Als die Camouflage liebendes Wesen neigt der Mensch dazu, seine wirklichen Beweggründe zu verschleiern und aufdringliche Frager mit Märchen abzuspeisen. Das wissen die Fragebogen-Ersteller und bemühen sich nach Kräften, das heißt mit ausgeklügelten Methoden, den ihnen aufgetischten Wust aus Lügen und Halbwahrheiten zu ›strukturieren‹, um zu den bekannten halbwegs brauchbaren Aussagen zu gelangen. Theorie! So wie das Leben jede Aussage überlistet, so überlistet das Bewusstsein der Befrager, vor allem der Mangel daran, ihre Befragungs- und Auswertungstechniken, so dass am Ende die Willkür siegt. Wessen Willkür? So gewiss Wissenschaft Wissen bedeutet, so gewiss bedeutet sie Macht. Macht will wissen, daher erlaubt sie denen, die wissen oder zu wissen scheinen, den Zugang zu sich. Kein Wunder also, dass ein Heer von Lampenputzern tagaus tagein damit befasst ist, dem Wissensanschein mit dubiosen Polituren aufzuhelfen, und sei es nur, um in den Genuss von Fördermitteln zu gelangen und damit im eigenen beschränkten Wirkungsfeld ein wenig Macht zu kosten.

Die beliebteste Weise, dem Wissen – oder, je nach Blickwinkel, Nichtwissen – auf die Sprünge zu helfen, ist die direkte, einfache, additive, geradlinige oder inverse Korrelation. In einem Land, das seinen Reichtum – nebst zugehörigem Gefälle –, die Höhe seiner Privat- und Staatsschulden, die Zahl seiner Homosexuellen, Bisexuellen, Genderbeflissenen, Fernreisenden, Häuslebauer, Kinderschänder, Selbständigen, Legastheniker, Spitzenverdiener, Hartz-IV-Empfänger, seiner arbeitenden, studierenden, verheirateten, geschiedenen, akademischen, alleinerziehenden Frauen und Männer in umfangreichen und unendlich kommentierten Statistiken vor den Augen der Welt ausbreitet, nimmt es nicht wunder, all diese Zahlen, absolut oder prozentual, mit oder ohne Fragezeichen, zur Erklärung des Unerklärlichen herangezogen zu sehen, dessen Erklärung doch so nahe zu liegen scheint, dass jeder Stammtisch die seine mit Leichtigkeit parat hat.

Zusammengefasst lässt sich feststellen: Schuld daran, dass zu wenig Kinder geboren werden, ist die Gesellschaft – kein Wunder, denn sie ist immer an ihren Zuständen schuld. Die historische Forschung trägt, nicht ungern, zur Verfeinerung des Ergebnisses bei, indem sie Jahreszahlen bereitstellt. Für die einen steht die Welt, pardon, die Gesellschaft, nach ’68 kopf – eine Lage, die das Kinderkriegen einigermaßen erschwert –, für die anderen schafft die dankenswerterweise und ungefähr zur gleichen Zeit stattfindende Entkoppelung von Sexualität und Fortpflanzung durch die Pille den notwendigen Experimentierrahmen für das, was als Kinderarmut auf den Seziertischen der Gesellschaftsanalytiker liegt: Wer Kinder hat, hat nicht nachgedacht. Die Moderneforschung schließlich fasst das alles glücklich zusammen: Moderne und Kindermangel sind eins.

Soviel zum Stand der Dinge. Wozu all die Kinder, geborene und ungeborene, gebraucht werden, steht auf einem anderen Blatt. Arbeiterheere zum Beispiel ... wer braucht heute noch Arbeiterheere? Arbeitslosigkeit, gekoppelt mit Arbeitskräftemangel, verschiebt die Investition in den Nachwuchs von der Zahl der Kinder auf die Zahl ihrer Ausbildungsjahre. Was hier genommen wird, fehlt notwendig dort, es sei denn, man schraubt die Ansprüche an das werte Selbst und sein Fortkommen so weit herunter, dass Kinder Einkommen generieren, weil der Staat dafür aufkommt. Ungerecht bleibt die Verteilung, bei der Zahl der Abseitsstehenden, ohnehin. Was als fehlende Wehrgerechtigkeit in die Geschichte des Landes einging, bleibt ihm als fehlende Reproduktionsgerechtigkeit bis in die Renten hinein erhalten. Warum also Kinder? Kein Mensch weiß, wieviel Nachwuchs ein Land wirklich braucht. Am wenigsten seine Wirtschaft, denn, bei allem Vertrauen in ihre ›Kraft‹: Es gibt sie gar nicht.

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